„Helfen gehört einfach zum israelischen Selbstverständnis“

Für ihren Band Solidarität heißt Handeln hat die aus Wien gebürtige Bildungsexpertin Anita Haviv-Horiner 17 Interviews mit ganz unterschiedlichen Menschen der israelischen Gesellschaft geführt, die nach dem 7. Oktober engagiert, organisiert und spontan Hilfsprojekte aufgestellt haben. Von Therapien, Spendensammeln, Initiativen in sozialen Medien, Unterstützung im Alltag, Putzen und Kinderbetreuung, Lernhilfen, kulinarischer Versorgung, Gedenken und Dokumentation bis zur Tierrettung und darüber hinaus reicht die thematische Bandbreite.

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Anita Haviv-Horiner: In ihrem neuen Buch gibt die Bildungsexpertin, Vortragende und Autorin Einblicke in zivilgesellschaftliche Initiativen in Israel, die beeindrucken und berühren. © privat

WINA: Sie haben sehr rasch nach dem „Schwarzen Schabbat“ mit den Gesprächen begonnen, die beispielhaft zivilgesellschaftliche Initiativen aufzeigen. Was war Ihre persönliche Motivation für diese Arbeit?

Anita Haviv-Horiner: Ich war nach diesem Tag in einem totalen Schock, der in eine kollektive Depression umgeschlagen ist. Es gab wirklich niemanden, der nicht versucht hat zu helfen. Ich habe gesehen, dass so wahnsinnig viele in der Zivilgesellschaft mobilisiert haben, und dachte mir, im Ausland weiß man davon gar nichts und sieht Israel nur durch die Schwarzweißlinse des Krieges. Ich wollte dem deutschsprachigen Publikum neue Nuancen und Perspektiven vermitteln.

Sie zitieren eingangs David Grossman, der feststellt, dass wir alle mit diesem Trauma auch auf die gemeinsame jüdische Existenz und deren Bedrohung zurückgeworfen wurden. In der Diaspora empfindet man das genauso, und es macht uns Angst. Wie stark ist dieser Aspekt in Israel spürbar?

I Die Israelis fokussieren in erster Linie auf sich selbst, aber natürlich ist der Antisemitismus in Europa, vor allem aber auf Israel bezogener Antisemitismus auch auf der politischen Ebene im Fokus. Es gibt auch Leute, die mich fragen, ob es jetzt sicher ist, nach Europa zu fahren.

Wenn man Ihre 17 Gesprächspartner:innen betrachtet, so war Ihnen wohl wichtig, mit dieser Auswahl auch eine große Bandbreite der israelischen Gesellschaft abzubilden. Frauen, Männer, Religiöse, Säkulare, Alte, Junge, Sabres und Einwanderer:innen aus verschiedenen Ländern, Akademiker:innen, Beduinen, israelische Araberinnen. Was haben alle diese so diversen Menschen gemeinsam?

I Sie haben eine große Portion Menschlichkeit gemeinsam. Und dass sie bereit waren, ihre Komfortzone zu verlassen, und dass sie anpackend sind, dass sie einfach machen. Einer meiner Interviewgebenden, der selbst in seinem Kibbuz bei dem Massaker zugegen war, hat gesagt, ich bin traumatisiert, konnte in der Nacht schlecht schlafen und hatte die Idee, ich will ein digitales Museum der Geschehnisse ins Leben rufen, dann habe ich ein paar Leute gefragt, die mir ihre Unterstützung zugesagt haben, und dann habe ich es einfach gemacht. Und das ist bei allen so.

Immer wieder kommt in den Gesprächen, die auch ganz verschiedene Lebensläufe einfangen, die israelische Tradition des Helfens zur Sprache. Helfen, bevor man dazu gebeten wird. Wie erlebten Sie das persönlich, als sie 1979 nach Israel eingewandert sind?

I Es ist definitiv sehr charakteristisch für Israel. Schon im Kindergarten werden Kinder dazu erzogen zu helfen, auch im Kibbuz oder bei religiösen Menschen. Ich habe das auch bei meinen arabischen Gesprächspartner:innen erlebt. Helfen gehört einfach zum israelischen Selbstverständnis.

Das Engagement und die Resilienz der Interviewten ist wohl einzigartig. Inwieweit trifft das auch auf weitere Kreise der Bevölkerung zu?

I Seit es Israel gibt, müssen Israelis sehr resilient sein. Der Zusammenhalt ist eine Überlebensstrategie, die es auch im Judentum in der Diaspora gegeben hat. Aber der 7. Oktober hat uns vor ganz neue Herausforderungen gestellt. Auch bei den Protesten gegen die Regierung, die seit dem Auffinden der sechs ermordeten Geiseln ganz stark wiederaufgeflammt sind, sehen wir diese Resilienz. Jede Woche hunderttausende Menschen, was unter diesen Bedingungen sehr bemerkenswert ist, aber es ist eine sehr, sehr schwere Zeit, auch weil der Staat weiterhin versagt. Natürlich gibt es Menschen, die diese Resilienz nicht unbedingt haben, was ganz verständlich ist, und deshalb gibt es auch sehr viele Initiativen für Therapien.

 

„Natürlich ist die Zivilgesellschaft flexibler,
schneller, mobiler, hat tolle Netzwerke, aber das ent-schuldigt den Staat nicht für sein Versagen.“

 

Kann man sagen, dass die Selbstmobilisierung der Zivilgesellschaft auf ein Defizit der Regierungsmaßnahmen deutet?

I Nicht nur hindeutet: Sogar manche Interviewte, die sich wahrscheinlich mit der Regierung identifizieren, sagen, wir mussten reagieren, weil die Armee, der Staat und alle Ebenen am 7. Oktober versagt haben, wir springen ein. Natürlich ist die Zivilgesellschaft flexibler, schneller, mobiler, hat tolle Netzwerke, aber das entschuldigt den Staat nicht für sein Versagen.

Beeindruckend ist, mit welcher Selbstverständlichkeit und fast Radikalität diese Menschen sich einbringen. Jede:r gibt, was sie oder er hat und tut, was er oder sie kann, und wächst dabei über sich hinaus. Sie haben auch direkt nach den persönlichen Ressourcen gefragt. Waren die Antworten für Sie überraschend?

I Teilweise schon. Viele hatten auch schon Netzwerke, und Israel ist ja ein Paradies für Netzwerke, man kann nirgends sonst so gut netzwerken. Viele haben auf Erfahrungen aus der Kindheit zurückgegriffen, ein arabischer Gesprächspartner hat gesagt, letztendlich sitzen wir alle im selben Boot, und das gibt mir die Kraft zum Handeln.

Anita Haviv-Horiner: Solidarität heißt Handeln.
Die israelische Zivilgesellschaft nach dem
Massaker vom 7. Oktober 2023. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2024
(= Schriftenreihe Bd. 11.149), 204 S., bpb.de/shop

Erstaunlich auch das durchgehende Organisationstalent und die beeindruckende Medienkompetenz aller Gesprächspartner:innen. Ist uns die israelische Start-upGesellschaft diesbezüglich voraus?

I Keine Frage. Israelis nutzen die sozialen Medien massiv, das merkt man da auch. Eine Therapeutin erzählt, jemand hat einen riesigen Raum zur Verfügung gestellt, der normalerweise für Hochzeiten gemietet wird, dann hat der größte Komplementär-Medizinlieferant sofort alles Nötige geliefert und alles auf Facebook gestellt, und bereits am nächsten Tag waren alle schon vor Ort und haben die Überlebenden des Nova-Festivals behandelt.

Die meisten der Projekte sind ziemlich professionell aufgestellt oder haben sich zumindest schnell professionalisiert. Also auch ein learning by doing. Inwieweit kann man diese erlernten Kompetenzen weiterverwenden?

I Ich verstehe mich als politische Bildnerin, und dieses Buch ist auch ein Instrument der politischen Bildung, daher war es mir ein Anliegen, zu fragen und aufzuzeigen, was andere aus diesen Beispielen lernen können. Ein wichtiger Punkt ist Fehlerfreudichkeit. Dass man weitermacht, auch wenn man mal auf die Nase gefallen ist. Das ist übrigens auch sehr jüdisch. Außerdem gibt es da keine Hierarchien. Wer eine Idee hat, macht, und wenn die Idee gut ist, folgen ihr oder ihm andere, unabhängig vom Alter oder wer oder was sie oder er ist.

„Alle haben eine große Portion Menschlichkeit gemeinsam und waren bereit,
ihre
Komfortzone zu verlassen.“

 

Alle Interviewten haben für Wochen oder Monate ihr normales Leben aufgegeben und sich ganz ihren selbst gestarteten ehrenamtlichen Projekten gewidmet. Wie lange kann man das physisch, psychisch und wirtschaftlich durchhalten?

I Das war sehr interessant, denn die magische Zahl war 100 Tage. Alle haben gesagt, 100 Tage lang, und ab dann haben fast alle ihre Projekt adaptiert, z. B. Chana, eine ultraorthodoxe Frau. Sie hat nach einiger Zeit gemeint, ok, ich kann jetzt nicht täglich konstant 1.200 Helfende aktivieren, aber ich habe Paare, Iron Sisters, aufgestellt, jeweils ein orthodoxe Frau und eine Frau eines Reservisten, die allein ist. Und die treffen einander ein- bis zweimal in der Woche, und die Ultraorthodoxe hilft der anderen. Interessant ist auch, dass dieses ehrenamtliche Engagement marginalisierten Gruppen wie Beduinen oder auch Ultraorthodoxen ein Gefühl des Empowerments gibt. Ein interessantes Phänomen ist die Frage, was gibt es mir, dass ich das alles mache, und da haben alle festgestellt, es gibt mir etwas, ich kann selbstbestimmt sein, kann andere führen, das ist auch eine Erfahrung.

Fast alle meinen, ihr solidarisches Handeln habe sie vor Angst und Depressionen bewahrt. Es gab also auch für sie selbst einen therapeutischen Effekt.Wie weit muss man generell auch Helfern in diesen Situationen helfen?

I Grundsätzlich gibt es bei therapeutischen Projekten immer wieder Supervision. Bei manchen ist es weniger kritisch. Es sind auch nicht alle Befragten direkt vom Massaker betroffen gewesen. Prinzipiell ist man in Israel sehr gut darin, Menschen Hilfe zu geben, und sicherlich denen, die gleichsam wirklich hineinfahren in die Hölle. Einen interessanten Aspekt hat z. B. eine Tierärztin, die Tiere gerettet hat, angesprochen. Sie hat gesagt, ich hatte immer das Selbstbildnis, dass ich in einer Krisensituation helfen würde, aber man weiß es nicht, solange man es nicht tut. Und der 7. Oktober hat mir diese Bestätigung gegeben, dass ich meinen eigenen Erwartungen gerecht werden kann.

Die Initiative Secret Forest hilft Nova-Überlebenden behutsam mit dem erlebten Horror umgehen zu lernen. Anonym, geheim und Mitten in der Natur. © Wina-Illustration

Sie haben die Gespräche von Jänner bis Mai 2024 geführt. Welche Projekte gibt es noch, und was musste beendet werden? Die Menschen mussten ja auch in ihr Erwerbsleben zurückkehren.

I Einige der Projekte wurden von Organisationen übernommen, die es schon vorher gegeben hat, dann hat z. B. die junge Frau, die die Internetinitiative Don’t let Hamas rape me too gestartet hat, eine NGO gegründet und sich mit einer anderen NGO zusammengetan. Es wollen überhaupt viele mit anderen zusammen Synergien schaffen, und auch der Chefkoch, der spontan sein ganzes Business eingebracht hat, um Armeeangehörige mit Mahlzeiten zu versorgen, macht in kleinerem Rahmen weiter. So viel ich weiß, laufen eigentlich alle Projekte weiter und sind leicht wieder abrufbar. Man wird sie ja auch noch längere Zeit benötigen; so gibt es immer noch fast 70.000 Evakuierte im ganzen Land und sehr viele Frauen, die ihre Familien allein versorgen müssen.

Sie sind Bildungsexpertin und sprechen auch das didaktische Ziel bzw. den didaktischen Mehrwert Ihres Buchs an. Wie würden Sie diesen beschreiben?

I Ich bin 35 Jahre in diesem Bereich vor allem in Deutschland, weniger in Österreich, engagiert. Ich versuche, jüdische Kultur, Tradition und jüdisches Selbstverständis in allen ihren Facetten nuancierter darzustellen, und eben auch Israel. Ich bin sehr kritisch, was die israelische Politik und Regierung betrifft, aber ich möchte, dass die Menschen sich fragen, warum es eine so feindliche Einstellung Israel gegenüber gibt, und deshalb habe ich immer, und das ist jetzt mein fünftes Buch, versucht, Grauzonen aufzuzeigen und auch die Frage aufzuwerfen, was können wir daraus lernen. Meine Bücher sind so konzipiert, dass sie sich für Workshops eignen, und die Frage ist immer auch, kann die oder der Lesende die angesprochenen Themen auch für ihren bzw. seinen eigenen Referenzrahmen verwenden. Alle Interviewten sagen, man muss ein Thema finden, dass einem am Herzen liegt, dabei muss man klein beginnen und sich fragen, wie kann ich den Kreis erweitern, wer kann mir dabei helfen – und dabei hartnäckig bleiben. Das soll ein integraler Teil unseres Denkens werden, denn wenn jeder etwas macht, ist das schon etwas.

Insofern sind die beschriebenen Biografien, diese Geschichten und Initiativen natürlich als Vorbilder gedacht.

I Absolut. Ich sehe sie als persönliche Vorbilder, unerreichbare Vorbilder.

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