Bei der Aufarbeitung der NS-Geschichte in Österreich wurde einiges schon geleistet. Aber vieles muss noch hinterfragt werden, sagt der Zeithistoriker Oliver Rathkolb im Gespräch mit Marta S. Halpert.
wina: Sie beschäftigen sich seit vielen Jahren mit der NS-Vergangenheit von österreichischen Künstlern. Ihr Buch „Führertreu und gottbegnadet – Künstlereliten im Dritten Reich“ erschien bereits 1991. Wie kam es zu diesem Interesse?
Oliver Rathkolb: Ich beschäftige mich mit der Frage der Wechselbeziehung von Künstlern mit totalitärer Politik seit 1980, insbesondere mit dem Nationalsozialismus. Der Zugang war „ein relativ“ zufälliger, denn ich hatte als Dissertationsthema amerikanische politische Propaganda nach 1945. Bei meinem Quellenstudium in den National Archives in Washington bin ich dort sehr schnell auf offen zugängliche Akten zur Frage der Entnazifizierung von Künstlern gestoßen. Ich habe diese Chance ergriffen, denn solches Material hätte ich in Wien nie bekommen: Noch Ende der 1980er-Jahre gab es im Haus-, Hof- und Staatsarchiv nur fein gesäuberte Akten, und zwar haben alle Dokumente gefehlt, wo das Wort Jude erwähnt wurde. Ich bin dann an dem Thema haften geblieben. Bereits 1985 hatte ich einen Auftrag vom Burgtheater, einen Artikel zum langen Schatten des Nationalsozialismus 1945–1955 zu schreiben. Seither versuche ich mit neuen Zugängen und aufgefundenem Material die Geschichte neu zu verhandeln.
wina: Zuletzt haben Sie sich mit der Geschichte der Wiener Philharmoniker während der NS-Zeit beschäftigt. Operndirektor Ioan Holender hatte 2008 mit der Ausstellung „Opfer, Täter, Zuschauer. 70 Jahre danach“ den Startschuss für eine kritische Aufarbeitung der NS-Zeit gegeben. Damals erzählte eine junge Historikerin, dass ihr der unbeschränkte Zugang zu den Philharmoniker-Archiven verwehrt wurde. Was hat sich seither geändert?
OR: Im Kontext der Ausstellung in der Oper ist die Debatte um die Wiener Philharmoniker wieder aufgeflammt. Dennoch muss man anerkennen, dass Clemens Hellsberg als Archivar des Historischen Archivs des Orchesters bereits 1992 in seinem Buch Demokratie der Könige den hohen Anteil an NSDAP-Mitgliedern des Orchesters thematisiert hat – zum Unterschied zu allen Büchern, die zuvor erschienen waren. Er versuchte überdies schon 1988, Opferlisten zu erstellen. Er dachte ähnlich wie wir Historiker: Es genügt, ein Buch zu schreiben, damit ist die Sache abgehandelt. Aber auch ich habe erkannt, dass wir unsere eigenen Arbeiten als Historiker für jede Generation neu positionieren müssen.