Gerettet, verschwunden, erinnert

Julia Fröhlich und Tom Fogel forschen als Fellows am Wiener IFK zu jüdischem Leben zwischen Jemen und Griechenland. Was bleibt, was ist endgültig Vergangenheit?

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Foto: Reinhard Engel

WINA: Frau Fröhlich, Sie forschen derzeit vor allem zur Flucht griechischer Juden vor der Deportation durch die Nazis im Zweiten Weltkrieg. Erzählen Sie uns über die Ergebnisse Ihrer Forschung.
Julia Fröhlich: Ich arbeite hauptsächlich als Turkologin, aber ich befasse mich auch mit Holocaust-Studien und mit Griechenland. Hier habe ich mich vor allem mit einer Region im Süden beschäftigt, unmittelbar vor der türkischen Küste bei Izmir. Dort hat sich während des Zweiten Weltkriegs sehr viel abgespielt, es gab unterschiedliche Migrantenströme, aber auch vielfältige Geheimdienstaktivitäten. Schon ab 1941 hat es von Griechenland in die Türkei zivile Migration gegeben.

 

Damals waren die Grenzen noch offen?
JF Nein, das war schon heimlich. Die italienischen und deutschen Besatzer versuchten das zu unterbinden, aber es stellte keine militärische Priorität dar. Das erlaubte vielen Tausenden, aus Griechenland in die Türkei zu fliehen, die meisten von ihnen waren griechische Christen von den Inseln. Aber natürlich hat es auch Juden und Muslime gegeben. Man floh vor dem Hunger, vor der Besatzung, vor der Gewalt.

 

Das war 1941–1942?
JF Ja, und ab 1943 änderte sich das Bild. Da hatte die italienische Kapitulation bedeutet, dass es in Griechenland keinen sicheren Ort mehr für Juden gab. Das betraf vor allem die südlichen Inseln, wo die italienischen Truppen stationiert gewesen waren. Ich befasse mich mit dieser Fluchtbewegung von den südlichen Inseln in die Türkei. Diese Flüchtlinge hatten Hilfe von außen, von der jüdischen Gemeinde in der Türkei und auch von der Jewish Agency in der Türkei, ebenfalls von der Haganah und ihrem Geheimdienst.

„Man floh vor dem Hunger,
vor
der Besatzung, vor der Gewalt.“
Julia Fröhlich 

Wie viele Menschen wurden so gerettet?
JF Etwa 1.100 griechische Jüdinnen und Juden konnten fliehen.

 

Die großen Deportationen vom griechischen Festland waren damals schon durchgeführt?
JF Genau. Die Deportationen von Saloniki begannen im März 1943 und waren etwa im August abgeschlossen. Das heißt aber, dass auch unter den Flüchtlingen, die ich beschreibe, Juden aus Saloniki waren, die zuvor schon in den Süden geflohen waren, nach Athen und auf die Inseln.

 

Verzweiflung während der Deportation aus Ioannina nach Larissa, Griechenland. Von etwa 2000 Menschen haben nur 164
die Vernichtungslager überlebt. (c) Bundesarchiv, Bild 101I-179-1575-08 / Wetzel / CC-BY-SA 3.0 ; Benno Rothenberg /Meitar Collection / National Library of Israel / The Pritzker Family National Photography Collection / Israel State Archives / CC BY 4.0

Und blieben die Flüchtlinge dann in der Türkei, oder zogen sie weiter nach Palästina?
JF Der größere Teil von ihnen zog weiter nach Palästina, die Briten hatten mit den Türken vereinbart, dass sie die Flüchtlinge außer Landes transportieren würden. Die Türkei wollte sie nicht langfristig haben, selbst wenn die türkische jüdische Gemeinde sie zeitweilig unterbrachte. Aber die meisten blieben gerade einmal zwei Wochen, dann wurden sie in Züge gesetzt und nach Syrien in Flüchtlingslager gebracht, von dort nach Palästina.

 

Herr Fogel, Sie forschen über Juden im Jemen, auch über Juden, die heute noch im Jemen leben?
Tom Fogel: Seit dem Arabischen Frühling vor etwa zehn Jahren ist die verbliebene jüdische Population aus dem Jemen weitgehend emigriert.

 

Nach Israel?
TF Nein, eher weniger nach Israel. Eine größere Migrationswelle von dort – einige Tausend – hat es in den 1990er-Jahren gegeben. Nach dem Arabischen Frühling sind die jemenitischen Juden, die geblieben waren, in andere arabische Länder emigriert, aber auch in die USA.

 

In – damals – liberale arabische Länder?
TF Ja, nach Ägypten, in die Emirate, nicht nach Marokko oder Tunesien. Ich studiere vor allem kulturelle Aspekte von Juden in muslimischen Ländern, und meine Spezialität ist eben der Jemen. Ich betrachte dabei die Verbindungen zwischen Juden und Muslimen in diesen Orten.

 

Tom Fogel forscht zur Volkskunde und hat sich auf die Geschichte der ethnografischen Forschung im Jemen und die jüdische Kultur in jüdisch-arabischen Sprachen spezialisiert. Zu seinen Forschungsinteressen gehören ethnografische Perspektiven des Handwerks und der Musik. Er hat an der Hebräischen Universität Jerusalem promoviert und war Forschungsstipendiat an der Abteilung für jüdische Geschichte der Universität Tel Aviv.

In welchem Zeitraum?
TF Vor allem im 19. und 20. Jahrhundert. Ich habe wenig Material zur heutigen Zeit. Aber ich schreibe auch über heutige israelische Misrachi-Kultur, eben die Auswirkungen israelisch-arabischer Kultur im heutigen Israel.

 

Gab es vor dem großen jüdischen Exodus aus den arabischen Ländern 1948–1949 wirkliche Kohabitation, ein friedliches Zusammenleben?
TF Ihre Frage ist genau die Frage, die die Forscher die letzten 100 Jahre beschäftigt hat. Man kann einerseits sagen, die gesamte Geschichte der Juden in arabischen Ländern ist eine Geschichte der Einschränkungen, der Katastrophen und der Unterdrückung. Doch es gibt auch eine idyllische, utopische Art der Beschreibung der Lage. Die Wirklichkeit war irgendwo dazwischen und unterschied sich zudem von Ort zu Ort, von Zeit zu Zeit.

 

„Ich denke, es ist klar, dass das jüdische Leben
in Orten
wie Jemen oder Marokko so,
wie es einst war, nicht zurückkehren wird.“
Tom Fogel

 

Können Sie ein Beispiel dafür geben?
TF Im Jemen gab es große Unterschiede zwischen unterschiedlichen Gegenden. So lebten etwa im Norden Schiiten, im Süden Sunniten. Darüber hinaus ermöglichte das Leben in Stammesgesellschaften einen normaleren, pragmatischeren Alltag. Dort wurden die Scharia-Gesetze mit ihrer Unterdrückung der Juden nicht so strikt angewandt. Bei den Stämmen orientierte man sich eher am alltäglichen Zusammenleben zwischen Juden und Muslimen. Es gibt berühmte Fallbeispiele, wo Stammesführer einen Juden, der in seinem Umfeld lebte, vor einem rivalisierenden Stamm beschützte.

 

Sie haben auch Ihre kulturellen Forschungen erwähnt.
TF Kulturell haben Juden mehr als 1.000 Jahre in judeo- arabischen Dialekten geschrieben, gedacht, Kreatives geschaffen. Das hat einen großen Umfang an Literatur und Poesie hinterlassen, in arabischer Sprache, aber von Juden produziert.

 

Julia Fröhlich ist Doktorandin am Institut für Orientalistik der Universität Wien und DOC-Fellow der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (2023–2025). Sie forscht zu Flucht- und Migrationsphänomenen (insbesondere im Kontext des Holocaust), Trauma Studies sowie Gender- und Geschlechtergeschichte mit Bezug auf das Osmanische Reich und die Türkei. Beide sind derzeit Fellows am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK) der Kunstuniversität Linz in Wien.

Kommen wir noch einmal zu den Stammesgesellschaften zurück. Was war die ökonomische Stellung der Juden dort? Durften sie Vieh besitzen, oder waren sie nur Handwerker oder Händler?
TF Die Scharia-Gesetze verboten Juden Landbesitz. Daher waren Juden im Jemen vor allem Handwerker unterschiedlicher Art; am bekanntesten wurden sie als Silberschmiede, das war eine Art Eliteberuf für Juden. Aber im Süden gab es auch Juden, die Land besaßen.

 Direkt oder über muslimische Strohmänner?
TF Es spielte sich meistens so ab: Arabische Bauern schuldeten Juden Geld, und anstatt ihre Schulden mit Geld zu bezahlen, traten sie ein Stück Land ab. Einige Juden wurden auf diese Weise sehr wohlhabend. Die Bauern, die die Landwirtschaft betrieben, blieben aber immer Muslime.

 

Die Juden besaßen also das Land, aber sie hatten muslimische Bauern, die es bearbeiteten?
TF Ja, und es gab auch saisonale Wanderarbeiter auf den Farmen. Ein paar jüdische Familien galten sogar als „Kaffeekönige“, weil sie umfangreiche Kaffeeplantagen besaßen. Die meisten waren aber Handwerker, bis internationale Güter ins Land kamen und ihre Geschäftsbasis zerstörten. Dann wechselten viele Juden ins Handelsgeschäft, um ihr Leben zu finanzieren. In den 1920er- und 1930er-Jahren, in einer Zeit ökonomischer und politischer Instabilität, emigrierten viele Juden aus dem Jemen nach Palästina, aber auch muslimische Jemeniten verließen das Land in andere Regionen, nach Saudi-Arabien oder nach Ostafrika.

 

Jüdische Familie aus Jemen, auf dem Weg nach Israel, 1950. (c) Bundesarchiv, Bild 101I-179-1575-08 / Wetzel / CC-BY-SA 3.0 ; Benno Rothenberg /Meitar Collection / National Library of Israel / The Pritzker Family National Photography Collection / Israel State Archives / CC BY 4.0

Frau Fröhlich, Sie haben über Flüchtlingsströme von West nach Ost berichtet. Ab 1919 war es umgekehrt, als die türkische Armee Smyrna, das heutige Izmir, eroberte. Damals flohen griechische Christen, Juden und Armenier nach Griechenland. Bedeutete das damals schon das Ende der lokalen jüdischen Gemeinden?
JF Nein, es gibt auch heute noch in Izmir eine kleine jüdische Gemeinde. Aber die jüdische Gemeinde war schon in der Spätzeit des Osmanischen Reichs geschrumpft, aufgrund der schwierigen ökonomischen Lage. Während des Türkisch-Griechischen Kriegs gab es auch „Ethnic Cleansing“. In den 1920er- und 1930er-Jahren sehen wir auch keine wirkliche Erholung. Man arrangierte sich mit den neuen kemalistischen, nationalistischen Gesetzen. Man passte sich an, auf viel niedrigerem Niveau. Und wir sehen in dieser Zeit auch zionistische Aktivitäten und Emigration nach Palästina, allerdings nicht in großem Umfang. Das war dann später, in den 1950er- Jahren, nach der Gründung des Staates Israel und als sich das Klima für religiöse Minderheiten in der Türkei verschlechterte.

 

Und wie sieht es heute aus?
JF Die Gemeinde in Izmir, eine traditionelle Gemeinde, ist zwar klein, hat aber ein vibrierendes kulturelles Leben. Sie zeigen Menschen von außen: „Wir sind noch da, es gibt uns noch.“ Aber das Ganze spielt sich in sehr engen Limits ab, die der türkische Staat und die türkische Gesellschaft ihnen erlauben.
TF Ich möchte hier etwas hinzufügen: Ich sehe in den letzten Jahren einen Trend in arabischen und muslimischen Ländern, dass sich der Diskurs verändert. Man hört verstärkt, dass man sich an die früheren Minderheiten erinnert, an das Zusammenleben mit ihnen, nicht nur mit Juden, aber meist mit Juden. Man hört das etwa in Marokko, da spricht man öfter über die jüdische Vergangenheit des Landes. Ich höre Ähnliches sogar im Jemen, aber natürlich nicht im Bereich der Huthi-Regierung. Ich weiß nicht, ob das irgendwelche politischen Auswirkungen hat, aber in intellektuellen Kreisen und in Social Media gibt es diesen Diskurs. Im politischen Mainstream sehe ich es noch nicht.

 

Ist das mehr als nur eine romantische Fantasie?
TF Nicht unbedingt. In Marokko hat das sogar finanzielle Auswirkungen. Die touristischen Folgen der Präsentation ehemaligen jüdischen Lebens sind erheblich. Gruppen aus Israel kommen schon seit Jahren ins Land, lang vor den Abraham-Abkommen.

 

Sehen Sie beide eine Chance für neues jüdisches Leben in der arabischen Welt, oder wird man nur Geschäftsleute nach Dubai und Abu Dhabi fliegen sehen, später eventuell nach Saudi Arabien?
TF Ich weiß das nicht. Aber ich denke, es ist klar, dass das jüdische Leben in Orten wie Jemen oder Marokko so, wie es einst war, nicht zurückkehren wird. Einer meiner Lehrer bezeichnete die Situation früher als Symbiose zwischen arabischer und jüdischer Kultur. Das ist vorbei.
JF Ich möchte nicht über die arabische Welt im Allgemeinen sprechen, dafür bin ich keine Expertin. Aber was die Türkei betrifft, bin ich sehr skeptisch. Seit 2023 haben sich die Standpunkte massiv verhärtet; ich bezweifle wirklich, dass es eine Basis gibt für ein Revival.

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