Fahren auf Sicht

Der Corona-Shutdown hat die Jugend- und Kulturarbeit besonders getroffen. Das war auch in der IKG so, wie Benjamin Gilkarov im Interview mit WINA schildert.

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© Daniel Shaked

WINA: Sie leiten seit 2007 die Abteilung Jugend und Kultur der IKG. Beide Bereiche mussten wegen der Coronakrise völlig umorganisiert werden. Ab wann hat sich das Virus in Ihrer Arbeit – Stichwort Absagen – bemerkbar gemacht?
Benjamin Gilkarov: Wir haben bereits Ende Februar damit begonnen, verschiedene Szenarien durchzuspielen, was wir machen, wenn Veranstaltungen oder Projekte nicht mehr durchführbar sein werden. Anfang März kam dann schon die Verordnung, dass nur mehr Veranstaltungen mit 100 Personen erlaubt sind. Damit begann die frustrierendste Zeit. Wir haben Konzepte ausgearbeitet, beispielweise für das Dialogprojekt Likrat, das jüdische Jugendliche ausbildet, um mit nichtjüdischen Schülern und Schülerinnen in einen Dialog zu treten. Wir haben uns überlegt, wie diese Begegnungen anders als bisher ablaufen könnten, um alle Involvierten zu schützen, haben grafisches Material entwickelt. Aber all das ist nie zum Einsatz gekommen, weil es Mitte März zum Shutdown kam.
Abgesagt haben wir wenig – etwa den March of the Living, das meiste wurde verschoben, vieles fand und findet weiterhin online statt. Als Glücksfall hat sich herausgestellt, dass wir das Festival der jüdischen Kultur, das es seit Jahrzehnten gibt, heuer, auch um die Konkurrenz mit anderen kulturellen Veranstaltungen zu meiden, in den Februar vorverschoben haben, weil wir den Eindruck hatten, die Menschen besuchen Veranstaltungen eher, wenn es draußen noch kühl ist. So war das heuer sehr gut besuchte Festival zum Thema jüdischer Humor vorbei, bevor der ganze Balagan losgegangen ist.

Was war in der Coronakrise die größte Challenge?
Das Verschieben von Veranstaltungen ist ein großer Aufwand, und derzeit fährt man auf Sicht: Alles ist ungewiss, man plant und verschiebt, plant und verschiebt. Dieses Arbeiten sind wir nicht gewohnt. Normalerweise stehen Veranstaltungen ein halbes Jahr im Voraus. Nun hängen wir in der Luft, und das ist zeitraubend. Zeitgleich haben wir begonnen, auf verschiedensten Kanälen Onlineaktivitäten zu entwickeln. Familien mit Kindern brauchten Programm, da haben wir auf Social Media Challenges gestartet und Ideen für Aktivitäten entwickelt, die man mit dem, was man zuhause hat, machen kann. Wir haben eine Online-Juko-Zeitung entwickelt, die es vorher nicht gab, mit Ausmalbildern und Rätseln. Und es gab eine Challah Bake Challenge. Schön war, dass die Menschen einander gegenseitig Mut zugesprochen haben und alle das Gefühl hatten, dass man nicht alleine ist.

»Schön war, dass die Menschen einander gegenseitig Mut zugesprochen haben und alle das Gefühl hatten, dass man nicht alleine ist.«

Was sind in normalen Zeiten die größten Herausforderungen?
Es hat sich über die Jahre sehr viel verändert – und so sind die Herausforderungen heute auch andere als vor 13 Jahren, als ich in diesem Job angefangen habe. Damals war es leichter, Menschen für etwas zu begeistern. Durch den technologischen Fortschritt ist es heute vor allem schwieriger, Kinder und Jugendliche anzusprechen – da muss man schon in die Trickkiste greifen. Auch für Jugendorganisationen wird es immer komplizierter, Madrichim zu finden. Die Kids hängen sehr viel vor dem Bildschirm. Wir versuchen, daraus das Beste zu machen, indem wir auf dieser Welle reiten. Wir sind auf allen Social-Media-Kanälen vertreten und arbeiten hier ständig weiter, indem wir uns auch extern beraten lassen. Ich glaube, das ist der richtige Weg.

Gibt es Veranstaltungen oder Programme, auf die Sie besonders stolz sind?
Da fällt mir als erstes Likrat ein. Dieses Projekt gibt es seit 2015, es ist einzigartig in Österreich, sehr erfolgreich und inzwischen auch ein Aushängeschild für die ganze IKG. Das Projekt hat unglaublich viele Auswirkungen auf so vielen Ebenen. Wir gehen nach außen und versuchen, Vorurteile abzubauen. Es gibt aber auch einen großen Impact nach innen. Bevor die Jugendlichen das Judentum anderen erklären können, müssen sie es sich selbst erklären. Sie müssen sich mit Religion, Tradition und Identität auseinandersetzen. Was ist das Judentum für mich? Ein Lifestyle? Was bedeutet Israel für mich? Und diese Fragen nehmen sie von ihren Schulungen nach Hause mit, da wird dann auch in den Familien über diese Fragen gesprochen.
Worauf ich auch stolz bin: Heute arbeiten die Jugendorganisationen ergänzend. Früher hatte zum Beispiel am Straßenfest die Bnei Akiva ihren Stand an einem Ende, der Shomer am anderen Ende, damit sie einander nicht in die Quere kommen. Heute arbeiten sie zusammen und ergänzen sich. Im Bereich Kultur haben wir es geschafft, ein hochwertiges, breiteres Programm aufzustellen, das auch jünger geworden ist. Im Februar haben wir beispielsweise Stand-up-Comedians aus Israel nach Wien gebracht – da kommt dann auch ein junges Publikum.

Kultur ist nicht Kultur – was der einen gefällt, ist dem anderen zu langweilig oder zu flapsig. Wie leicht oder schwer ist es, ein Programm zu erstellen, das für jeden und jede etwas bietet? Und gibt es auch kulturelle Angebote für die Orthodoxie?
Wir versuchen, unser Angebot möglichst breit zu gestalten. Wenn wir alles streng orthodox machen wollten, müssten wir geschlechtergetrennt veranstalten, das ist beim Gros des Programms nicht möglich. Wir hatten aber vor ein paar Jahren zum Beispiel Avraham Fried, einen ultraorthodoxen Sänger, für ein Konzert in Wien, da war der Großteil des Publikums aus der orthodoxen Community. Da gab es dann auch ein Kontingent von Karten mit getrenntem Seating. Dieser Spagat ist schwierig. Wir hatten auch den Kinder-Entertainer Uncle Moishy aus New York hier. Im ersten Jahr haben wir für seinen Auftritt das Gemeindezentrum reserviert, das sich als viel zu klein herausstellte – es wollten über 400 Personen herein. In den Folgejahren haben wir diese Veranstaltungen in der ZPC-Schule gemacht, und da war das Publikum weitgehend orthodox. Wir versuchen also alles, was uns möglich ist, auf die Beine zu stellen. Aber generell muss man eher Mainstream und für ein breiteres Pub­likum planen. Wir haben dabei ein offenes Ohr für alle Vorschläge, die kommen, und wenn wir von mehreren Seiten hören, holt doch mal diese Sängerin oder jenen Comedian, dann versuchen wir das zu realisieren, und wenn dann auch viele junge Menschen kommen, freut uns das besonders.

Künstlerinnen und Künstler waren von der Coronakrise besonders betroffen und sind es noch. War das auch in der jüdischen Gemeinde zu spüren?
Natürlich. Es ist uns auch nicht leicht gefallen, jenen abzusagen, die zum Beispiel beim Straßenfest aufgetreten wären. Dafür gibt es nun Onlineangebote, und einiges konnte auch mit Abstand ins Freie verlagert werden. Aber für Künstler und Künstlerinnen waren die vergangenen Monate sicher ein Albtraum.

Sollen die Onlineangebote der IKG auch fortgesetzt werden, wenn die Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus gänzlich zurückgenommen sein werden?
Ja, wir werden einiges fortführen. Die Menschen sind viel am Handy, und wenn man sie dort abholen will, wo sie sind, muss man die Onlinepräsenz stärken. Wir gewinnen so Konsumenten dazu, selbst wenn wir Dinge auch wieder auf einer Bühne oder in einem Saal veranstalten. Wir präsentieren nun jeden Donnerstag einen bildenden Künstler online. Roman Grinberg erklärt in einer Reihe jiddische Begriffe mit Witzen. Und es gibt Onlinekonzerte, auch die werden wir weiter anbieten. Hier darf ich anmerken, dass all dies vor allem durch das gesamte Team der Jugend- und Kulturarbeit erst möglich wird und die Mitarbeiterinnen besonders in dieser besonderen Zeit ihre Professionalität unter Beweis gestellt haben.

Kann es unter den nun geltenden Veranstaltungsrichtlinien überhaupt Kunst- und Kulturveranstaltungen der IKG geben, etwa im Gemeindezentrum?
Im Moment arbeiten wir mit dem einen Auge, und mit dem anderen schauen wir auf das, was sich entwickelt und was sich verändert. Mittlerweile gehen wir davon aus, dass unser Programm im Herbst mehr oder weniger normal stattfinden kann. Dazu gehören zum Beispiel ein Konzert mit Roman Grinberg im September und das Kantorenkonzert im November.


Benjamin Gilkarov, geb. 1985 in Wien, Matura an der ZPC-Schule, Studium Business Management in London. Nach einigen Jobs in verschiedensten Unternehmen seit 2007 in der IKG als Referent für Jugend und Kultur beschäftigt. Gilkarov ist verheiratet und Vater von vier Kindern zwischen einem und zwölf Jahren.

Jugend- und Kultur-Agenden in der IKG
Seit 2003 gibt es in der IKG Wien ein Referat für Jugend- und Kulturagenden, seit 2013 eine eigene Abteilung. Zum Team zählen neben Benjamin Gilkarov, der die Abteilung leitet, Karen König und Jenny Mitbreit. Das Trio kooperiert eng mit der Vorsitzenden der Kulturkommission, Claudia Prutscher, sowie der Jugendkommission, Betty Kricheli.
ikg-wien.at/abteilungen
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