Es geht vorbei an Kartons und Plastiksäcken mit Textilien, die vor Großhandelslokalen abgestellt sind, an funky Hostels, Schneidereien, schäbigen Fassaden mit bunter Graffiti, an Galerien und Pop-up-Shops, Bars und übervollen Cafés. Neben dem Levinsky-Markt findet man Girlanden und Plastikdekorationen in schrillen Farben, Schaufenster voller Perlen und bunter Steine für Modeschmuck, endlos viele Lampen und Luster in der Wolfson-Straße, und hinter den runden Bauten des modernen Reviat-Florentin-Komplex sind noch einige der alten Metallhandlungen, Tischlerwerkstätten und Garagen versteckt.
Das ist Florentin, ein schräges Viertel zwischen den neueren Teilen von Tel Aviv und dem alten Jaffo. Einst Wohnort von mittellosen jüdischen Immigranten sowie billige Arbeitsstätte von Garagen- und Werkstättenbetreibern, erweist es sich heute als noch gerade erschwingliche Alternative für junge Menschen und Künstler: Teils schäbig, teils farbenfroh, mit einer ganz speziellen Atmosphäre und den angesagtesten Bars von Tel Aviv. In der WhatsApp-Gruppe der Nachbarschaft warnen junge Anrainer vor dem Polizisten, der gerade in der Abarbanel Street Strafmandate verteilt, Hundesitter werden gesucht, Insider-Witze weitergeleitet. Ein junger Mann bietet einmal pro Woche indisches Abendessen zu günstigen Preisen in seiner Florentiner Wohnung an. Man kann aber auch Yogagruppen, Kunsthandwerk und Maniküre finden …
»Ich mag diese Nachbarschaft, sie ist voller Inspiration und junger Leute, die etwas kreieren.
Es gibt hier eine ganz spezielle Energie.«
Gil Lemel
Einer der beliebtesten Spots des Viertels ist der Levinsky-Markt. Hier kann man eingelegte Früchte, exotische Gewürze, Nüsse und Mandeln in jeglicher Form und vieles mehr findet. Vor dem „Cafe Levinsky“ von Benny Briga findet sich jeden Freitag eine Warteschlange ein. Begonnen hatte Briga vor sechs Jahren mit Kaffee und Keksen, inzwischen hat der Tel Aviver mit der grauen Mähne das „Gazoz“, das erfrischende Limonadengetränk, mit dem sich die Israelis schon in den 1930er-Jahren an heißen Sommertagen Kühlung verschafften, wieder zum Hit gemacht. Jetzt ist sein etwa drei Quadratmeter großer Laden Fixpunkt für Besucher des Markts geworden, die dann die schwere Entscheidung zu treffen haben, ob sie ihr Gazoz „gadol o katan“ – „groß oder klein“ wollen. Der Rest wird für den Kunden entschieden, denn es ist „Limonade Free Style“: Jedes Glas wird ein Unikat, mit echter Guave, eingelegtem Hibiskus und Kirschen, Granatapfelkernen, Mandarinenstücken, Melone, verschiedenen grünen Blättern, Kambuga-Tee und dazu Sirup und Soda.
Hunderte farbenfrohe Gläser von eingelegtem Obst und Likören zieren den Laden. Man findet hier so ziemlich alles, was man aus den Früchten und Blättern von Brigas Dachgarten und den Produkten des Marktes machen kann. Demnächst soll es auch selbstgemachte Marmeladen geben. Vor dem kleinen Geschäft steht Brigas Truck, auf dem es Sitzplätze für die Kunden gibt. Wenn er nicht gerade ein Getränk kreiert, sitzt der Besitzer mit Freunden auf Schemeln vor seinem Laden auf der Straße, heute, wie er versichert, schon seit sechs Uhr früh: „Du wirst es nicht glauben, aber der erste Gast ist heute schon um 6.15 Uhr gekommen.“
Gleich nebenan sperren mehr und mehr junge Designergeschäfte und trendige, coole Cafés auf: Neben „Tony und Esther“, dessen Tische die Seitengasse der Levinsky-Straße verstellen, gibt es den neuen Pop-up-Shop „Capriza“ von Omer. Sie verkauft Vintage und junge Designer und betreibt auch die Galerie mit Künstlern aus dem Viertel: „Es ist leider schon etwas teuer hier, wir werden bald ein anderes Lokal suchen müssen …“, erzählt die Jungunternehmerin, während ein Auto mit Sesam Street-artigen tanzenden Stoffpuppen und lauter Musik vorbeifährt, dessen großes Poster einen guten und heiteren Tag wünscht.
Nicht weit vom Markt hat Amit Oved vor sieben Monaten ihren Shop „Badyna“ mit asiatischen Stoffen, Kleidern und Schmuck eröffnet: „Es ist hier immer noch billiger als in Tel Aviv. Das hier wird einmal wie Soho in London, und ich will ein Teil davon sein.“ Früher hat sie gleich nebenan bei ihrem Großvater in seinem Großhandel für Modeschmuckzubehör gearbeitet, jetzt kreiert sie ihren eigenen Schmuck aus afrikanischen Perlen, Draht und indischer Seide.
Gil Lemel lebt schon seit sieben Jahren in Florentin und schwärmt: „Ich mag diese Nachbarschaft, sie ist voller Inspiration und junger Leute, die etwas kreieren. Es gibt hier eine ganz spezielle Energie, eine spezielle Gemeinschaft von Menschen. Hier hat die Kunst ihren Platz, und jeder kann sagen: ‚Ich bin, was ich bin.‘ “ Vor mittlerweile zwei Jahren begann die junge Designerin, trendige Rucksacktaschen zu nähen und von ihrer Wohnung aus zu verkaufen. Jetzt beschäftigt sie schon zwei Näherinnen und vertreibt ihre Designs auf diversen Märkten und weltweit über das Internet. Die stylischen Rucksäcke eignen sich auch bestens für Vegans, denn sie sind aus Stoffen und Kunstleder gefertigt (www.chilla.co.il). Ihr Lieblingscafé in der Gegend ist „Hamalabiya“: „Da gibt es guten Malabi und sehr gute Preise!“
Schmutzig, aber fun. Shilat Ifergan entwirft und fertigt in ihrem Studio an der Nahalat Binyamin Mall exklusive Brautkleider. Sie liebt die Arbeit an den kleinen Details: „Durch die Handarbeit mit den Perlen und Spitzen ist jedes Kleid ein wenig anders. Es ist ein sehr entwickelter, gefragter Markt hier, und die Klientel ist urban und modisch.“ Ifergan hat vorher bei einem bekannten Designer gearbeitet, wollte sich aber immer schon selbstständig machen und wählte für ihr Studio ein ehemaliges Büro in einem der alten Häuser aus den Sechzigerjahren: „Ich liebe Florentin, es ist ein bisschen schmutzig, aber fun! Und es ist so praktisch, weil ich hier so nahe an den Stoff- und Nähzubehörgeschäften bin.“ Ihre bevorzugten Cafés sind „Aqua Terra“, wo man auch Pflanzen erwerben kann, und „Tony ve Esther“.
Die frischesten Blumen gibt es gleich vis a vis bei „Karmi“, wo man seinen Strauß zu günstigen Preisen selbst zusammenstellen kann. Und hier ist auch das „Kiosko“ ein kleines Straßencafé mit herrlichen hausgebackenen Kuchen und kleinen Imbissen. Im Innenraum, der eher an ein Wohnzimmer erinnert, sitzen junge Menschen bei Kaffee und Snacks an ihren Laptops.
Überall im Viertel und vor allem am Rande von Florentin, in der Salame-Straße, wird rege gebaut, und die Immobilienpreise klettern ständig aufwärts. Während man die alten schäbigen Wohnungen noch recht günstig erwerben kann, sind die Wohnungspreise in den Neubauten inzwischen bei über 10.000 Euro pro Quadratmeter angelangt.
Nur wenige Straßenzüge weiter östlich glaubt man sich in Afrika angelangt. Hier, in der Nähe des Levinsky-Parks und rund um die Bialik-Rogozin-Schule, deren Schüler zu etwa 90 Prozent Ausländer sind, haben sich die großteils illegalen afrikanischen und sonstigen Einwanderer und Flüchtlinge niedergelassen und betreiben ihre kleinen Läden. In diesen Straßen ist weit und breit kein Weißer zu sehen. Es gibt allerlei afrikanische Speisen in einfachen, schlecht beleuchteten Buden. In einem Lokal verfolgt eine Gruppe von Männern ein Fußballspielspiel, Frauen gehen nicht ins Café, nur die Besitzerin ist hier.
Es ist nicht klar, wie lange diese Menschen noch in diesem Teil Tel Avivs geduldet sein werden, das Viertel ist in ständigem Umbruch begriffen, der Boden wird immer teurer. Wer Mut hat, kauft hier jetzt eine Wohnung und wartet ab.