Filme gegen das Mauern

Wer im Herzen keine Mauern errichtet, tut es vermutlich auch nicht vor der eigenen Tür, an Landesgrenzen und in humanitären Fragen. Wie wichtig Kunst und Kultur gerade in Zeiten globaler Grenzschließungen und Mauerbau-Fantasien sind, beweist das diesjährige Jüdische Filmfestival Wien mit einer ganzen Palette an Filmen für eine humanistische Gesellschaft in Gegenwart – und Zukunft.

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Barbara Rubin (Chuck Smith, USA 2018) ®_Juno_Film

TEAR DOWN THE WALLS!
Jüdisches Filmfestival Wien 2020
7.−21. Oktober 2020
Village Cinemas Wien Mitte,
Metro Kino & Gartenbau Kino
jfw.at

„Reißt die Mauern nieder!“, lautet das Motto der diesjährigen Ausgabe des Jüdischen Filmfestivals Wien (JFW), und dass es diese 28. Edition gibt, ist schon ein kleines Wunder. „Tear down the walls!“, rief selbst der einstige US-Präsident Ronald Reagan seinem damaligen Amtskollegen Michail Gorbatschow am Brandenburger Tor 1987 zu, zwei Jahre später fiel die Berliner Mauer – doch, so Staatssekretärin für Kunst und Kultur Andrea Mayer in ihrem Vorwort, „nimmt das Erbauen von Mauern seine Anfänge allzu oft in einem Nicht-weiter-denken-Wollen und -Können“. Und das nicht (nur) in der Geschichte, sondern auch in unserer Gegenwart. Und so verstehen Festivalgründer und -leiter Frédéric-Gérard Kaczek und die beiden Kuratorinnen der diesjährigen Ausgabe, Rita Jelinek und Doris Kittler, auch das JFW als ein „Plädoyer für eine von geistigen Mauern befreite, humanistische Gesellschaft sowie als Mahnung gegen Ausgrenzung und menschenverachtende Diskriminierung“. Wie wichtig dieser Aufruf ist, zeigen die

Douze Points (Danny Sirkin, IL 2019) ®_Juno_Film

Diskussionen der letzten Woche, nicht nur, wenn plötzlich wieder schamvoll bis aggressiv auf die/den Nächsten geblickt wird und sich schnell der Tenor des stillen Vorwurfs erspüren lässt, wenn man sich nicht in allem an die ihrerseits ziemlich verwirrenden Vorgaben seitens wem auch immer hält. Schnell ist man von der kleinen stoffenen Mauer zum Schutz des eigenen Körpers (obgleich der Sinn eigentlich gerade ein umgekehrter ist) bei den realen, als würden Beton oder Stahl die richtigen Mittel sein, um die von uns „fern“ zu halten, deren Da-Sein uns von anderen als falsch und fremd dargestellt wird.

Fiddler: A Miracle of Miracles (Max Lewkovicz, USA 2019) – die Geschichte eines unerwartbaren Welterfolgs. ®_Juno_Film

Doch steter Tropfen höhlt den Stein, das ist im Guten wie mit jedem Übel so – und so zeigen es auch eine Reihe von Filmen aus dem reichhaltigen, ja überbordenden und wie stets klug zusammengestellten Programm, in dem sich neben der Weltpremiere von Liebe war es nie von Maya Sarfaty (siehe Seite 47) eine beachtliche Zahl an Österreich-Premieren internationaler Spiel- und Kurzfilme sowie Dokumentationen finden, darunter Dokumentationen von Keren Perlmutter (Determined. The Story of Holocaust Survivor Avraham Perlmutter, USA 2020) und Emmanuelle Mayer (A Fish Tale, IL 2019) sowie aktuelle Spielfilme von Danny Sirkin (Douze Points, IL 2019), Pavel Lungin (Esau, IL 2020), Guy Amir und Hanan Savyon (Mechila, IL 2029), Jorge Weller (Ahava Bi’Shlei’kes, IL 2019) oder Ram Loevy (Hametim Shel Yafo, IL 2019).

Nicht alle Filme, erzählen von Optimismus und Toleranz. Umso wichtiger sind sie, an der Seite der Filme der jüngeren Zeit, für ein Festivalprogramm, das sich nicht scheut, Konflikte zu thematisieren – und Lösungen anzubieten.

Es sind vor allem die zahlreichen Programmpunkte im Gedenken an in den letzten Monaten verstorbene wichtige Menschen der internationalen Filmbranche, die die Ausgabe 2020 des Festivals prägen: Artur Brauner, jene „Produzentenlegende“, die „wie kein anderer das deutsche Nachkriegskino prägte“, wie Ula Brunner in ihrem Nachruf im

A Fish Tale (Emmanuelle Mayer, IL 2019) ®Emmanuelle Mayer

Festivalkatalog schreibt; Regisseur Joseph Vilsmaier, dessen bald unglaubliche 25 Jahre alten Comedian Harmonists mit im Programm zu finden sind (17.10., 21 Uhr, Village Cinemas); Jahrhundertkomponist Ennio Morricone – wer Sergio Leones Meisterwerk Once Upon A Time in America, dessen Soundtack von Morricone ein Leben lang im Ohr bleibt, noch nie gesehen hat, kann es hier tun (18.10., 12 Uhr, Gartenbaukino); Hannelore Elsner, unverwechselbar, unprätentiös und unersetzbar, zu deren letzten Filmarbeiten u. a. Hannas schlafende Kinder von Andreas Gruber (19.10., 17.45 Uhr) und Pierre-Henry Salfatis europäische Koproduktion Der letzte Mentsch von 2014( 8.10., 15.30 Uhr) über den letzten Weg des Juden Menachem (berührend: Mario Adorf) und seine Begegnung mit der blinden Ethel zählten. Und Kirk Douglas, der unvergessliche Sohn jüdischer Einwanderer aus Weißrussland, der, 1916 bereits in den USA geboren, für die Filmkarriere den Namen – Issur Danielowitsch Demsky – opferte, nicht jedoch seine ideologische Haltung. Douglas, der nach einem schweren Unfall zurück zum jüdischen Glauben fand, bewies zeit seiner Lebens Rückgrat und Mut, und das hinter wie auch vor der Kamera. 1953 kam Edward Dmytryks Film The Juggler in die Kinos, in dem Douglas den ehemaligen KZ-Häftling Hans Müller spielte, der 1949 nach Israel emigriert, sich jedoch, traumatisiert von den Erlebnissen während der NS-Verfolgung, nicht mehr an ein „Leben in Frieden“ gewöhnen kann. Auch in diesem Film, der in Memoriam des im Februar mit 103 Jahren verstorbenen Hollywood-Giganten gezeigt wird (17.10., 14.30 Uhr), sind es Mauern, aus denen sich der Protagonist seelisch nicht befreien kann.

Eine Frau voller Widersprüche: Mrs G. von Dalit Kimor (IL 2019) über Bademode-Ikone Lea Gottlieb ®muse_productions

Und auch Dror Zahavis 2019 entstandener Film Crescendo – #makemusicnotwar, der am 7. Oktober als Eröffnungsfilm in den Village Cinemas Wien Mitte zu sehen ist, in denen die meisten der diesjährigen Filme gezeigt werden (Wiederholung: 21.10., 20.30 Uhr), verhandelt das Thema des Kampfes gegen imaginäre und vor allem politisch gesteuerte Mauern – „alte und neue, physische und psychische“ – und erzählt von der Kraft der Musik, die hier etwa eine Gruppe palästinensischer und israelischer Kinder und Jugendlicher zum gemeinsamen Konzert gegen Feindseligkeit und Nationalismus vereint.
Nicht alle Filme, vor allem jene aus dem historischen Programm, erzählen von Optimismus und Toleranz. Umso wichtiger sind sie, an der Seite der Filme der jüngeren Zeit, für ein Festivalprogramm, das sich nicht scheut, Konflikte zu thematisieren – und Lösungen anzubieten. Zu sehen sind dieses Jahr u. a. Joachim Haslers Chronik eines Mordes von 1965 (13.10., 16 Uhr) über den schmalen Grat zwischen Rache und Gerechtigkeit,

Liebe war es nie (Maya Sarfaty, A/IL 2020) ©_L&P

Charlotte von Franz Weisz aus dem Jahr 1980 (15.10., 17.10 Uhr) über die 1943 ermordete Künstlerin Charlotte Salomon – neben Morituri und Zeugin aus der Hölle einer jener Filme aus der von Artur Brauner einst initiierten Reihe „Filme gegen das Vergessen“, die dieses Jahr in Wien (wieder-)zusehen sind –, Axel Cortis gemeinsam mit Georg Stefan Troller 1973 entstandene Spielfilm-Dokumentation Ein junger Mann aus dem Innviertel (15.10., 19.30 Uhr), die die frühen Jahre Hitlers nachzeichnet, und Frank Beyers im Jahr darauf entstandene Filmadaption des eminenten Zeitromans Jakob der Lügner von Jurek Becker.
Die Reihe „Panorama“ (Dokumentation) und das Kurzfilmprogramm, aber auch der besondere Augenmerk auf Frauen („Frau im Fokus“) sind nur einige der so zahl- wie facettenreichen weiteren Angebote aus der Fülle an spannenden, relevanten, neu- und wiederzuentdeckenden Festivalbeiträgen. Auch in Hinblick auf die Corona-Schutzvorgaben ist das JFW vorbereitet – und, alles in allem, „zuversichtlich, dass Sie mit diesen Maßnahmen gut zurechtkommen werden“. Es ist (nicht nur aufgrund des langen Wartens und der Wochen des Rückzug in die „eigenen vier Wände“) ein unglaublich bestärkendes Lebenszeichen, dass das Festival stattfindet. Und es ist, in Programmatik wie Angebotsreichtum, eines der wohl wichtigsten Ereignisse im jüdischen Wiener Kunst-, Kultur-, Erinnerungs- und Kinojahr.

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