Goldgräberstimmung

Die Österreichische Historikerkommission arbeitete zwischen 1998 und 2003 den Vermögensentzug im Nationalsozialismus auf. WINA sprach mit Eva Blimlinger, der Forschungskoordinatorin der Kommission, über die Folgen der Ergebnisse.

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Eva Blimlinger: Die Historikerin ist seit 2011 Rektorin der Akademie der bildenden Künste in Wien. © Daniel Shaked

Interview mit Eva Blimlinger

WINA: Vor 20 Jahren haben Regierung und Parlament die Historikerkommission eingesetzt. Was hat dazu geführt?
Eva Blimlinger: Mehrere Faktoren. Im Sommer davor gab es vom US-Anwalt Ed Fagan die Klagsandrohung gegen die CA. Es lief die Zwangsarbeiterdebatte. Und da war dann die Forderung von Ariel Muzicant, der damals neu gewählt war als IKG-Präsident, den Vermögensentzug und die Rückstellung zu untersuchen.

Mit welchen praktischen Herausforderungen sah sich die Kommission bei ihrer Arbeit konfrontiert?
❙ Die größte Herausforderung am Beginn war, dass es nur eine sehr unvollständige Übersicht gab, welche Aktenbestände es überhaupt gibt. Und ich glaube, das ist auch eines der großen Verdienste der Historikerkommission, viele dieser Aktenbestände letztlich gefunden zu haben und auch ein sehr weitgehendes Bewusstsein hervorgerufen zu haben, dass Akten abgegeben werden und nicht vernichtet werden, und dass man aktiv nach Akten sucht. Jetzt haben wir die ganzen Akten zum ersten und zweiten Rückstellungsgesetz, die galten vorher als verschollen. Und dann die Akten zum Besatzungsschädengesetz, zum Kriegs- und Verfolgungssachschädengesetz, also alle möglichen Materien, die amtswegig behandelt worden sind.

Man hat also vorher vor allem nicht gewusst, wie viel da aufzuarbeiten sein wird.
❙ Genau. Man hat ja bei vielem geglaubt, das gibt es überhaupt nicht mehr, und dann hat sich herausgestellt, es liegt in Kellern. Die Opferfürsorgeakten waren zum Teil noch in der Registratur, zum Teil schon im Archiv. Und man wusste auch nicht, was in den Archiven selbst ist. Im Staatsarchiv hat es keine Übersicht gegeben, und relativ bald sind dann Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Kommission in die Depots, haben geschaut, was sich da findet, zum Beispiel die Vugesta-Bücher. Und dann war die große Herausforderung, all dieses Material tatsächlich zu bearbeiten. Haben wir eh nicht alles geschafft, manches nur mit Stichproben. Sonst hätten wir 15 Jahre gebraucht.

Kann man das aus rein wissenschaftlicher Sicht als Goldgräberstimmung bezeichnen?
❙ Total. Das war es absolut, Goldgräberstimmung auch bezüglich was alles aufgetaucht ist. Das wäre ohne Kommission nie passiert. Weil da ein öffentlicheres Bewusstsein war, weil Leute plötzlich gesagt haben, ich weiß, da liegen Akten, zum Beispiel in einem Palais. Da sind wir anonym angerufen worden. Mein Kollege und ich sind dann da runter in den Keller, da gibt es einen wunderbaren Spiegelsaal, dann ist man da durch, da waren so Kellergänge und wir sind da wirklich mit Taschenlampe und Mundmaske, im wahrsten Sinn also Goldgräberstimmung, Akten von Kraft durch Freude, aber dann auch vom AMS, wir haben alles Mögliche gefunden. Oft kam auch vor, dass kleinere Unternehmen angerufen und gesagt haben, wir haben da Akten, wo können wir die abgeben. Von diesen Beständen leben und arbeiten heute noch Historiker und Historikerinnen. In dieser Zeit hat auch die Kultusgemeinde begonnen, ihr Archiv überhaupt zu ordnen und aufzuarbeiten.

Es hat aber auch der Zeitfaktor eine Rolle gespielt.
❙ Es war klar, wir können uns nicht unendlich Zeit lassen. Und wir haben von Anfang an betont, das es nicht bedeuten kann, dass auf Ergebnisse gewartet und dann erst über Entschädigungen verhandelt wird.

© Daniel Shaked

Bewusstsein zu schaffen war neben dem Aufarbeiten und vor allem dem Finden verschollener Aktenbestände eine der wesentlichen Aufgaben der 1998 installierten Historikerkommission unter Forschungskoordinatorin Eva Blimlinger. Die Vermittlung von Fakten und Wissen ist auch 20 Jahre später noch aktuell und notwendig.

 

Es sollte eben nichts mehr in die Länge gezogen werden.
❙ Genau. Und wir haben ja auch bestimmte Materien sehr bewusst vorgezogen – Zwangsarbeit, Wohnungsarisierung. Für diesen Zeitraum, wo man gewusst hat, das dauert jetzt vier Jahre, war es auch nicht leicht, wirklich qualifiziertes Personal zu finden. Wir haben in Spitzenzeiten über 150 Mitarbeiter, Mitarbeiterinnen gehabt. Um sicher fertig zu werden, haben wir Zwischenberichte fixiert, die terminisiert waren. Diese Berichte sind kontinuierlich von der Kommission gelesen worden. Das war ein sehr intensives, aber auch ein sehr produktives Verfahren.

Rasch nötig waren Ergebnisse im Bereich Zwangsarbeiter und Entzug von Mietrechten. Da kamen auch bald politische Lösungen.
❙ Ja. Die politischen Lösungen wären ohne Blau-Schwarz, das muss man auch sagen, nicht gekommen. Aber Blau-Schwarz hat irgendwie etwas gebraucht, um es den Sanktionen entgegen zu setzen. Es ging vor allem darum, eine ungefähre Größenordnung zu haben, wie viel Geld man braucht, wenn man ehemaligen Zwangsarbeitern und Zwangsarbeiterinnen etwas zahlen will. Das ist ziemlich gut gegangen, weil es bereits viel Material gab und aus der Arbeit für Deutschland schon gute Rechenmodelle vorlagen. Und die Mietwohnungen waren deshalb vorrangig, weil das ein Gegenstand war, der bis dahin nie entschädigt worden war.

Mit dem Versöhnungsfonds wurden Zwangsarbeiter und -arbeiterinnen entschädigt, der Entschädigungsfonds konnte bei individuellem Vermögensentzug kontaktiert werden. Das waren die zwei großen praktischen politischen Projekte auf Basis der Arbeit der Historikerkommission. Was hat sich sonst noch an praktischen Umsetzungen abgeleitet?
❙ Zum Beispiel die Entschädigung von Roma und Sinti, das war eine Sache, die ein bisschen anders gelaufen ist, weil der individuelle Nachweis des Eigentums in der Form nicht möglich ist wie bei anderen Gruppen, weil die Sozialstruktur eine andere ist. Daher ist eine Individualrestitution nicht möglich. Das hätte bedeutet, dass Roma und Sinti eigentlich gar nichts kriegen. Jetzt haben aber die Berechnungen, insbesondere vom Gerhard Baumgartner, dazu geführt, dass die Verwertung des Viehs und der Wägen – wir sprechen immer von Roma und Sinti, die nicht sesshaft waren – beziffert werden konnten. Man hat letztlich eine Gesamtsumme ermittelt, die auf die einzelnen Roma-Vereine aufgeteilt wurde, die es dann weiterverteilt haben. Also eine andere Form der Rückgabe. Oder auch die ganze Entschädigung Kultusgemeinde-Vereine. Das ist ja auch letztlich mit einem Pauschalbetrag gemacht worden.

Das ist das, was dann unter Gemeindevermögen gelaufen ist.
❙ Genau. Dann hat es natürlich schon auch noch Novellen gegeben im Opferfürsorgegesetz, um eben Opferfürsorge nicht mehr nur von der Staatsbürgerschaft abhängig zu machen. Und dann diese ganzen Fragen des Pflegegelds, dass Pflegegeld auch ins Ausland gezahlt werden kann. Es hat nebst den drei großen Dingen wie Miete/Nationalfonds, Entschädigungsfonds und Versöhnungsfonds mehrere wichtige Maßnahmen gegeben, die auch Bezug genommen haben auf das Lebensalter der Opfer.

Inwiefern hat die Arbeit der Kommission auch die Zeitgeschichteforschung beeinflusst?
❙ Sie hat dadurch wirklich einen Schub gekriegt. Es ist methodisch sehr viel gezeigt worden. Und es ist durch diese Aktenfunde auch eine Grundlagenforschung geliefert worden, die, und das braucht man sich nur an Hand der Diplomarbeiten und Dissertationen anschauen, zu vielen weiteren Forschungen geführt hat. Und es hat, glaube ich, noch mehr bei den Juristinnen und Juristen gebracht. Es war wirklich zum ersten Mal so, dass es in der Kommission eine Interdisziplinarität zwischen Historikern und Juristen gegeben hat. Das war für mich persönlich eines der spannendsten Dinge, wie in zwei Disziplinen, die beide ein sehr großes Selbstbewusstsein und eine bestimmte Nomenklatura haben, Zusammenarbeit und Interdisziplinarität funktionieren, wenn der Wille und auch das Interesse dafür da sind. Das habe ich vorher nicht und nachher selten erlebt. Ich kann mich erinnern: Bei der Erstellung des Arbeitsprogramms ging es zum Beispiel um Begriffsklärungen. Und da ging es um die Begriffsklärung Täter. Für Juristen ist ganz klar, ein Täter ist nur der, der verurteilt worden ist. Sonst ist er ein mutmaßlicher Täter. Für Historiker ist das natürlich völlig unerheblich, ob er verurteilt wurde oder nicht. Die Diskussion darüber fand in einem sehr produktiven und ernsthaften Klima statt, und das war, glaube ich, eine ganz wesentliche Grundlage, dass das so gut funktioniert hat.

»Jetzt haben wir die ganzen Akten
zum ersten und zweiten Rückstellungsgesetz,
die galten vorher als verschollen.«
Eva Blimlinger

Wenn ich mir anschaue, was und wie viel in den letzten Jahren geforscht worden ist, hat die Arbeit der Kommissionen wohl maßgeblich dazu geführt, dass die Themen Nationalsozialismus und Entschädigung sowie Rückstellung nach 1945 einen viel größeren Platz in der wissenschaftlichen Arbeit eingenommen haben, als sie es vor der Kommission hatten.

Jetzt haben Sie etwas Interessantes gesagt, nämlich dass sich bei den Juristen mittlerweile auch Expertise aufgetan hat. Wie erklären Sie sich dann, was zuletzt am Juridicum – Stichwort: AGLeaks – passiert ist? Wenn es doch eigentlich inzwischen ein Bewusstsein dafür gibt?
❙ Na ja von einzelnen, ich würde nicht sagen von allen. Aber du kannst diesem neuen Bewusstsein natürlich auch ausweichen. Ich fürchte, die das dann machen in der AktionsGemeinschaft, gehen nicht in so eine Lehrveranstaltung. Wobei: Vom Juridicum weiß man es jetzt. Ich fürchte, es wird Ähnliches auch bei Historikerinnen und Historikern geben.

Der Kommissionsvorsitzende Clemens Jabloner schrieb in einem Beitrag 2003, dass es auch nach Vorliegen eines solch umfangreichen Berichts keinen Schlussstrich geben kann. Der Vermögensentzug ist aber nun – bis auf Fälle in der Kunstrestitution – abgearbeitet. Worin liegt inhaltlich der Beitrag der Historikerkommission zur Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus? Was hat die Arbeit auf einer breiteren Ebene bewirkt?
❙ Ich glaube, das ist ein bisschen das, wo man wahrscheinlich noch zwei Jahre dranhängen hätte müssen. Wir waren als Forschungskommission konzipiert, die Frage des Transfers oder der Vermittlung war überhaupt nicht im Fokus, weil natürlich die Absicht eine andere war – nämlich, Grundlagen zu schaffen. Wenn man noch zwei, drei Jahre Vermittlung angehängt hätte, um diese Meter an Berichten aufzubereiten, wäre es besser gewesen. Die Vermittlungsarbeit war zwar nicht wirklich die Idee hinter der Kommission. Es ist aber sicher ein Manko, dass hier zu wenig unmittelbar aus dem gemacht wurde. Es ist bereits einiges passiert, unter anderem im Rahmen von erinnern.at, aber sicher nicht strukturiert und sicherlich zu wenig.

Der Nationalsozialismus hat in Österreich sieben Jahre bestimmt und auf allen Ebenen ein Trümmerfeld hinterlassen. Jetzt gibt es diese riesige Arbeit von der Historikerkommission und auch andere historische Aufarbeitung, und dennoch hat man gerade jetzt in den sozialen Medien das Gefühl, wenn man da manchen Diskursen folgt, dass das Ausmaß der Verbrechen bei vielen Leuten noch immer nicht angekommen ist. Woran liegt das?
❙ Das wird nie ankommen. Es ist nur offensichtlicher durch die sozialen Medien, aber ich glaube nicht, dass sich das grundlegend geändert hat. Ich glaube, es gibt so viele Antisemiten, wie es Antisemiten gibt, und diese Vorstellung, dass du aus der Geschichte lernst, ist eine, die ich überhaupt nicht teilen kann. Wenn man aus der Geschichte lernen würde, gäbe es keine Kriege mehr. Ist einfach nicht so. Aber über die sozialen Medien kommt es wieder unverblümter heraus.
Und schauen Sie sich einzelne Abgeordnete der FPÖ an – da ist eine Frau Kitzmüller, die ist in zwei Mädelschaften, kommt aus einem absolut deutschnationalen Milieu, ihr war Vater in mehreren Vertriebenenverbänden, wo es also wirklich eine hermetisch andere Geschichtswahrnehmung gibt. Was man machen muss, ist dieser Wahrnehmung immer wieder entgegenzutreten und ständig die Wahrheit zu wiederholen: Es wurden sechs Millionen Juden ermordet. Es hat KZs gegeben.

Aber offenbar hilft das Entgegenhalten von Fakten auch nicht gegen Emotionalität. Also was hilft?
❙ Ja, das ist das Problem. Aber man darf sich davon nicht abbringen lassen. Man kann zwar sagen, wenn nichts hilft, dann ist es eh wurscht. Aber genau das ist es nicht: Wenn du viele Leute hast, die sich denken, na ja, vielleicht ist da doch etwas dran, und dann doch ein wenig nachlesen, ist schon wieder etwas gewonnen. Du hast ja viele, die in ihrer Meinung nicht entschieden sind, bei denen man nicht sagen kann, das sind jetzt Nazis, die aber von zu Hause hören: Die Russen haben alle vergewaltigt, wir haben Hunger gelitten, und die Juden waren in Amerika, denen ist es ja gut gegangen. Das sind Standardgeschichten. Und darum glaube ich, dass es schon wichtig ist, dass sie das in der Schule hören, dass sie das woanders hören, dass sie das in wohlgesetzter Form rational hören.

Wie erklären Sie sich, dass wir nach 1999/2000 jetzt wieder eine Regierung mit FPÖ-Beteiligung bekommen – mit noch mehr Burschenschaftern?
❙ Ich glaube, dass 80 Prozent der Menschen, die die FPÖ wählen, eigentlich keine Ahnung davon haben, was eine Burschenschaft ist. Die 20 Prozent, die es wissen und die sie genau deswegen wählen, sind aus meiner Sicht die Gefährlichen. Weil da frage ich mich manchmal, wollen die eigentlich einen „Anschluss“ an Deutschland? Wenn man sich da einiges durchliest, dann denkt man sich, morgen sind wir an Deutschland angeschlossen. Und die anderen wählen die FPÖ aus den verschiedensten Gründen. Weil sie für den Tierschutz sind, weil sie Raucherlokale wollen, weil sie etwas gegen Ausländer haben. Weil sie etwas dagegen haben, dass es den Ausländern besser geht als einem selber (was natürlich ein Blödsinn ist). Aber man muss schon sagen, dass die anderen Parteien, insbesondere die ÖVP, mit Obergrenzendiskussionen etc. dazu beigetragen haben, dass immer mehr Leute das auch glauben.

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