Gelebte Vielfalt

Müsste man die Person Ester Rada (*1985) mit einem Wort beschreiben, wäre „Vielfalt“ bestimmt keine schlechte Wahl. So zeigt sich ihre Musik aus Versatzstücken diverser Genres zusammengesetzt, ihre Band selbst spiegelt die Heterogenität der israelischen Gesellschaft wider, und die Mittel ihrer künstlerischen Expression reichen von Schauspiel bis Musik. Doch „Vielfalt“ umschreibt nicht nur ihre Kunst, sondern auch ihre Lebensgeschichte zwischen unterschiedlichen Mentalitäten, die sie zu verbinden sucht.

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© Daniel Shaked

Geboren wird Ester Rada in der israelischen Siedlung Qiryat Arba als Tochter äthiopischer Einwanderer, die infolge der Operation Moses 1984 nach Israel kommen. Von früh an lebt Rada zwischen den Kulturen, zwischen den Mentalitäten. „Es gibt so viele Unterschiede zwischen der äthiopischen und israelischen Mentalität. Das sind zwei verschiedene Welten“, erzählt Rada im Gespräch mit WINA, das im Rahmen ihres Konzerts beim Festival der jüdischen Kultur in Wien stattfindet.

Diese Welten beziehen sich beispielsweise auf die Sprache. In ihrer Familie wird Amharisch gesprochen, in der Schule hingegen Hebräisch. Die Musik, die Ester Rada als Kind abseits der Synagoge hört, ist ebenfalls traditionell äthiopisch, moderne Popmusik steht in Qiryat Arba nicht auf der Tagesordnung. Eine Erfahrung, die Ester Rada erst mit einem Umzug nach Netanja machen kann. Dort flimmert MTV über den Bildschirm, eine neue Welt voll von amerikanischen Soul- und R’n’B-Künstlern eröffnet sich.

Anders als in Qiryat Arba, wo Rada hauptsächlich innerhalb der äthiopischen Community verkehrt, bietet Netanja die Möglichkeit einer Erfahrung mit anderen Musikkulturen: Rada kommt durch ihre Nachbarn in Kontakt mit russischer und marokkanischer Musik, Letztere sollte sie auch später in ihren eigenen musikalischen Klangteppich einweben.

Zwischen verschiedenen Welten. Dass Musik ihre große Leidenschaft ist, wird bereits in den Teenagerjahren klar. Eine wichtige Etappe zur Ausformung ihrer Künstlerpersönlichkeit stellt ein Treffen mit Kutiman dar, eine namhafte israelische Produzentengröße im Bereich des Hip-Hop und R’n’B. Kutiman feiert in den 2000er-Jahren große Erfolge mit Sängerin Karolina, die einen ähnlichen musikalischen Zugang aufweist wie Rada: „Karolina hat mich stark beeinflusst. Deswegen wollte ich Kutiman bei meinem Projekt dabei haben. Er ist einfach der Beste in diesem Bereich.“

Doch nicht nur Kutiman, mit dem sich in der Folge tatsächlich eine künstlerische Beziehung ausformen soll, bestärkt Ester Rada in ihrem Vorhaben einer musikalischen Karriere. Ein Konzert der Ethio-Jazz-Legende Mulatu Astatke in Tel Aviv, dem sie im Alter von 20 Jahren beiwohnt, hinterlässt große nachhaltige Wirkung: „Es war unglaublich. Ich hörte zum ersten Mal traditionelle äthiopische Musik gemischt mit Jazz. Das war genau mein Sound, so sollte meine Musik klingen. Ich war überwältigt.“

Ihre Leidenschaft für Musik lebt Rada auch in der israelischen Armee aus, sie überzeugt in den Castings und wird Sängerin in einer Militärband. Als prominenter Juror fungiert unter anderem Idan Raichel, dem die große musikalische Begabung von Rada nicht verborgen bleibt. Im Gegenteil: Raichel fragt später an, ob sie nicht in seiner Band mitspielen will. Doch ihr Entschluss ist gefällt, Ester Rada verfolgt einen anderen Karriereplan: Sie will auf eigene Faust, in Form eines eigenen Projektes durchstarten.

Ȁthiopische Musik gemischt mit Jazz.
Das war genau mein Sound,
so sollte
meine Musik klingen.«
Ester Rada

Auf eigene Faust. Die Zeit in der Armee ist nicht nur von Musik geprägt. Auch mit der Schauspielerei kommt sie in Berührung, die von da an eine immer prominentere Rolle in ihrem Leben einnimmt. Ester Rada brilliert in Theaterstücken und ist regelmäßig im israelischen TV zu sehen. Doch trotz des großen schauspielerischen Erfolges verschiebt sie immer stärker den Fokus Richtung Musik. „Ich wollte immer Musikerin werden. Musik gibt mir Freiheiten, die ich als Schauspielerin nicht haben kann. Es war für mich immer klar, dass ich die Musik nicht vernachlässigen werde.“

2013 erscheint die EP Life Happens, die 2014 zum Debütalbum ausgeweitet wird. Die Musik zeichnet sich als eklektischer Mix aus Afro-Jazz, Soul, R’n’B sowie Funk aus, die Kritiker im In- und Ausland zeigen sich begeistert, Bookings bei großen Festivals folgen. Nach einer weiteren EP im Jahr 2015 begibt sich Ester Rada in die Wüste Negev, um in einem dortigen Kibbuz in Jam-Atmosphäre den zweiten Teil der Calo Woods-Reihe des Tel Aviver Produzenten Rejoicer sowie des Saxophonisten Eyal Talmudi aufzunehmen. Innerhalb von nur zwei Tagen werden zehn Songs fertiggestellt, die als perfekte Überbrückung zum nächsten großen Projekt dienen.

2017 legt Ester Rada schließlich ihr zweites Soloalbum Different Eyes vor, die Prüfung des popkulturell als schwierig eingestuften zweiten Albums meistert sie mit Bravour. Fehlt es dem Debüt noch an einem durchgängigen roten Faden, überzeugt der zweite Longplayer mit einer kohäsiveren Soundgestaltung. Die Stile sind weiterhin vermischt, aber alles wirkt weniger experimentell als zuvor, ist wesentlich ausgereifter.

Thematisch greift Rada auf Different Eyes immer wieder das Sujet von Beziehungstrennungen auf, welches sie mit ihrer charismatischen Stimme eindrücklich behandelt. Ohne Zweifel: Different Eyes ist das bestmögliche zweite Album, das Rada überhaupt produzieren hätte können.

Sprachrohr? Lieber nicht. Nach dem Album erfüllt sich Ester Rada einen lang gehegten Wunsch, wird ihr Traum, nach Äthiopien zu reisen, endlich wahr. Im Mai 2018 begleitet sie die Delegation des israelischen Präsidenten nach Addis Abeba. In einem dortigen Radiointerview wird ihr zum ersten Mal bewusst, welche Popularität ihre Musik im Heimatland ihrer Eltern genießt. Damit gehen Fragen hinsichtlich der eigenen Verantwortung einher. Ist Ester Rada ein Sprachrohr der äthiopischen Community in Israel? Eine Verantwortung, die sie im Gespräch verneint: „Ich bekomme diese Rolle verhängt, obwohl ich sie selbst nicht übernehmen will. Das Ziel meiner Musik besteht schließlich darin, Leute zusammenzubringen, zu vereinen. Das will ich erreichen.“ Ihre gelebte Vielfalt, die weit über die Musik hinausgeht, ist dafür sicher der optimale Zugang. 

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