Höret die Signale!

Die Europäische Rundschau erscheint mit dem Themenschwerpunkt Antisemitismus. In insgesamt vier Ausgaben soll der Blick auf die besorgniserregenden Entwicklungen geworfen werden.

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Europäische Rundschau Nr. 1, 2019 - Zeitschrift für Politik, Wirtschaft und Zeitgeschichte € 9,50

Es geht heute nicht nur um den Antisemitismus von rechts, sondern auch von links“, schreibt Paul Lendvai, Chefredakteur der Vierteljahreszeitschrift Europäische Rundschau in der Einleitung zum Heft 2019/1 mit dem Themenschwerpunkt „Judenhass in Europa“. Ein Anlass für diesen Fokus waren die Umfrageergebnisse der Fundamental Rights Agency (FRA) der Europäischen Union in zwölf Mitgliedsstaaten: Diese haben u. a. ergeben, dass 89 % der 16.500 Befragten davon überzeugt sind, dass der Antisemitismus in den letzten fünf Jahren zugenommen hat. „Mehr als ein Drittel der jüdischen Menschen, die in diesen 12 EU-Ländern leben, sagten auch, dass sie über ihre Emigration nachdenken, weil sie sich als Juden nicht mehr sicher fühlen“, erläutert Lendvai.
In insgesamt vier Ausgaben soll der Blick auf diese besorgniserregenden Entwicklungen geworfen werden: Zwei Hefte der Europäischen Rundschau dazu sind bereits erschienen. „Unser Ziel ist eine kritische Bestandsaufnahme in den einzelnen europäischen Ländern und zugleich, wenn möglich, eine Darstellung der laufenden oder vorgesehenen Maßnahmen in der Auseinandersetzung mit dem sogenannten ‚Sekundären Antisemitismus‘ und dem ‚israelbezogenen Antisemitismus‘, also mit den alten und neuen Formen des Judenhasses“, so der Herausgeber.

»Mehr als ein Drittel der jüdischen Menschen,
die in
diesen 12 EU-Ländern leben,sagten,
dass sie über ihre
Emigration nachdenken,
weil sie sich als Juden nicht
mehr sicher fühlen.«
Paul Lendvai

Als „Ein Gespenst, das nicht sterben kann“, bezeichnet der Münchner Journalist Stephan Sattler in seinem Beitrag treffend die Situation in Deutschland. Er weist darauf hin, dass allein im Netz 60.550 Texte für den Zeitraum von 2007 bis 2017 als antisemitisch eingestuft wurden und dabei die tätlichen Angriffe der letzten beiden Jahre – wie das Beschimpfen und Anspucken von Kippa-Trägern in diversen Städten – noch nicht berücksichtigt sind. „Noch scheint die Lage stabiler zu sein als in Frankreich, Großbritannien oder Italien, aber die Stimmung lässt sich vom Pessimismus in den Nachbarstaaten anstecken“, so Sattler. Ein beträchtliches Maß an Pessimismus schwingt auch in den Analysen von Hans Rauscher (2019/1) und Doron Rabinovici (2019/2) zu Österreich mit. „Liberale Demokraten haben es nunmehr mit dem alten rechten, völkischen Antisemitismus und dem neuen muslimischen zu tun. Zugleich müssen sie sich gedanklich und praktisch irgendwie auf neue seltsame Allianzen einstellen“, so Rauscher. „Eine nationalistische israelische Regierung und europäische Nationalisten mit antisemitischen Leichen im Keller finden Gefallen aneinander, wenn es gemeinsam gegen Muslime geht. Das muss man zur Kenntnis nehmen und den Kampf auch unter diesen neuen verwirrenden Umständen aufnehmen.“
Seit Jeremy Corbyn im September 2015 den Vorsitz der Labour Party in Großbritannien übernahm, hat die Partei – die im vergangenen Jahrhundert zumeist eine antirassistische Partei mit großer jüdischer Wählerschaft war – ein institutionelles Problem mit dem Antisemitismus. „Es ist eine Linke, die das Ende des Empire, aber nicht den Holocaust erlebte und daher eher durch Antikolonialismus als durch Antifaschismus angetrieben wird“, schreibt Dave Rich vom Community Security Trust (CST), der wichtigsten Sicherheitsorganisation des jüdischen Großbritanniens. Rich sieht darin auch den Grund dafür, dass der Antisemitismus wieder Schlagzeilen in der Politik Großbritanniens macht. „Zum dritten aufeinanderfolgenden Jahr erreichten antisemitische Zwischenfälle in Großbritannien einen neuen Rekord für die ersten sechs Monate 2019“, heißt es im aktuellsten Bericht des CST.
Für Frankreich diagnostiziert die Soziologin Dominique Schnapper ebenso wie die deutsche Historikern Cordelia Heß für Schweden und Nordeuropa einen vornehmlich israelbezogenen Antisemitismus. Dagegen sind die antijüdischen Ressentiments in der Slowakei, Polen, Rumänien und den ehemals böhmischen Ländern noch stark im Religiösen verwurzelt.
Wenig überraschend wird der Lage in Ungarn mit vier wissenschaftlich fundierten Berichten große Aufmerksamkeit gewidmet. Das ist sowohl der langjährigen Expertise Paul Lendvais geschuldet – und ist angesichts der dramatischen Entwicklungen in Budapest durchaus berechtigt. Mit Beiträgen wie Medienpolitik im Mafiastaat oder Willkommen in der illiberalen Demokratie entsteht ein düsteres Bild, das allen freiheitsliebenden Europäern eine warnende Pflichtlektüre sein sollte.


Jeff Mangione / KURIER / picturedesk.com

DIE weise Stimme Europas – Zum 90. Geburtstag von Professor Paul Lendvai

Seit Jahrzehnten analysiert er die politischen Vorgänge in Europa wie kein anderer und entlarvt dabei elegant Wölfe im Schafspelz.

Wenn seine sonore Stimme am Sonntag ertönt, weiß der Zuseher, die Zuseherin, nun geht es um ihn, um den Europäer und um Geschehnisse, die ihre und seine Welt beeinflussen.
Paul Lendvai moderiert, schreibt und vermittelt zwischen Ost- und Westeuropa seit beinahe sieben Jahrzehnten. Der 1929 in Budapest geborene Professor überlebte den Holocaust im Schutz der Schweizer Botschaft in Budapest, floh 1957 nach dem gescheiterten Volksaufstand in Ungarn nach Wien und wurde hier später unter anderem Chefredakteur der ORF-Osteuroparedaktion und Intendant von Radio Österreich International.
Er ist bekannt dafür, dass seine persönliche politische Einstellung seine Analysen nicht beeinflusst – er schwingt nicht die Moralkeule, er ist nicht wütend, und das macht Paul Lend­vais journalistische Arbeit umso wertfreier und wertvoller. „Wir kämpfen stets gegen das Böse“, sagte er vor Kurzem über die Arbeit der Journalisten.
In den letzten Jahren sind ihm die populistischen und rechtsnationalistischen Entwicklungen in Europa und ganz besonders in Ungarn ein Anliegen. Präzise wie ein Chirurg nimmt er unter anderem die dort propagierte illiberale Demokratie auseinander und zeigt dabei unerschrocken ihre Gefahren für die gesamte EU auf.
Professor Paul Lendvai wurde Ende August 90 Jahre alt, seine aufrichtige Stimme soll uns alle noch lange wachhalten. Wir gratulieren!
Boldog születésnapot!

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