Mächtig und eindrucksvoll steht die grünlich schimmernde Bronzefigur eines französischen Hauptmanns mit abgeschlagenem Säbel im sonnendurchfluteten Innenhof des Musée d’art et d’histoire du Judaïsme in der Rue du Temple 71 im 3. Arrondissement von Paris. Die Skulptur des jüdischen Artillerie- Offiziers Alfred Dreyfus steht sinnbildlich für einen jüdischen Mann, dessen ungerechtfertigte Verurteilung 1894 wegen Landesverrats Frankreich innenpolitisch erschütterte. Die Welle der Entrüstung schwappte über ganz Europa.
Theodor Herzl, als Korrespondent für die Wiener Neue Freie Presse seit 1891 in Paris tätig, war Augenzeuge und Berichterstatter jener folgenschweren Ereignisse, die einen Wendepunkt in Frankreich und in der Geschichte der Juden in Europa darstellten. „L’Affaire“, mit der nahezu jeder französische Bürger die nachhaltigste Gesellschaftskrise der Dritten Republik assoziiert, klingt bis heute nach und stellt einen Markstein im kollektiven Gedächtnis dar, der nicht allein in der Grande Nation, sondern in ganz Europa das gesellschaftliche wie politische Bewusstsein schärfte.
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Bis 31. August 2025 ist im Jüdischen Museum von Paris, das sich im ehemaligen Hôtel de Saint-Aignan befindet, einer Schenkung von Präsident Jacques Chirac, die umfassende Ausstellung Alfred Dreyfus. Vérité et justice zu sehen: Anhand von über 250 Archivdokumenten, Fotografien, Filmauszügen sowie sechzig Kunstwerken, unter anderem von Eugène Carrière, Emile Gallé, Camille Pissarro und Eduard Vuillard, wird die Person wie auch die Affäre auf mehreren Stockwerken ausführlich vermittelt.

Rennes, Frankreich, 1899. © Musée du Barreau de Paris / mahj
Fast zwanzig Jahre nach der ersten Dreyfus- Ausstellung im mahJ betonen die Kuratoren der Schau, dass sie die Dreyfus-Story mit „ihm“ im Zentrum erzählen wollen: „Das gängige Image von Dreyfus, dass er so zurückhaltend und passiv war, wollen wir korrigieren. Die Ausstellung zeigt einen unermüdlichen Kämpfer für die Wahrheit, den Autor zahlreicher Schriften, viele noch unveröffentlicht, weil diese erst jüngst aufgetaucht sind.“
Doch wer war Alfred Dreyfus (1859–1935)? Er war der neunte und jüngste Sohn eines jüdischen Mülhausener Textilunternehmers, der seine Karriere als Hausierer begonnen hatte. Als das Elsass 1871 nach dem Deutsch-Französischen Krieg zum neu gegründeten Deutschen Kaiserreich kam, optierten seine Eltern – wie auch andere Angehörige der städtischen Eliten – für die Beibehaltung ihrer französischen Staatsangehörigkeit und siedelten 1872 mit einem Teil der Familie zuerst nach Basel, wo er das Humanistische Gymnasium besuchte, und schließlich weiter nach Paris. Um das Vermögen zu retten, blieb ein anderer Teil der Familie im Elsass. Nur Alfred und sein Bruder Mathieu erhielten ausschließlich eine französische Ausbildung.
Ein Lehrstück bis heute. Nach der Reifeprüfung bestand Alfred 1878 die Aufnahmeprüfung an der traditionsreichen École polytechnique, die damals hauptsächlich technische Offiziere, z. B. für die Artillerie, ausbildete. Er wurde Berufsoffizier als Artillerist und aufgrund seiner akademischen Leistungen in die École supérieure de guerre (Militärhochschule) aufgenommen. Absolventen der École polytechnique und der Militärschule erhielten hier den letzten Schliff vor ihrer Ernennung zum Stabsoffizier. Im Zuge einer Reform im französischen Militär wurden die zwölf besten Absolventen in den französischen Generalstab aufgenommen, wo sie mehrere Bereiche durchliefen.
L’Affaire […] klingt bis heute nach und stellt einen Markstein
im kollektiven Gedächtnis dar.
1890, mit 31 Jahren, heiratete er Lucie Hadamard (1869–1945), Tochter eines wohlhabenden Diamantenhändlers und Cousine des Mathematikers Jacques Salomon Hadamard. Aus der Ehe gingen zwei Kinder, Pierre und Jeanne, hervor. 1893 wurde Dreyfus, inzwischen zum Hauptmann befördert, zum Generalstab versetzt.
Im Militär, das in weiten Teilen noch vom verlorenen Krieg traumatisiert war und sich mehrheitlich auf Offiziersebene aus der katholischen Aristokratie rekrutierte, klang ein antisemitischer Grundton an; antisemitische Ressentiments hegte so auch die militärische Führung bei der Besetzung höherer Offiziersposten durch Juden. Und genau das sollte dem inbrünstigen Patrioten Dreyfus 1894 zum Verhängnis werden: Degradiert, erniedrigt, des Hochverrats beschuldigt und auf die Teufelsinsel verbannt, wurde er erst viel zu spät rehabilitiert (siehe Chronologie der Dreyfus-Affäre).
Theodor Herzl, der 1897 den ersten Zionistenkongress in Basel einberufen hatte, erkannte sehr bald, dass es bei Dreyfus nicht um die Verurteilung eines x-beliebigen Offiziers ging, sondern um die unbedingte Schuldzuweisung gegenüber einem „Juden“. Im Jahr 1899 bekannte er in der North American Review: „Zum Zionisten hat mich der Prozess Dreyfus gemacht.“ Herzl sah ein Zusammenleben von Juden und Nichtjuden in Europa „auf der Basis gegenseitiger Duldung und Verständnisses“ künftig als unmöglich an. Er beurteilte die bisherigen Versuche der Juden um Emanzipation und Integration als vergeblich und nutzlos und fragte: „Wenn in Frankreich, dem Land der Menschenrechte und des revolutionären Prinzips der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, die Gleichstellung gescheitert war, wo sonst in Europa sollte sie glücken?“
Eine derartige Affäre war bis dahin beispiellos und bleibt bis heute ein politisches Lehrstück in Sachen Zivilcourage und bürgerlicher Mitbestimmung von gesellschaftlichen Prozessen, wie beispielsweise das Gesetz von 1905 beweist, das die Trennung von Staat und Kirche in Frankreich festlegte. Es ist aber auch ein Lehrstück über militärischen Kadavergehorsam, das zeigt, dass es auch im Militär charakterstarke Persönlichkeiten gegeben hat.
Nicht nur das jüdische Paris ist immer eine Reise wert: Bis Ende August lohnt sich eine Visite dieser besonders wertvollen Ausstellung.

Chronologie eines jüdischen Schicksals: Hauptmann ALFRED DREYFUS
1894 Juli: Der verschuldete französische Offizier Ferdinand Walsin-Esterházy bietet dem deutschen Militärattaché Schwartzkoppen seine Dienste an. September: Eine Putzfrau entwendet einen zerrissenen Brief (das „Bordereau”) aus Schwartzkoppens Papierkorb und übergibt ihn dem französischen Nachrichtendienst – ein Beweis für Verrat im Generalstab.
Oktober: Alfred Dreyfus wird als vermeintlicher Verräter verhaftet. Sein Bruder Mathieu eilt von Mülhausen nach Paris.
November: Die Presse berichtet, antisemitisch gefärbt, Dreyfus sei als Jude und Elsässer dem Deutschen Reich zugeneigt. Die deutsche Botschaft dementiert jeglichen Kontakt.
Dezember: Im Kriegsgerichtsprozess erhalten die Richter ein geheimes Dossier, das vor Dreyfus und seinem Anwalt verborgen bleibt. Dreyfus wird zur Degradierung, Deportation und lebenslanger Haft verurteilt.
1895 Januar: Öffentliche Degradierung Dreyfus’ im Hof der École Militaire. Das Parlament beschließt seine Verbannung auf die Teufelsinsel, wo er bis 1899 in Isolation bleiben wird.
Juni: Mathieu Dreyfus lässt ein Memorandum verfassen, das den Justizirrtum belegt.
1896 März: Ein weiterer Brief Schwartzkoppens („Le petit bleu”) wird gefunden. Der neue Nachrichtendienstleiter Picquart erkennt: Dreyfus ist unschuldig, Walsin-Esterházy der wahre Verräter.
September: Picquarts Bericht an seine Vorgesetzten bleibt wirkungslos. Zeitungen beginnen, Ungereimtheiten im Fall anzudeuten.
Oktober: Picquart wird strafversetzt. Hauptmann Henry fälscht ein Schreiben gegen Dreyfus.
November: Le Matin veröffentlicht das Bordereau. Mathieu lässt Vergleichsplakate mit der Handschrift seines Bruders in Paris verteilen.
1897 August/September: Senator Scheurer-Kestner hält Dreyfus für unschuldig. Esterházy droht der Familie Dreyfus.
Oktober: Esterházy behauptet, Dreyfus habe seine Handschrift imitiert. Émile Zola beginnt seine publizistische Unterstützung für Dreyfus.
November: Schwartzkoppen beteuert bei seiner Rückkehr nach Deutschland erneut, nie mit Dreyfus in Kontakt gestanden zu haben.
1898 Januar/Februar: Esterházy wird freigesprochen. Zola veröffentlicht seinen berühmten offenen Brief „J’Accuse…!” und wird verurteilt. Er flieht nach England.
Juni: Der neue Kriegsminister bekräftigt die Anschuldigungen. Picquart widerspricht öffentlich und wird inhaftiert.
August bis Oktober: Die Fälschung wird entdeckt. Das Berufungsgericht lässt eine Revision zu.
1899 Juni: Das Urteil von 1894 wird aufgehoben. Zola kehrt zurück, Dreyfus und Picquart werden freigelassen.
Juli bis September: Erneuter Prozess in Rennes: Dreyfus wird wieder schuldig gesprochen, aber mit mildernden Umständen. Der Präsident begnadigt ihn.
1900 Dezember: Ein Amnestiegesetz garantiert Straffreiheit für alle mit der Affäre verbundenen Rechtsbrüche.
1904 März: Das Berufungsgericht akzeptiert einen Revisionsantrag nach Entdeckung weiterer gefälschter Beweise.
1906 Juni: Das Berufungsgericht annulliert das Urteil von Rennes. Dreyfus wird als Major, Picquart als General rehabilitiert. Dreyfus wird in die Ehrenlegion aufgenommen.
1908 Juni: Bei der Überführung von Zolas Überresten ins Panthéon wird ein Attentat auf Dreyfus verübt. Der rechtsextreme Täter wird freigesprochen, da er „aus Leidenschaft” gehandelt habe.