„Ich bin ein Extremist der Mitte“

„Diesmal keine Witze!“ Ein ernstes Interview also hat sich Paul Chaim Eisenberg anlässlich seines 70. Geburtstags gewünscht. Coronabedingt ist dieser „Runde“ vergangenen Juni etwas ruhiger verlaufen als zuvor geplant, ein ziemliches Medienecho war dennoch zu vernehmen. Gleichzeitig hat der Oberrabbiner „Emeritus“ seine geräumige Wohnung als „Beith ha Midrasch“ für Interessierte geöffnet. Bei einem Rundgang durch dieses volle Lehrhaus sprechen wir über Kinder, Grenzen, Rauchen, Frieden und Bücher.

1451
Paul Chaim Eisenberg. „Ich habe zurzeit 30 Enkel, aber da kommt sicherlich noch was. Eigentlich wünsche ich mir 36.“ © Stefan Fürtbaue/picturedesc.com

WINA: Wie fühlst du dich jetzt, wo du deine große Familie, die im Ausland lebt, nicht sehen kannst und mehr zu Hause sein musst?
Paul Chaim Eisenberg: Wir reden und sehen uns sehr viel am Handy. Mein Plan ist, zu Chanukka nach Israel zu reisen. Ich habe zurzeit 30 Enkel, aber da kommt sicherlich noch was. Eigentlich wünsche ich mir 36. Ich habe einmal von einem Paar gehört, das nach der Schoah beschlossen hat, für sechs Millionen ermordete Juden sechs Kinder zu machen, und deren Kinder haben es ihnen dann nachgemacht. Ich habe auch sechs Kinder, habe aber bei deren Produktion eigentlich nicht an die Schoah gedacht.

Seit vier Jahren bist du in „Halbpension“, wie du es gern nennst. Wie hat das deinen Alltag verändert? Rabbiner bleibt man ja lebenslang, das lässt sich ohnehin nicht ablegen.
Genau. Geändert hat sich vor allem, dass ich die täglichen Bürostunden nicht machen muss, in denen man zum Teil mit Menschen konfrontiert wird, die glauben, dass der Rabbiner alles kann, was ich natürlich auch glaube. Im Ernst: Wenn ich gar nicht helfen kann, ist das frustrierend und schmerzt mich.

Das heißt, wenn du an deine Grenzen stößt?
Ich habe Grenzen, aber ich bin noch lange nicht dort angelangt. Grenzen, das ist ja überhaupt ein großes Problem der Juden heute. Wo werden zum Beispiel die Grenzen zwischen Israel und den Palästinensern sein? Ich persönlich glaube, wenn es einen Konflikt gibt, darf es keine Grenzen mehr geben, nur Knautschzonen. Ich bin also grenzenlos deppert. Wir beide sind in einer gemäßigten Welt aufgewachsen, aber die heutige Welt ist nicht gemäßigt. Früher dachte ich, nach dem Zweiten Weltkrieg wären die Kriege vorbei, aber es wird ja immer schlimmer. Ich sehe die Nachrichten und versteh’ vieles nicht. Wir leben in einer Zeit der Extreme, und es fehlt die Mitte. Ich bin ein Extremist der Mitte. In der Mitte gibt’s nur einen, und der bin ich. Ich hab’ zum Beispiel in der Früh mit einem Pater über christlich-jüdische Dinge geredet und am Abend mit einem chassidischen Juden Schabbes gemacht. Ich kann beides, denn ich mag eben keine Extreme.

»Ich möchte nicht ehemaliger Oberrabbiner genannt werden, sondern lieber Emeritus.«

Was geht dir durch den Kopf, wenn du Bilder von Anschlägen auf die Synagoge in Graz siehst?
Das war eine eindeutige Eskalation. Am ersten Tag hat er nur geschmiert, das nächste Mal schon die Fenster zerbrochen und beim dritten Mal den Präsidenten angegriffen. Da muss man rechtzeitig sagen, das geht nicht! Andererseits ist es nicht ganz so negativ zu sehen, wenn wir hören, dass sich alle, auch die Politiker, dagegen auflehnen. Was Antisemitismus betrifft, habe ich eine eigene Theorie. Heute werden die antisemitischen Ereignisse gezählt, aber nicht alle sind gleich zu bewerten. Wenn einer einem „Jude“ nachruft, ist das schlimm, aber wenn er „Saujude“ sagt, so ist das schlimmer. Ich mag vor allem keine Stehsätze. Wie z. B. Antisemiten bleiben Antisemiten, egal, was die Juden tun. Das stimmt wohl, aber es kann auch neue Antisemiten geben.

Du hast dich entschlossen, in deiner großen Wohnung ein Lehrhaus, ein Beit ha-Midrasch, einzurichten. Was findet da statt?
Wir lernen derzeit dreimal pro Woche bei Schiurim (gemeinsamer Unterricht) und Vorträgen. Ich würde theoretisch gern mehr tun, aber meine physische Grenze ist meine Stimme, weil ich viel rede und viel singe. Ich würde auch gern einmal Rabbiner David Eisenberg aus Manchester, meinen Sohn, zu einem Vortrag einladen. Im Talmud steht, am meisten lernt man von den Schülern, denn wenn die Schüler Fragen stellen, ist man gefordert. Deshalb unterrichte ich auch gerne. Dabei kommt es mir aber nicht darauf an, dass man z. B. beim Kaschrut die Regeln streng einhält, sondern, dass man sie versteht.

Viele Menschen aus unserer Gemeinde werden daheim einschlägige Bücher haben, ich meine jetzt nicht Gebetbücher, mit denen sie wenig anfangen können, weil ihnen die Voraussetzungen fehlen. Kann man diese bei dir einbringen?
Ich habe schon viele bekommen. Judith Weinmann hat mir zum Beispiel viele Bände aus der Bibliothek ihres Vaters Desider Stern gegeben, die stehen in diesem Regal. (Wir gehen von Raum zu Raum) Hier ist die englischsprachige Bibliothek meiner Frau, und hier, in den ehemaligen Kinderzimmern, sind auch noch Kinderbücher und viele Fotos meiner Familie. Da hab’ ich die Betten gelassen, damit die Kinder, falls sie doch kommen, ihren Platz haben. In der Lade da sind sogar noch die Tagebücher meiner Tochter aus ihrer Schulzeit. Und das ist mein Musikzimmer, hier stehen meine jüdischen Platten, CDs etc. Für mich exklusiv hab’ ich nur die Küche, Badezimmer und mein Schlafzimmer behalten. Überall stapelt sich alles. Ich habe in dieser Wohnung noch hundert Jahre aufzuräumen.

»Wenn es einen Konflikt gibt, darf es keine Grenzen geben, nur Knautschzonen.«

Kannst du das alleine machen, oder brauchst du Assistenz?
Ich habe das sehr auf mich zugeschnitten, ich brauche eigentlich keine Hilfe und will auch nicht damit beginnen, aber ich habe doch einige, die mir helfen. Ich bin fast immer da und für jeden, der kommen will, offen, aber nur mit begrenzter Zeit, da hab’ ich eine Schmerzgrenze. Meine Eltern haben hier mit uns seit meinem 15. Lebensjahr gelebt, und ich kann mich von dieser Wohnung nicht trennen. Ich hab’ dem Beit ha-Midrasch noch keinen Namen gegeben, aber ich könnte mir vorstellen, es nach meinem Vater Akiba Eisenberg zu nennen.

Du öffnest also deine Bibliothek. Könnte man sich bei dir auch Bücher ausleihen?
Nein, man kann mich überreden und sie hier lesen. Aber das ist keine Leihbibliothek, und ich sage dir auch, warum. Ein berühmter israelischer Rabbiner, der eine herrliche Bibliothek hatte, hat gesagt: „Ich borge keine Bücher her, denn ich weiß, wie meine Bibliothek entstanden ist.“

Du hast einmal gesagt, dass du „Influencer“ werden möchtest. Was verstehst du darunter?
Rabbiner waren immer schon Influencer, aber ich will den Menschen nichts aufzwingen. Ich will sie bei den Mizwot im zwischenmenschlichen Bereich beeinflussen und ihnen sagen, sie sollen gescheiter sein als ich. Und ich möchte meine Gedanken unter die Leute bringen und mache das eben auf meine Art. Ich hab drei Ziele: Das Lernen ist das erste. Zweitens will ich, dass niemand mehr raucht, wenn ich 120 bin, das ist eines meiner Meschiggas (Verrücktheiten), und ich bin bereit, mich dafür lächerlich zu machen. Mein drittes Anliegen ist der Frieden, dafür kämpfe ich kompromisslos, aber natürlich kann ich gar nichts machen. Friede ist keine Liebesbeziehung, es ist genug, wenn man sich nicht beschießt, wie das mit wenigen Ausnahmen seit Langem zwischen Israel und Jordanien oder Ägypten der Fall ist, auch wenn das „kalter Friede“ genannt wird.

Du hast dir vor einiger Zeit gewünscht, das 200-jährige Jubiläum des Stadttempels im Jahr 2026 noch als Oberrabbiner zu erleben. Wie siehst du das jetzt?
Jetzt will ich das einfach noch erleben. Ich möchte aber nicht ehemaliger Oberrabbiner genannt werden, sondern lieber „Emeritus“, das ist viel schöner, denn es bedeutet, dass man noch immer studiert und unterrichtet, und das ist ja beim Rabbiner der Fall.

Du hast mehrere erfolgreiche Bücher geschrieben, mit und über Weisheit und Witz, und arbeitest schon an deinem nächsten. Diesmal ohne Witz?
Beim Humor muss man aufpassen, er kann manchmal sehr verletzend sein. Aber ganz political correct will ich auch nicht sein. Ich schreibe immer kleine Bücher mit großen Buchstaben, bisher drei. Als viertes wollte man meine Autobiografie, aber das hat mir nicht so gefallen. Ich schreibe lieber meine Memoiren, nicht chronologisch, eher logisch. Und ich habe einen sensationellen Lektor, der mir dabei hilft. Es wird Wenn der Rebbe … heißen.

HINTERLASSEN SIE EINE ANTWORT

Please enter your comment!
Please enter your name here