Manchmal trennt man sich die Wurzeln ab, um Halt zu finden in neuer Erde. Manchmal muss dieser Schnitt hart und unerbittlich geschehen, um eine erhoffte Befreiung zu ermöglichen. Das glaubt man wenigstens. Irgendwann kommt bei sehr vielen der Moment, an dem man erkennt, dass es Wurzeln gibt, die nicht zu kappen sind. Und noch etwas später erkennt man womöglich auch, dass es gut so ist. Sehr gut sogar. Zwischen meiner Wiener jüdischen Identität und der St. Petersburger Identität ohne jedes Wissen, jüdisch zu sein, liegen nun fast 50 Jahre. 50! Das muss man sich einmal auf dem Herzen zergehen lassen! Ich kann mich an jenen Augenblick erinnern, in dem ich erfuhr, dass ich jüdisch bin: Meine Mutter saß an ihrer Staffelei und versuchte zu malen, während ich sie mit meiner Neugier erfreute, soll heißen: störte. „Weißt du, was Juden sind?“, fragte ich, bereits mit gewisser Vorahnung, dieses Thema würde ihre Aufmerksamkeit fesseln. „Nun?“, fragte sie mich, mir schien halb besorgt, halb belustigt. „Die singen und tanzen sehr schön und haben alle eine schöne Lidfalte.“ Offenbar hatte ich im Fernsehen einen Bericht über die Brüdervölker der UdSSR gesehen und war einem großen, ja einem sehr großen Irrtum aufgesessen. Meine Mutter seufzte. „Nein, mein Schatz“, sagte sie dann. „Juden, das sind wir.“ Breaking news.
Ich war wirklich erschüttert. Aber mein Moment der Wahrheit ist noch wesentlich eleganter als jener, den mein Kollege Aliosha Biz erlitt wie eine Karambolage. Auf der Straße hatte er einem Pulk befreundeter Jünglinge gelauscht, die lautstark über die bösen Juden schimpften. Die ausgesprochene Wut beeindruckte ihn, er wollte auch so flammend laut sein wie sie. Er ging also nach Hause und legte vor seinem Vater los, wie blöd und böse und verderbt diese Juden denn waren. Bis es diesem reichte: „Du Idiot. Du bist ein Jude. Ich bin ein Jude. Mama ist eine Jüdin. Hast du es jetzt verstanden?“
Das Jüdischsein ist ein Trauma einiger Generationen aus der ehemaligen UdSSR. Nach Jahren der Verfolgung und Diskriminierung, nach Jahren ohne eigene Religion und Geschichte war das ein düsteres Geheimnis geworden, was im Westen eine ganz normale Art zu leben sein konnte. Die Geheimniskrämerei hat meine Mutter nahtlos an mich weitervererbt, ebenso wie Alioshas Vater an seinen Sohn. Nie wurde davon gesprochen, was es überhaupt hieß, Jude zu sein. Sogar der Zustand des Jüdischseins wurde chiffriert. Denn auch meine Mutter versuchte in ihrer Kindheit, das Geheimnis ihrer Herkunft zu lüpfen, weil es ihr niemand verraten wollte: Das Wort „Jude“, „Jüdin“ und „jüdisch“ durfte nie fallen. Stattdessen bediente man sich in der Familie und im Freundeskreis des Begriffes „Zugehörige“. Sie hörte sehr genau zu, bei welchen Freunden und Verwandten dieser Begriff fiel, zog ihre Schlüsse daraus und überraschte meine Großmutter mit der kämpferischen Ansage, sie wüsste nun endlich, was ein Zugehöriger sei, sie sei schließlich kein kleines Kind mehr und auch gewiss nicht blöd! „Und?“, fragte meine Großmutter, wohl in dem gleichen Ton, der in sehr weiter Zukunft aus Mutters Mund an mich weitergegeben werden würde. „Tu nicht so, als wäre ich zu jung, das zu verstehen!“, begehrte meine Mutter auf. „Ein Zugehöriger ist einfach ein wohlerzogener, angenehmer Mensch!“ Und nun am Ende dieser kleinen Rückblende angelangt, werde ich wohl bald einen Museumsbesuch planen. Im Zugehörigen-Museum Wien.