Familienausflug ins Todeslager

Bitte nicht schon wieder ein Buch über den Auschwitz-Tourismus und seine bizarren Auswüchse, mag man denken, wenn man Yasmina Rezas neuen Roman Serge zur Hand nimmt. Doch der Markenname der französischen Autorin, international bekannt vor allem durch ihre Bühnenstücke wie Kunst oder Der Gott des Gemetzels, hält letztlich, was er verspricht. Tabulose, kluge, zeitgeistige Unterhaltung mit Tiefgang, der sich elegant unter der changierenden Oberfläche versteckt.

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Yasmina Reza: Serge. Aus dem Französischen von Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel. Hanser 2022, 208 S., € 22,70

Marta Poppers letzte Worte waren NTV. Diesen Fernsehkanal wollte sie eingestellt haben, bevor sie im neuen Pflegebett verstarb. Mit diesem Anfangsakkord schlägt Reza den Ton an, auf den das weitere Familiendrama gestimmt ist: makabrer Humor im Angesicht des Todes.
„Omi“ Marta hinterlässt eine „Kuddelmuddelkiste“ von drei schon angejahrten Kindern, den Popper-Geschwistern, samt teilweise wechselndem Anhang, und will keinesfalls bei ihrem Ehemann beerdigt, sondern verbrannt werden.
„Ist doch verrückt, dass sich eine Jüdin einäschern lässt“, empört sich Enkelin Joséphine, die offenbar als einzige der Hinterbliebenen eine gewisse Sensibilität für das jüdische Erbe, von dem sich Großmutter zeitlebens distanzierte, entwickelt. Sie ist es auch, die schließlich auf eine Reise nach „Osvits“ und eine Spurensuche zu ihren dort zu Tode gekommenen ungarischen Vorfahren drängt. Ihr Vater Serge leistet anfänglich Widerstand, bis sich auch seine Schwester Nana und Bruder Jean, der Erzähler der Geschichte, zum Familienausflug ins KZ bereitfinden.

KZ-Folklore. Es kommt, wie es kommen muss und wie man es bereits von zahlreichen Berichten und Büchern von derlei Exkursionen kennt. Konfrontiert mit der touristischen Folklore am Gelände des ehemaligen Todeslagers fällt es schwer, eigene Emotionen zu entwickeln oder einzuordnen, angesichts dauerfotografierender, schwitzender Besuchergruppen in Shorts, die sich ständig ihrer Betroffenheit versichernd in den einstigen Krematorien, vor Vitrinen mit angehäuften Haaren und Schuhen drängen.
Serge weigert sich rauchend und ätzend, die „Judenrampe“ und andere Besichtigungshighlights abzugehen, behält dabei aber beharrlich seinen dunklen Anzug an. Ob ihm nicht heiß sei, fragt besorgt die Tochter. „Doch, doch. Aber in Auschwitz werd ich mich nicht beklagen.“ Im Kopf laufende Bilder aus Filmen wie Claude Lanzmanns Shoah überlagern die Eindrücke vor Ort, echte Gefühle wollen nicht gelingen. „Ich schwankte
zwischen Kälte und dem Bemühen, etwas zu empfinden, womit man nur sein Wohlverhalten unter Beweis stellen will“, resigniert Jean, und während sich die beiden Frauen verärgert abwenden, bilanziert Serge: „War dieses Auschwitz wirklich nötig?“

„Ist doch verrückt, dass sich eine Jüdin einäschern lässt.“

Die Bruchlinien, bereits davor in der Geschwisterbeziehung sichtbar, klaffen im emotionalen Stress der gemeinsamen Reise endgültig auf. Dabei spielen Erinnerungen an die Kindheit, an das Elternhaus immer wieder in die Gegenwart hinein. Serge, der titelgebende Älteste, in den der Vater die größten Hoffnungen setzte, ist eine kläglich gescheiterte Existenz, ein alternder Womanizer mit Herzproblemen, den seine letzte Freundin auf die Straße setzte, nachdem er sie betrogen hatte. Jean, der Mittlere, ein Single, hängt emotional am verhaltensauffälligen Sohn seiner Exfreundin. Nana, als Kind das verwöhnte Nesthäkchen, hat nach dem Tod des Vaters einen Spanier geheiratet, der das französische Sozialsystem trapaziert. Doch wie eine Löwin verteidigt sie ihn und ihre Kinder vor der herablassenden Verachtung ihrer beiden Brüder.

Geschwisterdrama. Viel mehr als beim eigentlichen Auschwitz-Thema, vor dem auch Yasmina Reza als Tochter einer ungarischen Jüdin und eines aus sephardischer Herkunft stammenden Vaters letztlich die Sprache versagt, läuft sie im Geschwisterdrama in bühnenreifen Dialogen zur Hochform auf. Vieles mag einem da vielleicht vertraut erscheinen in den Rückblenden auf das Popper’sche Familienleben in den 1960er- und 1970er-Jahren, in dem das Judentum so gut wie keine, der Staat Israel, zu dem der Vater eine absolute Loyalität empfand, dafür aber vor allem als Streitobjekt eine besondere Rolle spielte. „Dank Israel hatten die Poppers Stoff für ihren Irrsinn.“ Beharrlich geschwiegen wurde hingegen über das Schicksal der umgekommenen Verwandtschaft, was das „geschichtsvergessene“ Geschwistertrio auch gern weiterhin so gehalten hätte, gäbe es da nicht die dritte Generation in der unförmigen Gestalt von Serges Tochter aus erster Ehe, Joséphine, Auslöser der tragikomischen Pilgerfahrt an den Ort des Grauens. Beispielhaft zeichnet Reza nicht nur die Problematik einer vom Massentourismus pervertierten Gedenkkultur auf, sondern auch das Lebensgefühl dreier jüdischer Generationen und ihren Umgang mit der Vergangenheit nach, tabu- und respektlos, wie man es von ihr nicht anders erwartet, aber doch mit spürbarer Empathie für die ihr offenbar wohlbekannte bedrohte Spezies der Nachgeborenen. Gewidmet hat sie diese Erkundungsreise übrigens ihren „lieben Freunde(n)“ Magda und Imre Kertész, dem verstorbenen ungarischen Nobelpreisträger also, der 15 Jahre darum rang, eine Sprache für seinen Roman über Auschwitz zu finden, das er als jüdischer Junge überlebt hatte.

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