Herzl revisited

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Reisenden Israelis begegnet man allerorts. Junge Backpacker bevölkern die „Humus-Straßen“ in Asien und Südamerika, Ältere reisen von Island bis Afrika.  Nach Jahrzehnten einer Heimat im „Gelobten Land“ ist der „Ewige Jude“ offenbar immer noch nicht angekommen. Das Wander-Gen scheint den Juden ebenso angeboren zu sein wie der sechste Sinn, der „Sorgen-Sinn“, stellt Eshkol Nevo in seinem Roman Neuland fest. Von Anita Pollak

Ein Vater ist in Südamerika abhanden gekommen. Seit Wochen ist er vom Familienradar verschwunden. Und so verlässt Sohn Dori schweren Herzens Frau und Kind in Israel, um den erst kürzlich verwitweten Vater zu suchen.

Eine junge Frau, Inbar, will nach einem Besuch der Mutter in Berlin nicht zu ihrem Freund nach Tel Aviv zurückkehren und nimmt den erstbesten Flieger nach Peru.

Suchende, Verletzte, seelisch Verwundete, Menschen auf der Flucht von daheim, wo manche Träume zu Albträumen wurden, lässt Nevo in Südamerika aufeinandertreffen. Dori und Inbar gehen ein Stück des Weges gemeinsam, anfänglich geführt vom Profi Alfredo, der oft verzweifelten Eltern bei der Suche nach ihren verschollenen Kindern hilft. Einen Vatersucher hatte er noch nie, umso mehr legt er sich ins Zeug. Auch Inbar hat ihren Vater irgendwie verloren, in Australien, wo er eine neue Familien gegründet hat.

„Irgendwo muss doch noch ‚Neuland‘ sein, wenn Herzls‚ Altneuland‘ als Utopie offenbar ausgedient hat.“

Wie in einem Road-Movie lässt Nevo die beiden, die einander natürlich, wenn auch zögerlich, näherkommen, auf abenteuerliche Weise durch den Kontinent reisen. Von Peru über Bolivien nach Argentinien. Sie begegnen Gurus, Wunderheilern, Schamanen und abgedrehten Typen aller Art. Und anderen mehr oder minder verlorenen Israelis. Irgendwo muss doch noch „Neuland“ sein, wenn Herzls „Altneuland“ als Utopie offenbar ausgedient hat. Doris’ Vater Meni hat es für sich und einige andere suchende Landsleute gefunden bzw. wiederentdeckt in der alten jüdischen Siedlung Moisés Ville, die einstmals Baron Hirsch in Argentinien als Alternative zu Palästina errichtet hat.

„The Road Not Taken.“ Wir schreiben das Jahr 2006. Israel steht vor dem zweiten Libanonkrieg, und mitten in der argentinischen Pampa leben Israelis wie in den Frühzeiten des Kibbuz miteinander. Es ist vor allem dieser Kontrast zwischen Illusion und Wirklichkeit, den Nevo auf über 600 Seiten seines Romans ausleuchtet. Antworten vermeidet er, aber er stellt die richtigen Fragen. Muss man alles hinter sich lassen, um einmal zurückzukehren? Kann man überhaupt irgendwo Neuland suchen? Was erfährt man auf Reisen über die Welt und sich selbst?

Eshkol Nevo: Neuland.  Roman. Aus dem  Hebräischen von Anne  Birkenhauer. dtv 2013,  638 S.,  25,60
Eshkol Nevo: Neuland.
Roman. Aus dem
Hebräischen von Anne Birkenhauer. dtv 2013,
638 S., 25,60 EUR

Für jeden gibt es „The Road Not Taken“ (nach einem Gedicht von Robert Frost), den einen Weg, den man nicht eingeschlagen hat; und man kann sein Leben damit verbringen, darüber nachzudenken. Oder davon zu träumen, wie Inbars Großmutter Lili, die mit einem illegalen Einwandererschiff 1939 nach „Erez Jisruel“ gekommen ist und immer noch von ihrem einstigen Liebhaber träumt.

Dori ist nicht zufällig Geschichtslehrer, und die Geschichte Israels und des Zionismus kommt daher nicht zu kurz, vielleicht sogar manchmal zu lang. Doch souverän hält der Autor den Erzählfaden in der Hand, verknüpft Menschen und Episoden miteinander, aber weniger wäre hier wahrscheinlich mehr gewesen. Es ist halt wie auf Reisen. Umwege sind oft die interessantesten Routen. Und vom Reisen scheint Nevo wie fast alle seine Landsleute fasziniert zu sein.

wina: Ihr neuer Roman überschreitet Grenzen, er verlässt Israel, ist er auch für Leser außerhalb Israels geschrieben? Sie haben ja ein großes Publikum vor allem im deutschsprachigen Raum.*

Eshkol Nevo: Ich denke nicht an die Leser, wenn ich schreibe. Aber das Schreiben an diesem Roman war sicherlich durch meine vielen Reisen beeinflusst. Ich sah Menschen, die anders leben als in Israel. Ich bin sogar in das ganz entlegene Moisés Ville in Argentinien gefahren, und das ist sicherlich noch weiter als Hohenems. Das Reisen hat mir neue Perspektiven auf meine Heimat und auch auf meine Familie vermittelt. Doch das Buch erzählt eine Geschichte und fragt Fragen, die nicht auf Israel beschränkt sind.

wina: Kann es gefährlich sein, die Perspektiven zu wechseln?

EN: Nein, es ist inspirierend. Viele Israelis leben im Ausland, z. B. in Berlin, und ich denke, die meisten werden zurückkehren, weil Israel viel zu bieten hat. Für meine Generation hat sich aber die Einstellung zum Zionismus verändert. Für meine Großeltern war es die Idee des Überlebens. Ich verlange vom Zionismus mehr und denke auch nicht, dass es falsch ist, in einem anderen Land zu leben, wegzugehen und vielleicht zurückzukehren. Es macht auch keine Angst, sich „Neuland“ vorzustellen, eine andere Utopie. Man sollte keine Angst haben, seine Perspektive zu verändern.

wina: Welche Bedeutung spielt die Religion für Sie, sie kommt als eine der wenigen Fragen, die Israelis bewegen, gar nicht vor?

EN: Ich selbst bin sehr jüdisch, aber ich bin ein g-ttloser Mensch. Ich bin nicht mit dem Glauben an G-tt erzogen worden, sondern in einer säkulären linken Umgebung. Dennoch ist es eine faszinierende Welt, und mein aktuelles Buch, das gerade in Israel erscheint, beschäftigt sich mit ihr. Es geht darin um religiöse Menschen und solche, die zur Religion zurückkehren. Erstaunlicherweise lesen viele Religiöse meine Bücher. Ich frage die selben moralischen Fragen wie sie, aber von einem anderen Blickwinkel, und auf diese Art bin ich sehr jüdisch. Mein Schreiben ist im Judentum verwurzelt, aber nicht auf G-tt ausgerichtet.

wina: Einen Roman „Neuland“ zu nennen ist mutig, denn man muss sich natürlich mit Herzl und „Altneuland“ auseinandersetzen.

EN: Ich habe Herzl wiedergelesen, und da ist mir erneut die Diskrepanz zwischen seinen Vorstellungen und unserem Leben aufgefallen. Zwei Dinge insbesondere. Erstens die Beziehungen des jüdischen Staates zu anderen Nationen, da hatte er sehr romantische Vorstellungen, da ist die Wirklichkeit ganz anders, und zweitens der sozialistische Aspekt, den er natürlich nicht so nennt, aber er spricht davon, für andere da zu sein, ein Zusammengehörigkeitsgefühl zu haben. Und da fürchte ich, dass mein Land mehr und mehr amerikanisch wird und dieses Gefühl der Solidarität verliert, mit dem ich noch aufgewachsen bin. Es ist also zwar kein Buch über Herzl, aber über Utopie und Realität. Ich glaube nicht, dass wir immer in diesem gewalttätigen Umfeld leben können, ohne einen hohen Preis zu zahlen, und ökonomisch gesehen glaube ich nicht, dass dieser Staat mit einem System überleben kann, das keine Gnade für die Schwachen kennt. Es war nicht die Idee eines jüdischen Staates, ein gnadenloses amerikanisches Wirtschaftssystem zu haben.

wina: Eine private Utopie, die gibt es aber doch in Ihrem Buch?

EN: Ja, denn nicht zuletzt ist mein Roman auch eine Liebesgeschichte. Er wird verfilmt, und das Zentrale wird dabei nicht Herzl, sondern die Liebesgeschichte sein.

ZUR PERSON
Eshkol Nevo, geboren 1971 in Jerusalem, gehört heute zu den wichtigsten Schriftstellern seines Landes. Sein erster Roman Vier Häuser und eine Sehnsucht stand 2005 auf der Shortlist des bedeutendsten Literaturpreises in Israel, dem Sapir-Preis. Sein jüngster Roman Neuland verkaufte sich in Israel über 130.000 Mal und gewann 2012 als „Book of the Year“ den Steimatzky-Preis. Eshkol Nevo lebt mit seiner Frau und seinen drei Töchtern in Ra’anana, Israel.
* Das Gespräch mit dem Autor führte Anita Pollak in Hohenems

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