Familien und andere Banden

Maxim Billers ausgesuchte Familiengeschichten: komödiantisch, melancholisch, traurig, von Traumata gezeichnet, aber allesamt so lesbar wie lesenswert.

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Notizen zur Geschichte des Fühlens nannte der Wiener Philosoph Günter Anders vor fast 35 Jahren ein Buch. Dessen Haupttitel: Lieben gestern. Der neueste Band Maxim Billers ließe sich ebenso titulieren. Er vereint darin 13 seiner besten Kurzerzählungen zu einer Geschichte des Fühlens, die hart am Puls der Zeit ist. Einst fühlte er der Zeit als streitbarer Kolumnist das Tempo, heute ist er ein angesehener Erzähler und Dramatiker (und einige Zeit lang auch Mitglied der sacht umstrittenen TV-Sendung Das literarische Quartett). Sein Beziehungsschlüsselroman Esra zog vor Jahren ein literaturnotorisch gewordenes Gerichtsverfahren nach sich.

In einer ungemein direkten, schnellen, manchmal rabiaten Sprache entwirft Biller Konstellationen der Liebe zwischen Anziehung, Sehnsucht, Vergehen, Ausweichen, Verlustangst, triebhafter Lust und diffuser Sprach- und Gefühllosigkeit.

Die an der klassischen amerikanischen short story orientierten Prosastücke seiner Sieben Versuche zu lieben spielen an Orten, die Biller – er wird heuer im August seinen 60. Geburtstag begehen – sehr gut kennt, in Berlin, München und Hamburg, in Prag und in Israel. In einer ungemein direkten, schnellen, manchmal rabiaten Sprache entwirft Biller Konstellationen der Liebe zwischen Anziehung, Sehnsucht, Vergehen, Ausweichen, Verlustangst, triebhafter Lust und diffuser Sprach- und Gefühllosigkeit. Dies vor dem zeithistorischen Prospekt eines totalitären wie eines „ganz normalen“ Antisemitismus in Ost und West. Zumeist sind seine Protagonisten in den Dreißigern und Vierzigern, manche sind Künstler, andere tauchen berufslos in scharf umrissenen Situationen auf. Alle sind Großstädter. Und allen eigen ist, so einst der Titel einer schlimmen deutschen Filmkomödie, Das merkwürdige Verhalten geschlechtsreifer Großstädter zur Paarungszeit.

Maxim Biller: Sieben Versuche zu lieben. Familiengeschichten. Mit einem Nachwort von Helge Malchow. Kiepenheuer & Witsch 2020, 368 S., € 22,70

Aus 30 Jahren stammen die „Familiengeschichten“, die Helge Malchow zusammengestellt hat, von einem von Billers frühesten Bänden Wenn ich einmal reich und tot bin (1990) – da gehörte er noch zur „Tempo“- und Zeitgeistequipe – bis zu den Short Storys aus Liebe heute von 2007.

Es sind allesamt Suchgeschichten. Immer wieder wird aufgebrochen, etwas Verschollenes ausfindig zu machen, von dem in der Vergangenheit nie (mehr) so richtig die Sprache war. Und immer wieder werden im Schatten von Traumata Varianten der Wahrheit präsentiert, besser: aufgetischt – Essen und Trinken sind wichtig bei Biller, als sozialer Akt wie als Wiederspiegelung innerfamiliärer Verhaltensmuster –, die zeigen: Alles schwankt. Alles wird schwankend gemacht. Halt, richtigen, festen, eindeutigen Halt unter den Füßen gibt es nicht. Dafür sorgt die Literatur. Jene, die in Maxim Billers Erzählungen gelesen wird, Poeme Marina Zwetajewas oder Ossip Mandelstams, und jene, in denen Autoren auftauchen, von Ilja Ehrenburg bis Joseph Heller oder David Vogel, die Maxim Biller in einem halben Leben selber geschrieben hat.

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