Das sozialistische Wirtschaftsmodell Kibbutz hat in seinen mehr als 100 Jahren drastische Veränderungen erfahren. Aus kargen landwirtschaftlichen Kommunen sind moderne, vielfältige Formen des Arbeitens und Lebens geworden. Von Reinhard Engel
Die Anfänge waren brutal. „Der Körper ist zerschlagen, der Kopf schmerzt, die Sonne brennt und schwächt uns.“ So schrieb einer der Pioniere des ersten Kibbutz, Degania Alef, über die Plackerei der ersten Jahre. Es waren zehn Männer und zwei Frauen, die im Jahr 1910 im Süden des Sees Genezareth unweit des arabischen Dorfs Umm Juni eine kleine landwirtschaftliche Gemeinde gründeten. Sie stammten aus Osteuropa, aber sie wollten ihre Arbeit und ihr Zusammenleben anders organisieren, als sie das von den Dörfern zuhause kannten: Alles sollte allen gemeinsam gehören, jeder dasselbe bekommen, welche Arbeit er oder sie auch verrichtete. Wirtschaftliche Entscheidungen sollten stets in einer Versammlung aller Mitglieder fallen, nach ausführlichen Diskussionen.
Nicht alle Gründer hielten in Degania die Anfangsjahre durch, immer wieder gab es Krankheiten, manche gaben auf und zogen weiter. Dennoch zählte der Kibbutz im Jahr 1914 fünfzig Mitglieder. Und er existiert noch heute, freilich in grundlegend gewandelter Form.
Es gab zahlreiche Gründe für die Neueinwanderer aus Europa, sich in Israel in derartigen Gemeinschaften zusammenzuschließen. Einer davon war die Ideologie: In der zweiten und dritten Alija ab 1904 bis etwa 1923 kamen mittel- und osteuropäische Juden nach Palästina, die eine sozialistische Gesinnung hatten und diese auch verwirklichen wollten. Zwar verfügten die meisten von ihnen über keine Kenntnisse der Landwirtschaft, aber sie wollten auf dem Land leben und davon, was es hergab. Zu ihrer Ideologie gehörte nicht nur der Gedanke der Gleichheit untereinander, man wollte auch niemand von außen beschäftigen und ausbeuten, sondern die notwendigen Arbeiten alle selbst erledigen, die angenehmen wie die unangenehmen. Die Ablehnung eines bourgeoisen Lebensstils betraf aber nicht nur die Produktionsmittel, die allen gehören sollten. Man wollte auch gemeinsam leben, essen, die Kinder erziehen. Freilich war dies nicht ausschließlich der Theorie geschuldet, es kam in Zeiten extremer Knappheit an Mitteln natürlich billiger, eine gemeinsame Küche zu betreiben, ein gemeinsames Kinderhaus ebenso wie eine Bade- oder Duschhütte. Die Wohnmöglichkeiten waren äußerst bescheiden, nur wenige Quadratmeter pro Person oder Paar.
Die Kibbutzim der Jahre vor der Staatsgründung erfüllten aber noch andere Funktionen. Eine davon war die Sicherheit. Zwar hatte der jüdische Nationalfonds die Grundstücke, auf denen die landwirtschaftlichen Gemeinschaften errichtet wurden, korrekt von arabischen Eigentümern gekauft, dennoch kam es immer wieder zu Überfällen aus den benachbarten Dörfern. Und im Unabhängigkeitskrieg sollten die Kibbutzim dann auch eine wichtige Rolle spielen. Weiters lieferten sie einen entscheidenden Beitrag zur Ernährung der Bevölkerung, und schließlich ermöglichten sie es, viele Neueinwanderer außerhalb der Städte relativ schnell einzugliedern.