Fußball und viel mehr – Brasilien

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In Brasilien spielt nicht nur Fußball eine große Rolle, sondern auch eine blühende jüdische Gemeinde – über die frühen Spuren und die Vielfalt der mehr als 150.000 Juden heute. Von Marta S. Halpert   

Voller Stolz präsentiert sich der Bürgermeister von Porto Alegre, José Fortunati, in einem Fußballdress der SiBRA, der Sociedade Israelita Brasileira, kurz vor der Fußballweltmeisterschaft. Das grün-gelbe Emblem in den Landesfarben zeigt einen halben Fußball und eine ganze Menora in schöner Harmonie. Die südliche Hafenstadt zählt zu den größten Städten Brasiliens und ist ein ökonomisches und kulturelles Zentrum – und einer der zwölf Austragungsorte der Fußballweltmeisterschaft. Laut einer Vergleichsstudie der UNO hat die 1,4-Millionen-Stadt die beste Lebensqualität aller Großstädte Lateinamerikas.

Der Bürgermeister fieberte dem sportlichen Großereignis ebenso entgegen wie Sergio Caraver, Präsident der SiBRA, und Guershon Kwasniewski, Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde, die ihm das „Leiberl“ geschenkt hatten. Gemeinsam bereiteten sich die jüdischen Gemeinde von Rio de Janeiro und Porto Alegre auf ihre Gastgeberrolle vor: Die jüdischen Fußballfans aus aller Welt – derzeit sind die Argentinier und Israelis in der Mehrzahl – sollen von Freiwilligen betreut und begleitet werden. Sogar jüdische Ärzte stehen für den Ernstfall bereit. Bereits am 6. Juni organisierte man hier einen „Schabbat der Nationen“ mit den diplomatischen Repräsentanten aus Deutschland, Kanada und Spanien, an dem auch Ahmad Ali, als Vertreter des islamischen Kulturzentrums, teilnahm. „Wir haben hier eine sehr aktive Gruppe, die sich intensiv mit dem interreligiösen Dialog beschäftigt“, erzählt der in Argentinien geborene Kwasniewski.

„Wer Brasilien wirklich zu erleben weiß, der hat Schönheit genug für sein halbes Leben gesehen.“ Stefan Zweig

Der Großteil der Juden Brasiliens ist europäischen Ursprungs – es gibt einen kleinen syrisch-libanesischen Anteil –, und sie leben vor allem in den beiden größten Städten: in São Paulo rund 70.000 und in Rio de Janeiro etwa 40.000. Aber es gibt auch kleinere Gemeinden in Bahia, Belem, Manaus, Recife und Porto Alegre. Brasilien gehörte auch zu den ersten Staaten 1947, die dem UN-Teilungsplan zustimmten und Israel gleich anerkannten. Seit 1948 haben nur etwa 8.100 Juden Alija gemacht. Die religiöse und schulische Infrastruktur ist vorbildlich, allein in São Paulo gibt es acht jüdische Schulen; auch Rio hat eine hohe Dichte an jüdischen Institutionen, unter anderem eine 500 Schüler fassende Bar-Ilan-Schule mit koscherer Küche und eigener Synagoge. An den Universitäten gibt es Fakultäten für jüdische Studien; es erscheinen eine Reihe von Zeitungen und Magazinen in Jiddisch und Portugiesisch. Die Jugendarbeit ist bestens organisiert, man findet hier sowohl Hashomer Hazair, Habonim also auch Bnei Akiba. Die syrisch-libanesische Gemeinde verfügt über ihre eigenen Jugendorganisationen.

Jeder Bundesstaat in Brasilien hat eigenständige jüdische Gemeinden – und diese sind wiederum in der zentralen CONIB, Confederacao Israelita do Brasil, vertreten. Diese Dachorganisation wurde 1951 gegründet und beherbergt 200 Vereine, die sich mit jüdischer Erziehung, Kultur, Charity und Zionismus beschäftigen. Die größeren Gemeinden haben sowohl eigene soziale Einrichtungen als auch Spitäler: Das Hospital Israelita Albert Einstein in São Paulo zählt zu den besten des Landes. Jüdische Sportclubs werden von Privaten errichtet und finanziert. Trotz der relativen Sicherheit und harmonischen Koexistenz diverser ethnischen Gruppen kommt es auch hier vereinzelt zu antisemitischen Vorfällen. Aber in Brasilien existiert eine beeindruckende „Koalition“ zwischen Intellektuellen, Geistlichen und Politikern, die den Kampf gegen Rassismus und Antisemitismus gemeinsam bestreiten.

Eine abwechslungsreiche Geschichte

Das war nicht immer so. Die jüdische Ansiedlung in Brasilien war, wie so oft in der jüdischen Geschichte, die Folge von Verfolgung und Vertreibung anderswo. In Portugal setzte die Inquisition und mit ihr die Zwangstaufe für Juden im Jahre 1497 ein. Die erste dokumentierte Erwähnung einer „jüdischen Ankunft“ geht auf das Jahr 1500 zurück: Da landete Gaspar de Gama, ein Converso, mit dem portugiesischen Admiral Pedro Alvares Cabral an der Küste Brasiliens. Viele dieser Zwangsgetauften versuchten so weit als möglich ins brasilianische Hinterland zu gelangen, um den portugiesischen Kolonialherren zu entfliehen. Sie arbeiteten in der Landwirtschaft, pflanzten Zuckerrohr an, errichteten Mühlen und bauten Brücken. 1624 gab es unter den rund 50.000 europäischen Siedlern Brasiliens bereits eine große Anzahl von Juden, die inzwischen zu erfolgreichen Geschäftsleuten, Lehrern und Dichtern avanciert waren. Im gleichen Jahr kamen niederländische Streitkräfte nach Brasilien, die den Nordosten des Landes eroberten. Daraufhin zogen die meisten Juden in diese Gebiete, weil die Holländer als tolerant galten und sie hier ihre Religion ungestört ausüben konnten. Bereits 1636 entstand in der Hafenstadt Recife am Atlantik die erste Synagoge in der Neuen Welt, Kahla Zur.

Ebendort wurde genau vor einem Jahr ein 500-Jahre altes Skelett eines jüdischen Mannes entdeckt. Marcos Albuquerque, Archäologe an der Federal University of Pernambuco, hat keinen Zweifel daran, dass es sich um einen Juden handelt: „Seine Hände sind nicht gefaltet, wie bei den Christen üblich; er ist in einfaches Tuch gewickelt und es gibt keinen Schmuck oder persönliche Gegenstände im Grab.“

Nachdem die Portugiesen die Holländer 1654 wieder aus Brasilien vertrieben hatten, begannen erneut antijüdische Ausschreitungen. Daraufhin gab es eine massive Auswanderung nach New York und Curaçao, wo neue Gemeinden gegründet wurden. Erst 1773 kamen die Juden langsam zurück, nachdem ein königliches Dekret die Diskriminierung der Juden aufgehoben hatte. Der Zuzug wurde im Jahre 1822 stärker, als Brasilien seine Unabhängigkeit erlangte. Ende des 19. Jahrhunderts, mit dem Anstieg des Antisemitismus in Europa, dachten schon zahlreiche Juden an Auswanderung: Unter anderem entstand auch die Idee, landwirtschaftliche Siedlungen in Brasilien zu gründen. Der erste Versuch scheiterte, und ab 1922 gab es bereits antisemitische Regierungsdokumente gegen eine jüdische Einwanderung:

1930 kommt dann Getúlio Vargas durch einen Putsch an die Macht und regiert das Land 18 Jahre.

Faschist – Hitlerverehrer und Judenhasser
WM-Vorbereitungen. José Fortunati, der Bürgermeister von Porto Alegre, im Fußballdress der SiBRA, der Sociedade Israelita Brasileira.
WM-Vorbereitungen. José Fortunati, der Bürgermeister von Porto Alegre, im Fußballdress der SiBRA, der Sociedade Israelita Brasileira.

„Dieser Teil der Geschichte wird vergessen, unterdrückt, zensiert – da türmen sich Barrieren auf“, betont die angesehene Historikerin Maria Luiza Tucci Carneiro von Brasiliens größter Bundesuniversität in São Paulo. Sie ist Getúlio-Vargas- und Antisemitismusforscherin, mit zahlreichen Buchveröffentlichungen. „Vargas hielt engste Beziehungen zu Nazideutschland, kooperierte mit der Gestapo, die seine politische Polizei ausbildete. Man redet heute nicht über jene Geheimdekrete, mit denen Vargas Einreisevisa für bedrohte, verfolgte Juden verbot – der sichere Tod für viele von ihnen in den Konzentrationslagern“, berichtete die Wissenschaftlerin dem langjährigen deutschen Korrespondenten und ausgewiesenen Brasilien-Experten Klaus Hart. „Allein für Deutschland habe ich bisher über fünftausend abgelehnte Visaanträge dokumentiert – und es sind noch viel mehr“, erzählt Maria Carneiro, „auch polnischen und österreichischen Juden wurde die Einreise verweigert. Man redet heute nicht über die Mitverantwortung Brasiliens an der Judenvernichtung. Vargas förderte die Ausbreitung der NSDAP in Brasilien, ließ Nazi-Instrukteure ins Land, die auch an den deutschen Schulen indoktrinierten.“
Die Historikerin zitiert aus Dokumenten, in denen Juden als „gefährliche Subjekte“ definiert werden: „Schuld daran sind auch brasilianische Diplomaten in Europa, die stets radikal antisemitistisch argumentieren und der Regierung empfehlen, die Pforten für Juden zu schließen.“ Ab 1933 betreibt Vargas bereits eine starke Annäherung an Hitlerdeutschland, gleichzeitig nimmt die Repression gegen linksgerichtete Juden zu, und die jüdischen Gemeinden werden immer stärker überwacht. Zwischen 1935 und 1938 kann die Vargas-Expertin Carneiro allein für den Teilstaat São Paulo zweiunddreißig Fälle von Juden nachweisen, die als „unerwünschte Elemente“ aus dem Land mussten, nach Deutschland, Litauen, Russland, Rumänien zurückkehrten – wo sich ihre Spur verliert.

„Bereits 1936“, schreibt Klaus Hart, „erscheint das erste Geheimdekret gegen jüdische Einwanderung. Viele brasilianische Juden versuchten ihre Verwandten aus Deutschland nachzuholen, doch Visa wurden stets abgelehnt. „Man weiß, dass solche Antragsteller in Deutschland daraufhin verhaftet wurden und im KZ endeten.“ Erst 1942 bricht Diktator Vargas mit Nazideutschland, um nicht auf der Verliererseite zu stehen. Unter schwierigen Bedingungen hält er sich von 1950 bis 1954 an der Macht, begeht aber dann Selbstmord.
Trotz all dem konnten sich zwischen 1933 und 1945 tausende deutsche Juden nach Brasilien retten. Bis heute bilden sie eine sehr aktive Gemeinschaft: Sie pflegen die deutsche Sprache und ihren starken Zusammenhalt. Die Anzahl der deutschsprachigen Emigranten in Lateinamerika insgesamt schwankt zwischen 90.000 und 120.000. Nach Argentinien (45.000) war trotz allem Brasilien das Land, in dem die meisten Flüchtlinge aufgenommen wurden, schätzungsweise 25.000.

Stefan Zweig

Das deutschsprachige Exil in Brasilien ist untrennbar mit dem Namen Stefan Zweig verbunden, war er doch der prominenteste Flüchtling des Nationalsozialismus in diesem Land.

„Wir sind heute glücklich übersiedelt. Es ist ein ganz winziges Häuschen, aber mit großer gedeckter Terrasse und wunderbarem Blick, jetzt im Winter reichlich kühl und der Ort so schön verlassen wie Ischl im October oder November. Aber endlich ein Ruhepunkt für Monate, und die Koffer werden eben auf langes Niemehrwiedersehen verstaut“, schreibt Stefan Zweig an seine erste Frau Friderike am 17. September 1941.

„Endlich ein Ruhepunkt für Monate, und die Koffer werden eben auf langes Niemehrwiedersehen verstaut.“ Stefan Zweig

In einem Hochtal des Küstengebirges, 813 Meter über dem Meeresspiegel, liegt das Haus, in dem Stefan Zweig und seine zweite Frau Lotte fünf Monate bis zu ihrem gemeinsamen Freitod in der Nacht vom 22. zum 23. Februar 1942 wohnten. Die kleine Kaiserstadt Petrópolis in der Nähe von Rio de Janeiro wurde durch diese verzweifelte letzte Tat des in Österreich geborenen Autors weltberühmt. Der Selbstmord wurde für viele zum Symbol der Aussichtslosigkeit in düsteren Kriegszeiten. Das Haus, in dem Zweig seine Autobiografie Die Welt von gestern überarbeitete, sowie die Schachnovelle und seinen Essay über Montaigne entwarf, wird erst seit 2012 als Museum geführt: Es erinnert an Stefan Zweig und viele andere Exilanten, die in Brasilien ihre neue Heimat fanden und hier nicht nur im Zeitraum von 1933 bis 1945 in Kultur, Wissenschaft und Kunst ihre Spuren hinterließen.

Initiator dieses einzigartigen Museums ist Alberto Dines, Journalist und Filmemacher, der gemeinsam mit Freunden Zweigs das Haus gekauft und renoviert hat. Alberto Dines war acht Jahre alt, als Stefan Zweig 1940 für eine Lesung seine Schule besuchte: die jiddisch-brasilianische Volksschule „Sholem Aleichem“ in Rio de Janeiro. Ein Foto von Zweig, versehen mit einer Widmung, hing im Arbeitszimmer von Dines’ Vater, einer Persönlichkeit der jüdischen Gemeinde in Rio. Zur Bar Mitzwa schenkten ihm die Eltern die Gesammelten Werke Zweigs. Als Dines 1980 von seiner Zeitung entlassen wurde, weil er sich nicht an die Zensurgebote der Militärdiktatur gehalten hatte, folgte er dem, was er als innere Bestimmung empfand: Er schrieb Zweigs Biografie, Tod im Paradies. Der 82-Jährige freute sich auf die Fußballweltmeisterschaft ebenso wie Millionen seiner Landsleute. ◗

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