Faszinierende steinerne Freiluftarchive

„Die Grabstätten meiner Väter“. In einem großartigen Standardwerk präsentiert der junge Historiker Tim Corbett die vier jüdischen Friedhöfe Wiens als einzigartige Zeugnisse der jüdischen Stadtgeschichte und macht ihre Denkmäler lesbar.

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Der alte jüdische Friedhof in Währing, der zurzeit saniert wird, im Oktober 2020.© Isabelle Ouvrard/SEPA.Media/picturedesk.com

Bei der Geschichte der Wiener jüdischen Friedhöfe wie der Wiener jüdischen Geschichte überhaupt handelt es sich immer schon um eine „Wiener G’schicht“, stellt Tim Corbett eingangs fest und wird zuletzt resümierend wissen: „Diese Wiener G’schicht hat noch kein Ende.“
Dazwischen liegt ein Werk von über 1.000 Seiten und eine Forschungsarbeit von zehn Jahren, die den jungen deutschen Historiker von Wien aus nach Amerika, Israel und immer wieder an die Schauplätze geführt hat, die auf ihn offenbar eine magische Faszination ausüben: die jüdischen Friedhöfe in Wien. Seiner leidenschaftlichen, empathischen und dennoch wissenschaftlich distanzierten Herangehensweise verdanken wir ein neues Standardwerk zu Geschichte und Gegenwart dieser wirkungsmächtigen Erinnerungsorte.
1986 in Deutschland geboren und zweisprachig (deutsch und englisch) aufgewachsen, hat Tim Corbett keinen familiären jüdischen Hintergrund. „Interessanterweise werde ich immer danach gefragt. Es hat aber auch Vorteile, wenn man mit dem entsprechenden Wissen von außen kommt und nicht dazugehört.“
Seine spürbare Sensibilität für die verschiedenen jüdischen Mentalitäten hat sich Corbett vor allem durch die Literatur „von Joseph Roth angefangen“ erlesen und sich bei einem viermonatigen Aufenthalt in Israel im Ulpan die sprachlichen Voraussetzungen für seine Recherchen angeeignet.

Sprechende Steine. Grabsteine sprechen zu uns, wenn wir sie zu lesen verstehen. Und damit ist nicht nur die Entschlüsselung der Inschriften gemeint, deren Hebräisch auch muttersprachlich Kundige selten verstehen, nicht nur das oftmals archaische Deutsch, nicht nur die fast geheimnisvollen Abkürzungen und Chiffren. Darüber hinaus gilt es, den die Zeit der Grablegung betreffenden historischen Kontext und vielleicht sogar die Person des Toten in Betracht zu ziehen. Und da entdeckt Corbett mit detektivischem Spürsinn Verwandtschafts- und sonstige Beziehungen, zeichnet Lebensläufe längst Vergessener nach und gräbt detailbesessen buchstäblich einen Stein nach dem anderen um.
Lesbar gemacht bilden die „steinernen Freiluftarchive“ der Friedhöfe reiche Quellen kulturgeschichtlicher und jüdisch historischer Erkenntnisse. Weil die „Ewige Ruhe“, die Unantastbarkeit der Toten und damit die quasi ewige Erhaltung der Begräbnisstätten für die Gemeinden ein unverhandelbares jüdisches Gebot sind, stellen die Friedhöfe einzigartige Orte der relativen Kontinuität und über Jahrhunderte hinweg auch der kollektiven Erinnerung dar. Letztlich vereinen sie Reiche und Arme, Prominente und Unbekannte, Fromme und Säkulare und spiegeln in ihrer Gesamtheit somit die jüdische Geschichte der Stadt in ihrer „kaleidoskopischen Vielfalt“.
Vier Friedhöfe, den ältesten in der Seegasse, den zeitlich darauf folgenden Währinger Friedhof und die beiden „Tore“ am Zentralfriedhof, also die jüdische Abteilung am 1. Tor und den jüngsten und flächenmäßig größten am 4. Tor dokumentiert und analysiert Corbett vor allem hinsichtlich historischer und soziologischer Schichten, Eigenarten und Sepulkralepigrafik, sprich Grabtexten.

Auch der
Status der
Frau spiegelt sich in den
entsprechenden Grabinschriften
wider.

Diverse „Judenheiten“. Verfolgung, Vertreibung, Pogrome während der Jahrhunderte und schließlich die Tragödie der Schoah lassen eine Kontinuität der Geschichte des Wiener Judentums ebenso als Fiktion erscheinen wie die „Tradition“, auf die man sich vor allem bei Bräuchen rund um Tod und Bestattung gerne beruft. Auch eine einheitliche „jüdische Kultur“ entlarvt Corbett anhand der sich extrem divers entwickelnden „Sepulkralkulturen“ schlichtweg als Erfindung. Er spricht daher von verschiedenen „Judenheiten“ in bestimmten Epochen, während „Judentum“ für ihn ausschließlich die Religion bezeichnet.
Interessant ist auch, wie gut die „Jüdischkeit“ bzw. ihr jeweiliger Grad an den Grabdenkmälern ablesbar erscheint. „Mindestens ein hebräisches Wort“ müsste auf jedem Grab angebracht sein, verfügte das damals von Ernst Feldsberg geleitete Friedhofsamt der Kultusgemeinde in der Zwischenkriegszeit. Da hatten im Zuge der „Assimilation“ rein deutschsprachige Inschriften die überwiegend hebräischen bereits abgelöst, die aber bei Gräbern der „Frommen“ immer üblich blieben. Gegenwärtig wird die demografische Entwicklung der Gemeinde an der zunehmenden Verbreitung russischer Grabtexte sichtbar. Soziologisch aufschlussreich spiegelt sich auch der Status der Frau in den entsprechenden Grabinschriften wider. Noch bis vor Kurzem hat man jüdische Frauen darin vornehmlich als Ehefrauen und Töchter von Vätern bzw. als eshet chajil („tüchtige Frau“) gerühmt.

Tim Corbett: Die Grabstätten meiner Väter. Die jüdischen Friedhöfe in Wien. Böhlau 2020, 1.041 S., € 83

„Scham und Schuld“. Beit chaim, „Haus des Lebens“, heißt der jüdische Friedhof seit alters her. Dieser euphemistische Begriff sollte in den frühen 1940er-Jahren mit neuer Bedeutung erfüllt werden, als die von allen Grünanlagen ausgegrenzte jüdische Bevölkerung das 4. Tor als Erholungsgebiet, Zufluchtsort, als Versteck und auf unbelegten Flächen sogar als „Grabeland“ für Gemüseanbau benutzte.
In Abweichung geltender jüdischer Gesetze durften während der NS-Zeit auch Aschenreste, die den Angehörigen aus den KZs geschickt wurden, rituell begraben werden.
Unter dem Titel „Scham und Schuld“ beleuchtet Corbett die beschämende Restitutionsgeschichte und den pietätlosen Umgang mit dem jüdischen Erbe im Nachkriegsösterreich bis hin zur Waldheim-Zeit und dem „Washingtoner Abkommen“ 2001, das die Instandsetzung der jüdischen Friedhöfe bundesweit beinhaltet. „In die Länge ziehen“ bleibt sichtlich auch da eine geübte Strategie, wie Lokalaugenscheine, vor allem am Währinger Friedhof, zeigen.
Auch der „Ewige Ort“ ist dem Verfall, dem Zerfall preisgegeben. Wie unendlich viel damit verlorengeht, zeigt Tim Corbett an den „Grabstätten der Väter“ beeindruckend auf. Zur bildlichen Anschauung gewünscht hätte man sich vielleicht noch einige und jedenfalls bessere Illustrationen.
Der gewichtige (1,8 kg!) Band eignet sich zwar nicht gerade als handlicher Friedhofsführer, ist aber trotz seiner akademischen Genauigkeit, Breite und Tiefe überraschenderweise eine absolut faszinierende Lektüre und nicht zuletzt ein fundamentales Nachschlagewerk.

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