„Gemeinsam die Stimme für Europa erheben“

Die Ärztin und Medizinforscherin Brigitte Landesmann arbeitet an einem EU-Forschungszentrum in Norditalien und engagiert sich für die politische Zukunft Europas.

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© Ronnie Niedermeyer

Ihre Tante war die Malerin Charlotte Salomon. Wie wird ihr Leben und Wirken heute rezipiert?
Vielleicht kurz zur Geschichte: 1939 wurde die damals 22-jährige Kunststudentin von Berlin in die vermeintliche Sicherheit nach Südfrankreich zu ihren Großeltern geschickt. Dort lernte sie meinen Onkel Alexander kennen, der von Wien aus ebenfalls dorthin geflohen war. Ich konnte leider weder Charlotte noch meinen Onkel kennenlernen, da beide 1943 nach Ausschwitz deportiert und dort umgebracht wurden. In der Zeit des Exils schuf Charlotte einen beeindruckenden, avantgardistischen Bilderzyklus von hunderten Gemälden mit Texten und Musik-Hinweisen, den sie einem Menschen ihres Vertrauens überließ. Ihre Eltern konnten versteckt in Amsterdam überleben. Nach dem Krieg spürten sie Charlottes Werk in Villefranche auf und überließen es dem jüdischen Museum in Amsterdam. 1961 gab es dort eine erste Ausstellung, der in den 1980ern und -90ern weitere in Israel, den USA, Paris, und London folgten. Trotzdem blieb Charlotte weitgehend unbekannt. Erst seit der Jahrtausendwende wird ihr zunehmend breitere Aufmerksamkeit zuteil. Es gab einige filmische Dokumentationen ihres Lebens; auch Bücher über sie werden immer zahlreicher. 2014 inszenierte Luc Bondy bei den Salzburger Festspielen eine Oper über ihr Leben, anschließend gab es eine Ausstellung im Museum der Moderne. In Wien wurden ihre Werke bisher leider noch nicht gezeigt, aber vielleicht gelingt es noch. Ich werde mich weiter darum bemühen. Vorerst freut es mich sehr, dass nächstes Jahr am 4. März im Rahmen der jüdischen Kulturwoche eine Lesung mit Musik über Charlottes Leben und Werk geplant ist.

»Aus der geplanten einjährigen Auszeit
sind siebzehn Jahre geworden.«


WINA: 1978 gingen Sie an das Kaiser-Franz-Josef-Spital, bis 2002 arbeiteten Sie dort als 1. Oberärztin der Kardiologie. Was bewog Sie, diesen sicheren Job aufzugeben und an einem Forschungsprojekt in Italien mitzuarbeiten?

Ich war begeisterte Ärztin, habe gerne im KFJ gearbeitet und setzte mich dort Anfang der 1990er-Jahre für die Schaffung der dringend nötigen kardiologischen Abteilung ein. Trotzdem haben mich auch Alternativen gereizt: Ich machte Zusatzausbildungen, beteiligte mich an humanitären medizinischen Einsätzen und nahm an einem Austauschprogramm der European Hospital Federation teil. Nach dem EU-Beitritt Österreichs absolvierte ich das Auswahlverfahren für die Tätigkeit an einer EU-Institution. 2002 nahm ich das Stellenangebot im medizinischen Dienst des Joint Research Centre der Europäischen Kommission in Ispra an. Dort wechselte ich nach einiger Zeit an ein wissenschaftliches Institut, wo an der Abteilung für Systemtoxikologie ein(e) Mediziner(in) für das multidisziplinäre Team gesucht wurde. Die wissenschaftliche Arbeit in einem großartigen internationalen Team hat mich sofort fasziniert, und aus der geplanten einjährigen Auszeit sind es dann siebzehn Jahre geworden.

Welchen Fokus hat das Joint Research Centre, und womit befasst sich Ihre Abteilung?
Das JRC ist der wissenschaftliche Dienst der Europäischen Kommission und auf sechs verschiedene Standorte in fünf europäischen Ländern verteilt. Aufgaben sind die unabhängige und faktenbasierte Beratung der Kommission, die Koordination und Mitarbeit in internationalen Forschungsprojekten sowie die Zusammenarbeit mit anderen internationalen Organisationen, unter anderem zur Ausarbeitung internationaler Standards. In Ispra befinden sich mehrere Institute mit verschiedenen Aufgaben. Meine Abteilung befasst sich mit Chemikaliensicherheit und führt das Referenzlabor der EU für Alternativen zu Tierversuchen.

Das Forschungszentrum ist in der Lombardei situiert, einer Region, in der die ultra-nationalistische „Lega“ beliebt ist. Da treffen zwei Welten aufeinander …
Das JRC liegt in der lombardischen Provinz Varese, wo die Lega nach wie vor besonders stark und die Bevölkerung konservativ und skeptisch gegenüber Ausländern eingestellt ist. Dennoch herrscht ein gutes Einvernehmen zwischen dem Forschungszentrum, das mit seinen rund 1.800 Mitarbeitern auch ökonomische Bedeutung für die Region hat, und den umliegenden Gemeinden. Kultureller Austausch und gemeinsame Projekte werden gefördert. Für mich überraschend war, dass es in Varese und Umgebung sehr aktive pro-europäische Initiativen gibt, allen voran die Europäische Föderalistische Bewegung mit vielen jungen und engagierten Mitgliedern. In Kooperation mit dieser Gruppe, dem Bürgermeister und einer lokalen zivilgesellschaftlichen Organisation war es möglich, an dem vom European Democracy Lab initiierten European Balcony Project teilzunehmen. Am 10. November 2018 wurde in Varese zeitgleich mit über 150 anderen europäischen Gemeinden das Manifest für eine europäische Republik vom Balkon des Rathauses verlesen. Vor der Europawahl 2019 wurde von dieser Kooperation gemeinsam mit dem JRC, der europäischen Schule in Varese sowie den Bürgermeistern 42 weiterer Gemeinden ein
Walk4Europe quer durch Varese veranstaltet. Trotz regnerischen Wetters wurde es eine beeindruckende pro-europäische Manifestation, die auf großes Interesse traf.

Sie sind selbst eine große Anhängerin der EU und unterstützen die paneuropäische Bewegung „Volt“, die auch in Österreich vertreten ist. Was sind deren Ziele?
Europa, das sind wir alle – aber leider wird das nicht von allen auch so gesehen. Die Europäische Union ist ein großartiges Projekt, um dessen Fortbestand und Weiterentwicklung wir alle uns bemühen müssen. Viele Menschen sind sich der Vorteile nicht bewusst, die sie bringt. Die Coronakrise hat auch gezeigt, wie rasch die einzelnen Regierungen wieder in egoistische nationale Muster zurückfallen, anstatt gemeinsame und effizientere Strategien zu entwickeln. Als ich wieder zurück nach Wien kam, suchte ich vergeblich nach einer ähnlich aktiven pro-europäischen Gruppe, wie ich sie in Varese getroffen hatte. Umso erfreuter war ich, auf Volt zu stoßen – eine paneuropäische Partei, die eine europäische Demokratie etablieren und europäische Lösungen für lokale und globale Probleme finden möchte. Dank ihres Einsatzes haben diese engagierten jungen Leute es geschafft, genügend Unterschriften zu sammeln, um in einigen Bezirken für die Wiener Wahlen kandidieren zu können. Genau solche Menschen – die an Europa glauben und dieses Europa demokratisch verändern und mitgestalten wollen – sind für eine gemeinsame europäische Zukunft notwendig. Sie haben verstanden, dass die großen Probleme nicht auf nationaler Ebene gelöst werden können. Dafür bedarf es neuer Kräfte, da die meisten regierenden nationalen Parteien sich nicht auf länderübergreifende Kooperation einlassen wollen oder können. Wir, die wir auch an Europa glauben, sollten diese jungen Menschen ermuntern und unterstützen und gemeinsam die Stimme für Europa erheben.

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