Die Vorfreude der beiden Musiker, miteinander aufzutreten, war im Vorgespräch deutlich zu hören. Das ist bei individualistischen Solisten nicht immer der Fall. Doch diese beiden Ausnahmekünstler waren zusätzlich motivierte durch das wunderbare Jerusalem Symphony Orchestra (JSO), das seine Tournee durch Deutschland, die Schweiz und Liechtenstein im Wiener Konzerthaus begann.
Das anspruchsvolle Programm – inklusive dreier exquisiter Zugaben – wurde im ausverkauften Großen Saal mit großer Begeisterung und anhaltendem Applaus bedankt. Den Auftakt machte die Sinfonietta Nr.1 op.41 des polnisch-jüdischen Komponisten Mieczysław Weinberg (1919-1996), der leider erst in den letzten zehn Jahren wieder entdeckt wurde.
Die Frau des Komponisten, der als Jude verfolgt und diskriminiert wurde, erinnerte sich an die Entstehung dieses großartigen Werkes: „Weinberg schrieb seine erste Sinfonietta im März 1948 in weniger als einem Monat. Die Partitur war mit einem Zitat meines Vaters über die rechtliche Gleichstellung der Juden in Russland betitelt. Mein Mann wollte damit klarmachen, dass man einen Menschen nicht töten darf, nur weil er Jude ist.“ Aber als das Stück gedruckt war, strich man das Zitat des Vaters aus der Partitur. Schon Jahrzehnte vor der Shoah war Weinbergs Familie durch Pogrome gewaltsam dezimiert worden; Weinbergs Vater Shmuel sowie Mutter und Schwester wurden von den Nazis ermordet. Nach der Flucht aus Polen folgten die antisemitischen Repressalien in Russland. „Nur dem Schutz und der Fürsprache von Dmitri Schostakowitsch verdankte Weinberg sein Überleben“, erzählt der künstlerische Leiter des Jerusalem Symphony Orchestra, Julian Rachlin. „Schostakowitsch hatte Weinbergs Talent früh erkannt und ihn nicht nur gefördert, sondern ihm auch eine große Zukunft vorausgesagt.“

Seit zwei Jahren leitet Rachlin das JSO und formte es in dieser Zeit zu einem wunderbaren Klangkörper. „Es gab eine Ausschreibung mit 101 Bewerbern für diese Position und ich wurde von den Gremien einstimmig gewählt, das ist nicht nur eine große Freude, sondern auch Ehre, die ich mit Demut angenommen habe“, freut sich der Österreicher. Sechzig Tage im Jahr verbringt er bei und mit seinem Jerusalemer Orchester. „Ich war auch am 7. Oktober mit meiner Frau und meinen Eltern in Tel Aviv – und wir haben die Einschläge und Erschütterungen voll mitbekommen“, erinnert sich Rachlin, der bereits seit zwanzig Jahren seinen Ruf als hervorragender Dirigent aufgebaut hat und laufend mit den größten Orchestern der Welt auftritt.
„Mit dem JSO haben wir ein ganz neues Kapitel aufgeschlagen, sodass man ruhig sagen kann, dass Israel jetzt nicht nur einen musikalischen Botschafter mit dem Israel Philharmonic Orchestra (IPO) in der Welt hat. Denn mit dem Symphonieorchester aus Jerusalem, der Stadt aller drei Weltreligionen, sind wir durchaus gleichwertige Friedensbotschafter der Musik“, beharrt der Chefdirigent des JSO, der sowohl als künstlerischer Leiter des Herbstgold-Festivals in Eisenstadt, als auch als Chefdirigent des Kristiansand Symphony Orchestra (in der südlichsten Stadt Norwegens) fungiert.

Die Gründung des Jerusalemer Orchesters erfolgte 1936 unter der britischen Mandatsverwaltung Palästinas als Rundfunkorchester Kol Israel (Stimme Israels). Es gewann seine Anhänger durch die regelmäßigen Dienstagskonzerte in der Aula des Jerusalemer YMCA. In den 1970er Jahren änderte es seinen Namen und zog 1985 in die Henry Crown Symphony Hall des neu gebauten Kulturzentrums Jerusalems. Das relativ kleine Orchester mit 80 Ensemblemitgliedern erlebte seit 2011 immer wieder Anfeindungen und Störungen der Konzerte durch Anhänger der BDS-Bewegung. So musste ein Konzert in der Royal Albert Hall in London unterbrochen werden, und auf einer Konzertreise im August 2018 durch Südamerika kam es auch zu Störungen.
Der zweite Höhepunkt des Wiener Konzertes war die Interpretation von Max Bruchs berühmten Violinkonzert g-moll op.26 (mit Orchester) durch den russischen Violinisten Nikita Boriso-Glebsky, mit dem JSO. „Ich habe mich schon sehr auf dieses Zusammenspiel mit den Musikern aus Jerusalem und Maestro Julian Rachlin gefreut, denn wir haben in der Vergangenheit gleichzeitig bei Festivals gespielt, aber nicht als Dirigent und Geiger“, lacht der 40-jährige Künstler, der am Konservatorium in Moskau studierte, aber auch in Brüssel und im schweizerischen Kronberg. Seit September 2022 lebt Boriso-Glebsky in Wien, tourt diese Saison u.a. durch China, Japan und Spanien. „Nach Moskau fahre ich nur mehr von Zeit zu Zeit, ich will ja den Kontakt zur Heimat nicht ganz verlieren.“
In der Saison 2022/23 war Boriso-Glebsky Resident des Wiener Konzerthauses, präsentierte ein Kammermusikabonnement als Teil eines Trios. Außerdem konzertiert er regelmäßig in Graz und Linz. Zuletzt absolvierte er wichtige Debüts z.B. in der Carnegie Hall und im Fisher Center in New York sowie in Barcelona und Instanbul. Hat er einen Bezug zu Israel, war er da schon? „Ja, zumeist im Sommer, denn ich habe ganz tolle Meisterkurse im Keshet Eilon Music Center bei Ida Haendel and Shlomo Mintz absolviert, ein großartiges Erlebnis“, so der einfühlsame, meisterliche Beherrscher der Violine. „Keshet Eilon ist im gleichnamigen Kibbutz ein im Jahr 1990 gegründetes Musikzentrum“, erzählt Boriso-Glebsky, „das jeden Sommer dreiwöchige internationale Violinseminare mit Spitzenmeistern ihres Faches für junge Talente abhält.“
Spielt Julian Rachlin noch Solistenkonzerte? „Ja, ich würde sagen, das sind noch rund 30 Prozent meiner Auftritte. Das Schöne ist jetzt, dass ich mir aussuchen kann, mit welchem Orchester und auch was ich spielen will!“ Die erste Tournee des JSO gastiert jetzt in München, Frankfurt, Berlin, Köln, Regensburg und Vaduz, im Dezember folgt Polen und Litauen mit großen unterschiedlichen Programmen. „Es ist sehr wichtig für das Orchester hinauszukommen, insbesondere nach den schrecklichen Ereignissen des 7. Oktober“, gibt Rachlin zu bedenken.
Haben internationale Künstler und Solisten abgesagt, weil sie nicht nach Israel kommen wollten? „Ja, leider sind die Tourneen nach England, Spanien, Japan und China storniert worden. Umso dankbarer sind wir, dass die Tournee mit Auftritten in Österreich, Deutschland und der Schweiz stattfindet – trotz erhöhtem Sicherheitsaufkommen. Und wie war es mit Solisten? „Die meisten sind gekommen, trotzdem gab es viele Absagen, bedauerlicherweise haben auch Künstler mit israelischen Pässen abgesagt. Jenen Dirigenten und Solisten, die trotz allem gekommen sind, rechnen wir das hoch an, werden ihnen das sicher nicht vergessen“, betont Rachlin. „Es wurde ja alles dramatisch umgedreht, aus Opfern wurden Täter, das tut sehr weh, da ist die Musik sehr wichtig, gerade in Zeiten wie diesen brauchen die Menschen kulturelle Ablenkung – und das ist vor allem Musik.“
*Wiederentdeckung eines genialen Solitärs – Wina – Das jüdische Stadtmagazin, Oktober 2024
https://www.wina-magazin.at/wiederentdeckung-eines-genialen-solitaers/