Europas Verantwortung

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Während die europäische Staatengemeinschaft versagt, erkennt die Zivilgesellschaft, dass sie helfen kann, wenn sie nur will – ein sehr persönlicher Bericht. Von Arye Wachsmuth

Du hast organisiert, Aktionen beworben, diskutiert und gespendet. Du warst gerade auf Urlaub, nicht unweit von dort, wo Menschen versuchen, sich über das Meer nach Europa zu retten, während andere Golf spielen. Du bist erholt, aber nicht zufrieden, eigentlich sehr unzufrieden. Schon seit Jahren ist klar, dein Land und Europa sind mitverantwortlich dafür, dass Menschen sterben. Tausende Kinder, Frauen und Männer sind Opfer von Krieg und globalen Fehlentscheidungen. Millionen werden verfolgt oder leben unter elendesten Bedingungen. Die Realität schreit uns ins Gesicht.

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Es sind vor allem Kinder. Über die Hälfte der Menschen auf der Flucht sind unter 17 Jahre alt.
Es sind vor allem Kinder.
Über die Hälfte der Menschen auf der Flucht sind unter 17 Jahre alt.

Du denkst, du bist am Ende – dabei bist du erst am Anfang, und du bist nicht allein. Die gewählten Politiker versagen auf ganzer Linie, die Lage verlangt zivilen Ungehorsam. Soziale Netzwerke machen wieder Sinn: Die Zivilgesellschaft ist schneller handlungsfähig als so manche Organisation.

Es ist so weit: Du und viele andere helfen, jetzt und direkt. Du denkst und fühlst: Verdammt nochmal, wir sind die Mehrheit. Jeder macht was er kann, und du kannst – und wie du kannst!

Freitag, 15.30 Uhr. Du nimmst die erste sinnvolle Nachricht auf Facebook zum Anstoß. Kinder sollen von einem Kloster in Ungarn an die Grenze gebracht werden. Treffpunkt ist eine Anschrift im achten Bezirk. 40 Minuten später triffst du Sanela und ihren Partner. Ihr seid nun zu dritt, dazu kommen mindestens 200 Liter Wasser, Lebensmittel und Kleidung. Das große Auto ist übervoll, und das ist gut so.

18.30 Uhr. Die Grenze bei Nickelsdorf und das Kloster sind geschlossen. Ein Umweg führt in Richtung Hegyeshalom. Es wird dunkel, ein kleiner Konvoi steht am Straßenrand, ihr stoppt. Drei Flüchtlingskinder sind im Fond eines anderen Pkws. Kurze Blickkontakte und wenige Worte reichen. Alle Beteiligten wissen: Wir halten zusammen.

SAM_4339Ihr versorgt die Menschen und wollt weiter. Ein Fahrzeug hält auf der anderen Straßenseite, drei Männer kommen euch entgegen, sie tragen Ausweise am Hemd – ungarische Polizei in Zivil. Alles ok, fragen sie auf Deutsch. Du antwortest, ja danke, alles ok, wir fahren gleich weiter. Du stehst so, dass man nicht genau sieht, was hinter dir passiert. Der Beamte schiebt seine Kollegen vermutlich wohlwollend zur Seite.

Die Fahrt geht entlang der Bundesstraße weiter. Am Wegrand gehen Menschen unter Schutz der Bäume und Dunkelheit. Ihr haltet immer wieder an, bietet Wasser, Nahrung und Bekleidung an. Die Außentemperatur beträgt 15 Grad. Die meisten Flüchtlinge sind nur leicht bekleidet und frieren.

19.30 Uhr. Die Grenze ist in Sicht, der Menschenstrom wird dichter. Es ist ein fast surreales Bild. Die Stimmung ist gedämpft. Am alten Zollgelände sitzen, stehen oder liegen Tausende im fahlen Licht, teils verhüllt in Decken – wartend im Vertrauen, in Sicherheit gebracht zu werden. Die „Geister“, die Europa rief?

20151001_PD7217Das Auto steht abseits, und ihr holt immer wieder Sachen, die ihr verteilt. Es dauert fast die ganze Nacht. Wenige fragen nach einem Arzt. Ihr seht schnell, warum viele Flüchtlinge nicht selbst zu den Versorgungsstellen gehen. Es werden Busse erwartet. Zu groß ist die Angst, sie zu versäumen, von den Angehörigen getrennt zu werden.

Es kommen nur wenige Busse, sie lassen außerhalb des Geländes Leute einsteigen. Das funktioniert halbwegs, weil die Polizei die Menschen nur in kleineren Gruppen zu den Bussen lässt.

Währenddessen kannst du mit vielen auf Englisch reden. Das eine oder andere Wort Arabisch hilft dir, ins Gespräch zu kommen. Du triffst Syrer, Iraker, Afghanen und Kurden. Familien mit Babys und Kindern werden als erste versorgt. Du erfährst von den Strapazen der Menschen auf ihrem Weg zu uns, von ihrem Leben als Lehrer oder Ingenieure. Sie sprechen von den Gewalttaten in ihren Ländern. Du hörst von den Erlebnissen in Ungarn und Mazedonien, von der Erniedrigung durch Behörden, von Schlägen, von der unzureichenden Versorgung, dass sie angespuckt wurden. Nur wenige halfen. Viele Flüchtlinge sind voller Hoffnung und freuen sich über ihr Vorankommen. Andere sind in kläglichem Zustand, verzweifelt und apathisch. Die nächsten Wochen zeigen, dass die Menschenrechte wenige Kilometer von uns entfernt grob verletzt werden.

23.30 Uhr. Es sind nur mehr wenige Helfer vor Ort. Einige Familien werden vom Roten Kreuz weggebracht. Die Situation kippt. Die Polizeibusse fahren auf das Gelände und werden gestürmt. Sanela begreift sofort, jetzt wird es gefährlich. Sie nimmt sich einer sechsköpfigen Familie an. Eine junge Mutter mit ihrem Neugeborenen – ihr Gesicht eine eingefrorene Maske, die Augen starr. Ihr helft der kleinen Gruppe, in der Menge zusammenzubleiben, Gepäck und Familie im Arm. Eine Polizistin will euch mit dem Baby helfen, schafft es aber nicht. Beamte schieben die Menge zurück, manche sehen angewidert weg. Ihr steckt fest, als die Menge beginnt, sich heftig zu bewegen.

Keleti14Ihr verliert den direkten Kontakt und den Überblick über die Familie. Die Frau bei dir findet Durchlass, aber ihr Gepäck hast du. Du willst zu ihr, aber ein Polizist stößt dich zurück. Du sprichst ihn auf Deutsch an, perplex lässt er dich durch. Du stehst bei dem fahrbereiten Bus und siehst die Mutter, das Baby, ihren Mann und die zweite Frau im Bus. Du deutest dem aufgeregten Mann, das Gepäck zu holen, er kommt und sagt, dass sein Kind fehlt. Du springst über die Betonabsperrung vorbei an den Beamten. Inmitten der Menge findest du das weinende Kind, schnappst es und hebst es über die Mauer. Vater, Kind und Gepäck sind im Bus. Du denkst, jetzt ist alles gut. Der Mann gestikuliert auf einmal wie wild und deutet auf die andere Busseite. Du begreifst nicht, eilst aber über die Absperrung. Der Onkel steht wie angewurzelt da und begreift nicht, was gerade passiert. Du hebst ihn aus der Menge, schiebst ihn gerade noch in den Bus. Die Türe schließt, der Wagen fährt. Die zweite Frau sieht zu euch, schickt euch Küsse. Bewusst, wie knapp es war, wirst du diesen Moment noch lange vor Augen haben. Du nimmst an, du hättest all dies ohnehin getan, und du erinnerst dich an die Erzählungen deines Vaters über dessen Verfolgung und Flucht.

Sanela lernt Anas kennen, einen jungen Syrer aus Wien, der seinen minderjährigen Bruder und seinen Cousin in Budapest ausfindig machen konnte und hier zur Grenze begleitete. Wir nehmen alle mit nach Wien.

Röszke eine Woche später: Du organisiert eine Fahrt an die ungarisch-serbische Grenze. Viele organisieren mit. Vier Autos im Konvoi. Karin, eine Ärztin, fährt mit. Mehrere Apotheken spenden Medikamente. Dank Geldspenden kann Sanela für hundert Personen kochen. Viele Stunden verteilt ihr Essen und Kleidung im Flüchtlingscamp und an der Grenze.

Keleti27Ihr stimmt euch mit gut organisierten Teams am Checkpoint ab. Ihr unterstützt Helfer und Ärzte. Anas, der mit uns gefahren ist, übersetzt in schwierigen Situationen ins Arabische. Noch in der Nacht geht es zu viert nach Nickelsdorf, Karin schließt sich dem Roten Kreuz an, kann 100 Leute behandeln.

In den letzten Wochen hast du mehr als zehntausend Menschen auf der Flucht gesehen. Mütter sind tagelang mit an Durchfall erkrankten nackten Babys unterwegs, die gerade mal eine Windel tragen. Junge Männer, die von ihren Familien mit den letzten Ressourcen weggeschickt wurden, halten die Strapazen noch besser aus, über die Hälfte ist jedoch zwischen 0 und 17 Jahre alt. Es sind viele Mädchen im Alter von zwei bis elf dabei. Es ist ein Krieg gegen Kinder. Eine Freundin fragt, was von all dem wird in die Geschichte eingehen?

Bundeskanzlerin Merkel war gut beraten, als sie die Grenze öffnete. Die signalisierte Einheit greift so jedoch zu kurz. Denn läge die große Chance für unsere Identitätsbildung als Europäer nicht genau in einer durchgängigen Solidarität im Kampf gegen die Erbärmlichkeit? No Borders, no nations macht in diesem Kontext durchaus Sinn!

Dein Freundeskreis zählt viele private Initiativen. Hans Breuer, der am Weg mit syrischen Flüchtlingen ein jiddisches Lied singt, ist ein besonders schönes Symbol. ◗

KONVOI WIEN BUDAPEST Vámosszabadi/Schienenersatzverkehr für Flüchtlinge 06 09 15

Bilder:   © Daniel Kaldori     © Ariye Wachsmuth     © PIXSELL / EXPA / picturedesk.com

2 KOMMENTARE

  1. danke für diesen sehr berührenden Text, hoffentlich bewegt er noch mehr Leute, sich der notwendigen Hilfe anzuschließen.
    Jetzt ist dann auch zeit für die Fortsetzungsgeschichte…..

  2. Wenn die Zivilgesellschaft so agieren würde, wie es die Regierungen in Europa tun, wären viele unserer neuen Gäste gar nicht bis zu uns (und weiter) gekommen. Schön zu sehen, was möglich ist, wenn die menschliche Seite einer Gesellschaft wieder an die Oberfläche kommt. Beschämend zu sehen, wie überbürokratisiert die Regierungen sind, deren Aktionen bzw. Reaktionen auf das Geschehen nur marginal sind.
    Ein „Dankeschön“ an all die, welche an diesen Ersatz-Kriegsschauplätzen mutig sind und Hilfe bringen!

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