Europas Fluchtbewegungen

Dass Europas Geschichte durch Flucht und Vertreibung geschrieben wurde, beweist der Historiker Philipp Ther in seiner fundierten und spannenden Publikation und im Gespräch mit Marta S. Halpert.

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© Jan-Peter Boening

Wina: Ihr jüngst erschienenes Buch Die Außenseiter trägt den Untertitel „Flucht, Flüchtlinge und Integration im modernen Europa“. Wen definieren Sie heute konkret als „Außenseiter“?

Philipp Ther: Außenseiter werden meist politisch und durch die Mehrheitsgesellschaft definiert: Es gibt die Urangst vor dem Fremden, insbesondere in den nationalstaatlichen Gesellschaften. Wer neu dazukommt, ist zunächst einmal Außenseiter, das gilt natürlich besonders für Flüchtlinge. Im meinem Buch geht es aber auch um Integration und um die Frage, wann werden Flüchtlinge zu Mitbürgern und letztendlich zu Insidern.

Sie bezeichnen Europa als einen „Kontinent der Flüchtlinge“ und datieren den Beginn dieser Entwicklung in der Moderne mit der Vertreibung der sefardischen Juden 1492 von der Iberischen Halbinsel. Gerade für das jüdische Volk ist ja Flucht etwas Systemimmanentes; warum sind Begriffe wie Flucht und Flüchtling zu solchen Reizwörtern geworden? Sind wir zu satt, zu reich in Europa?

Wir leben in einer sehr ungleichen Welt und einer auf Ungleichheit basierenden Wirtschaftsordnung. Das konnte man lange von sich fernhalten. Seit der Massenflucht 2015, die aus historischer Perspektive gar nicht so massenhaft war, kam das Elend nicht nur vor die Haustür, es stand plötzlich im Haus. Das hat dieser Urangst vor Fremden noch eine andere Wendung gegeben. Ich glaube, dass die Abwehrreaktion deshalb so stark ist, weil diese Fluchtbewegung letztlich bei den Menschen Ängste ausgelöst hat, inwieweit der eigene Wohlstand noch haltbar ist und ob man ihn teilen muss. Diese Befürchtungen wurden aber auch gezielt politisch geschürt. Da ging Ungarn voran, aber mittlerweile wird das ebenso in Österreich und anderen Ländern betrieben.

Sie berichten z. B. über den Hungertod von 70.000 Menschen in griechischen Flüchtlingslagern nach dem Ersten Weltkrieg, als in Europa rund sieben Millionen Menschen und nach dem Zweiten Weltkrieg sogar etwa dreißig Millionen entwurzelt waren. Warum ist die heutige Flüchtlingsdebatte so vergangenheitslos?

Diese Debatte ist ja nicht nur vergangenheitslos und geschichtslos, sondern vor allem sehr faktenarm. Beides gehört hier zusammen. Wenn man die Geschichte genauer kennt, könnte man den Begriff Flüchtlingskrise überhaupt hinterfragen, weil es in der europäischen und insbesondere jüdischen Geschichte viel umfangreichere Fluchtbewegungen gegeben hat.

Was ist an dem Begriff Flüchtlingskrise nicht korrekt?

Die Flüchtlingskrise gibt es vor allem in Syrien, wo sich sechs Millionen Menschen im Land auf der Flucht befinden, und in den Nachbarländern Syriens. Die Zahl von einer Million Flüchtlinge, die in Europa angekommen ist, ist im Vergleich dazu klein und aus historischer Sicht nicht außergewöhnlich. Früher gab es viel größere Fluchtbewegungen. Krisenhaft ist demnach der Umgang mit diesem Problem, nicht das Problem selbst. Sowohl im Verhältnis zur Weltbevölkerung als auch jener Europas und des Nahen Ostens waren nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg weit mehr Menschen unterwegs. Und obwohl die Voraussetzungen bei der Aufnahme damals viel schlechter waren, weil mehr Not und Elend herrschte, ist man mit der Situation recht gut fertig geworden. Auch später im Kalten Krieg und in der Jugoslawienkrise war das so, also könnte man jetzt durchaus optimistisch sein, dass die Integration voranschreitet. Das gilt natürlich nicht für die Herkunftsländer wie Syrien oder den Irak.

Historisch und geografisch gesehen unterteilen Sie die Gründe für Flucht in drei Kategorien: 1. verursacht wegen der Religion; 2. aufgrund des ethnischen Nationalismus; 3. die politisch motivierte Flucht. Das vierte große Kapitel beschäftigt sich mit der Integration. Diese könne nur funktionieren, schreiben Sie, wenn eine politische und gesellschaftliche Zielrichtung vorliegt und die Frage „Integration wohin?“ beantwortet wird.

Grundsätzlich braucht eine Gesellschaft nicht nur eine gewisse Offenheit zur Aufnahme, sondern auch eine konkrete gesellschaftspolitische Vorstellung von sich selbst, um anderen Menschen dieses Ziel vorgeben zu können. Es fehlt dieses „Wohin?“, wenn man die ethischen Grundsätze einer säkularen, demokratischen und sozialen Gesellschaft nicht klar genug definiert.

Sie haben das Konzept einer erweiterten europäischen Geschichte entworfen, in der Israel trotz seiner geografischen Lage nicht von vornherein ausgeschlossen ist. Europa benennen Sie auch als Verursacher von Flucht. Denken Sie dabei nur an die Schoah?

Israel ist der Flüchtlingsstaat par excellence. Zwar stand der Zionismus im Vordergrund, aber wer vor der Staatsgründung in das Mandatsgebiet kam, tat dies nicht nur aus Überzeugung, sondern fand einen Zufluchtsort vor Pogromen, Antisemitismus und Diskriminierung. Israel kann man außerdem teilweise mit anderen europäischen Ansiedlungskolonien vergleichen, z. B. dem nördlichen Algerien, wo sich mehrere hunderttausend Franzosen und andere Europäer ansiedelten und drei Departements als Teil Frankreichs verstanden wurden. Der Vergleich hinkt natürlich, weil es in Europa keinen jüdischen Nationalstaat gab, aber es gibt einen Zusammenhang mit der britischen Kolonialherrschaft: Israel war geprägt durch die europäische Nationalstaatsidee, denn die Einwanderer wussten, dass sie nicht nur die Religion, sondern auch das Europäische im Herzen und im Geiste zusammenhält. Das beschreibt Amos Oz in seiner Familiengeschichte sehr anschaulich.

»Die Angst vor Flüchtlingen wird faktenarm
und vergangenheitslos geschürt.«

Die jüdischen Flüchtlinge aus den arabischen Ländern sahen das anders?

Ja, vor allem für die orientalischen Juden war es schwierig, die 1948 und 1956 fast alle arabischen Länder verlassen mussten. Weil Israel das Ziel der Integration mit hebräischen Sprachkursen, Ansiedlungsprogrammen und vielem mehr konsequent verfolgt hat, gelang diese auch. So wurde beispielhaft vorexerziert, wie man mit Flüchtlingen umgehen kann. Trotz aller Differenzen zwischen aschkenasischen, sefardischen und orientalischen Juden hat sich eine demokratische Gesellschaft gebildet.

Infolge der Staatsgründung 1948 beleuchten Sie auch die Situation der palästinensischen Flüchtlinge. Diese seien – mit Ausnahme Jordaniens – nie in den Aufnahmeländern und ihren Gesellschaften angekommen. Sie beschäftigen sich auch mit der bewussten Integrationsverweigerung der Palästinenser?

Das größte Unglück der Palästinenser nach der Flucht und Vertreibung war, dass die Nachbarstaaten sie nicht integrieren wollten, außer, wie gesagt, Jordanien. Dafür gab es verschiedene Gründe: Die Libanesen hatten Angst, dass das konfessionelle Gleichgewicht kippen könnte; Syrien und Ägypten haben die Palästinenser als Reservearmee angesehen, und Kuwait hat sie nach dem Ersten Golfkrieg sogar ausgewiesen. Durch diese lang anhaltende Verweigerung der Integration ist das Palästinenserproblem erst zu dem geworden, was es heute ist.

Gab es einen Zeitpunkt, zu dem Integration gelingen hätte können?

Ja, 1948/49 hätte man es gleich angehen müssen. Mit internationaler Unterstützung wäre das auch zu schaffen gewesen. Die UNWRA sollte nicht nur Nothilfe für die palästinensischen Flüchtlinge leisten, sondern die Integration vorantreiben. Es gab das Ziel, die Flüchtlingsfürsorge mit Entwicklungsprojekten zu verknüpfen. Dass diese Bemühungen gescheitert sind, hat zwei Ursachen: Erstens hat die UNWRA die Vererbbarkeit des Flüchtlingsstatus festgelegt; damit hat sich die UNO zu sehr der Linie der arabischen Staaten angenähert. Dadurch und durch den Bevölkerungszuwachs stieg die Zahl der ursprünglich 750.000 Flüchtlinge inzwischen auf fünf Millionen. Zweitens entstand durch den Mythos der „Rückkehr“ eine Blockade, die viele Debatten zum Schaden der Palästinenser verhindert.


Philipp Ther,
1967 geboren, ist seit 2010 Professor am Institut für osteuropäische Geschichte der Universität Wien. Zuvor war er u. a. John F. Kennedy Fellow an der Harvard University und Professor am European University Institute in Florenz. Zahlreiche Publikationen zu Ostmitteleuropa. 2014 wurde sein Buch Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europa mit dem Sachbuchpreis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet und in sieben Sprachen übersetzt.

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