Seit 15 Jahren versorgt Ohel Rahel Bedürftige, egal ob jung oder alt. Von Martha S. Halpert
Renate Erbst kämpft mit den Tränen. Sie steht auf der Bühne des festlich geschmückten Rathaussaals, und eigentlich gilt es, ein erfreuliches Jubiläum zu feiern. Doch die erfahrene Finanzchefin großer Unternehmen spricht von ihrer verstorbenen Mutter, der sie teilweise auch das 15-jährige Bestehen des Wohltätigkeitsvereins Ohel Rahel verdankt. „Wir haben gemeinsam immer wieder privat Menschen in Not geholfen, bis es für uns allein zuviel wurde.“
Erbst hatte als langjährige Kultusrätin und Mitglied der Sozial- und Finanzkommission reichlich Einblick in die vielfältigen menschlichen Schicksale. „Ein Jude in Wien darf nicht hungern, das war eigentlich mein Leitmotiv. Als uns klar wurde, dass auch das Sozialbudget der Israelitischen Kultusgemeinde nicht ausreicht, um Menschen, die finanzielle Probleme haben, zu helfen, haben wir 1999 den Verein Ohel Rahel gegründet.“
Mit „wir“ meint Erbst eine Reihe von gleichgesinnten Frauen, die spontan bereit waren, einen maßgeblichen Teil ihrer Freizeit dieser ehrenamtlichen Arbeit zu widmen: Dazu gehören heute – und manche sind von der ersten Stunde an dabei – in aufopfernder Weise Rosi Kohn, Elisabeth Wessely, Nora Biniashvili, Hanna Morgenstern, Charlotte Sauer, Marika Haraszti und deren Tochter Daniela Haraszti. Diesen engagierten Frauen gelingt es sowohl ihren umfangreichen Freundeskreis zweimal jährlich zur Teilnahme an der Frühlingssoirée und dem Chanukkahfest zu motivieren als auch großzügige Sponsoren und individuelle Spender für den guten Zweck aufzutreiben. Und obwohl der Anlass, nämlich für Bedürftige Geld zu sammeln, kein lustiges Anliegen ist, gelingt es diesem Verein bei all seinen Veranstaltungen eine positive Grundstimmung zu verbreiten. Es wird nicht gejammert, sondern tatkräftig zugepackt. Und das ist auch notwendig, erzählt Erbst, denn „es gibt mehr Menschen in unserer Umgebung, die an Armut leiden, als wir uns vorstellen können.“
Renate Erbst ist gebürtige Wienerin und hat drei sehr unterschiedliche Ausbildungen absolviert: die Studien für Welthandel und Dolmetsch sowie eine Goldschmiedlehre. Letztere war durch die Familientradition vorgegeben, die Eltern besaßen zwei Schmuckgeschäfte. Ihr politisches Engagement im Bund sozialdemokratischer Juden und in der jüdischen Hochschülerschaft sensibilisierten Erbst für die jüdische Vergangenheit Wiens, daher suchte sie gemeinsam mit dem Historiker Avshalom Hodik nach einem geeigneten Namen für den Verein. Hitler sollte es nicht gelungen sein, die Erinnerung an alle Institutionen vor 1938 zu zerstören: Insgesamt 636 Vereine wurden von den Nazis liquidiert, einer davon war Ohel Rahel, ein „Verein zur unentgeltlichen Ausspeisung jüdischer Notleidender in Wien“. Dieser unterhielt eine Armenküche in der Schwarzingergasse 8 im zweiten Bezirk. Der Name diente als gutes Vorbild, handelte es sich doch beim hebräischen Originalnamen um das Zelt der biblischen Rachel, die Wanderer aufnahm und labte. Dennoch gibt es einen inhaltlich gravierenden Unterschied zur privaten Institution aus der Zwischenkriegszeit: In der Ausspeisung vor 1938 waren die Armen zu sehen, bei Ohel Rahel erfolgt die Hilfe anonym. „Wohltätigkeit ist eine Verpflichtung“, weiß Renate Erbst, „die höchste Stufe erreicht man dann, wenn Spender und Empfänger einander nicht kennen“.