Claude Lanzmann hat mit Der Letzte der Ungerechten einen imposanten Film über Theresienstadt vorgelegt. Basis sind Gespräche mit dem „Judenältesten“ Benjamin Murmelstein. Eine zweispältige Angelegenheit. Von Alexia Weiss
Der Führer schenkt den Juden eine Stadt: Belegt ist dieser Filmtitel nicht, aber er wird seit Jahrzehnten kolportiert, quasi als Schattentitel des 1944 gedrehten Nazi-Propagandafilms Theresienstadt. Der wie eine Dokumentation gestaltete Streifen sollte das angeblich gute Leben im Ghetto Theresienstadt zeigen. Ein Hohn, wenn man weiß, was sich tatsächlich dort abgespielt hat.
Und was sich dort abgespielt hat, das erfährt man dieser Tage im Kino, dann, wenn man sich überwindet und sich den fast vierstündigen Film Der Letzte der Ungerechten von Claude Lanzmann ansieht. Hier geht es um Theresienstadt. Es geht aber vor allem um einen Mann: Benjamin Murmelstein. Der Wiener Rabbiner, der zunächst in Wien für die Deportationslisten zuständig war und später von den Nazis in Theresienstadt als „Judenältester“ eingesetzt wurde. Lanzmann arbeitete in den 1970er-Jahren an seinem Film Shoah. Dafür führte er auch eine Woche lang Gespräche mit Murmelstein, der damals in Rom lebte. Doch schließlich integrierte er diese Aufnahmen nicht in Shoah.
Mehr als 40 Jahre später hat Lanzmann, selbst Holocaust-Überlebender und in der NS-Zeit in der Résistance aktiv, das in Rom aufgenommene Interviewmaterial zu einem eigenständigen Film verarbeitet. Der Film ist schwierig, ist Murmelstein doch gerade in Wien bis heute nicht unumstritten. Als Leiter der „Auswanderungsstelle“ in der Seitenstettengasse war er der Verbindungsmann der Nazis und kommunizierte als solcher auf Augenhöhe mit Adolf Eichmann. „Eichmann hat bei mir Auswanderung studiert“, so Murmelstein. Er erhielt die Befehle und führte sie aus. Zunächst in Wien, später eben als „Judenältester“ in Theresienstadt.
Aber auch der Regisseur ist schwierig, in Interviews rasch ungehalten. Der Letzte der Ungerechten war im Rahmen der Viennale erstmals in Österreich zu sehen, inzwischen läuft er auch in den Kinos. Von der Aufnahme bei der Viennale zeigte sich Lanzmann enttäuscht. Gegenüber dem ORF sagte er danach: „In New York gab es standing ovations ohne Ende. Auch in Cannes. Für Österreicher ist es vielleicht ein bisschen schwieriger, diese Zeit in Erinnerung zu rufen.“
Aber vielleicht war das Publikum, gerade in Wien, einfach sehr betroffen. Da spricht ein Rabbiner, trotz seines bereits Jahrzehnte währenden Exils in Rom in schönstem Wienerisch über die grausame Vergangenheit. Da geht es über weite Strecken auch um die Wiener jüdische Gemeinde. An eine 90-jährige Frau wollte er „keine Schiffspassage mehr verschwenden“. Wären standing ovations hier wirklich angebracht gewesen?
Der Film
Lanzmann montiert das Interviewmaterial aus den 1970er-Jahren mit Aufnahmen von heute, in denen er verschiedene Stationen besucht. Neben Wien ist das zum Beispiel der Bahnhof von Bohusovice. Lanzmann steht auf dem Bahnsteig, spricht zu den Zuschauern, erklärt, es donnern Züge vorbei. Der Führer hat den Juden eine Stadt geschenkt. „Was für ein Geschenk!“, ruft Lanzmann aus.
Den ersten Blick, den man auf Murmelstein macht, ist von hinten. Groß rückt die Kamera einen faltigen, fettgeschoppten Nacken ins Bild. Soll das die Richtung dieses Films vorgeben? Das Urteil über ihn vorwegnehmen?
Nein, sagt Lanzmann in einem Gruppen-Interview in Wien, an dem auch wina teilnahm. „Ich wollte nichts verstecken. Er hatte einen sehr faltigen, fetten Nacken.“ Ist Murmelstein ganz im Gegenteil ein Held für ihn gewesen? Nein, sagt er auch hier, „definitiv nicht“ – in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung hatte er im Mai dazu noch erklärt: „Ich habe eine Woche lang gedreht, und mir wurde bewusst, dass Murmelstein klug, erfinderisch, mutig – ja, ein Held war.“ Insgesamt ist dem Regisseur nicht viel zu entlocken. Doch man war vorgewarnt: Das Nachrichtenmagazin profil hatte kurz vor dessen Wien-Besuch schon eine ähnliche Interviewsituation geschildert.
Immer wieder ist in Der Letzte der Ungerechten davon die Rede, was man zu welchem Zeitpunkt wissen konnte. Wusste Murmelstein von den Gaskammern? Hat er schlicht die Zeichen nicht erkannt, nicht richtig interpretiert?
Frage an Lanzmann: Wann hat er selbst von Auschwitz, von den Gaskammern erfahren. Der Regisseur mag diese Frage nicht. „Warum fragen Sie mich das? Ich war ein junger Mann, ich war ein Kämpfer und ich habe Deutsche umgebracht. Vielleicht habe ich auch Österreicher umgebracht. Okay?“
Fakt ist: Lanzmann ist hier ein bewegendes Filmdokument gelungen, bei dessen Betrachtung es einem nicht gut geht. Nicht im Kinosessel und nicht danach. Murmelstein ist witzig, eloquent, hat ein schelmisch-sympathisches Lachen, und vielleicht lässt einen das umso entsetzter zurück, denn das, was er zu erzählen hat, passt einfach nicht zusammen mit seinem Naturell. Und auch nicht die Art, wie er erzählt, so technokratisch, bürokratisch.