Wie alles begann: Gleich im ersten Beitrag schildert der Journalist und Autor Amir Tibon, wie es war, an diesem 7. Oktober des Vorjahres durch den Alarm, der vor einer Granate warnte, aufzuwachen, etwas, das in Nahal Oz nichts Ungewöhnliches ist, und dennoch sollte an diesem Tag alles anders sein. Seine Frau und er sprangen aus dem Bett und rannten in den Sicherheitsraum des Hauses, der auch Schlafzimmer der beiden Töchter ist. Dann begannen sie mit Nachbarn zu kommunizieren, mit der Familie in Tel Aviv, per Textnachrichten, um die Kinder so lange als möglich nicht zu wecken und, als sie dann doch irgendwann erwachten, nicht zu beunruhigen. Denn als Tibon und seine Frau Maschinengewehrsalven hörten, war ihnen klar, was da vor sich ging, und sie wussten: Die Kinder mussten still bleiben. Nichts sollte auf ihre Anwesenheit hinweisen.
Die Schriftstellerin Ayelet Gundar-Goshen schlüpft in ihrem Text mehr in ihre andere Profession, sie ist auch Psychologin. Nach dem 7. Oktober arbeitete sie mit Überlebenden des Massakers, „was kaum eine andere Perspektive als Schmerz zuließ. Und doch entdeckte ich dabei, wie sehr die Genesung der Überlebenden von der wiedergewonnenen Fähigkeit abhängt, der Wirklichkeit ins Auge zu schauen und ein kohärentes Bild davon aufzubauen.“
In den vergangenen Monaten erhielt sie aber auch ein ums andere Mal eine Bestätigung dafür, was sie als Psychologin ohnehin weiß: „Psychologische Hilfe kann das Trauma nicht auslöschen. Es steht nicht in unserer Macht, die Wirklichkeit zu ändern. Wir können diesen Menschen niemanden zurückbringen, nicht ihre Kinder, die vor ihren Augen verbrannten, nicht ihre Freunde, die neben ihnen erschossen wurden, nicht ihre Partnerinnen, die vergewaltigt und ermordet wurden. Terrorangriffe zielen nicht nur darauf, möglichst viele Menschen umzubringen, sondern sollen auch die Seelen der Überlebenden abtöten.“ Und da ist dann auch noch dieses Gefühl von Schuld. „Viele Überlebende meinen, sie hätten es verdient zu leiden, zur Strafe dafür, dass sie überlebt haben, während ihre Lieben gegangen waren.“ All das kennt man aus der Literatur zum Holocaust.
„… der Wirklichkeit ins Auge zu schauen und
ein kohärentes Bild davon aufzubauen“
Ayelet Gundar-Goshen
Gräben, die immer größer werden. Die Journalistin Andrea Livnat macht ihre Betrachtungen an zwei neuen Plätzen in Tel Aviv fest: dem „Platz der Demokratie“, entstanden im Zug der Proteste gegen die Justizreform der Regierung unter Premiere Benjamin Netanjahu, und dem „Platz der Entführten“, dem Ort, an dem sich bis heute regelmäßig die Angehörigen der Geiseln zusammenfinden. „Der Platz macht den Schmerz der Familien, aber auch das Trauma der ganzen Nation greifbar.“
Mit dem 7. Oktober habe sich die Bevölkerung, die vorher gespalten gewesen sei, geeint, man sei zusammengestanden, habe sofort angepackt, einander geholfen. Gibt es eine Aussicht, dass die Einheit, die Verbundenheit des Kriegsalltags bestehen bleibe, fragt Livnat. Und antwortet: „Ich bin pessimistisch. Zu groß sind die Gräben bereits heute wieder.“
Wirklich pessimistisch stimmt aber der Beitrag von Gershon Baskin, einem langjährigen Friedensaktivisten und Leiter der Nahostabteilung der International Communities Organisation. Er ist Initiator des seit 18 Jahren bestehenden inoffiziellen diplomatischen Kanals zwischen Israel und der Hamas. Noch am 7. Oktober 2023 textete er an seinen Kontakt Ghazi Hamad, bereits am 8. Oktober schrieb er, „die Hamas sollte alle Frauen, Kinder und alten Menschen freilassen. Das verlangt die Menschlichkeit.“ In der Folge lässt er die Lesenden an dem über drei Wochen erfolgten Bemühen, einen Geisel-Deal einzufädeln, Teil haben.
Er lernte Hamad im Zuge des Deals zur Freilassung des 2006 verwundeten und nach Gaza verschleppten Soldaten Gilad Shalit kennen. Hamad war damals stellvertretender Außenminister der HamasRegierung.
Im Zuge der Kommunikation stellt sich heraus, dass Hamad sich gar nicht in Gaza aufhält, sondern in Beirut. Ab dem 26.Oktober antwortete er Baskin nicht mehr. Am 1. November gab er dem libanesischen Fernsehen ein Interview, in dem er den Terrorangriff voll und ganz rechtfertigte und viele weitere ankündigte, bis Israel vernichtet wäre. „Am folgenden Tag, nach seinem abscheulichen Interview mit dem libanesischen Fernsehen, schickte ich meinen Brief an Ghazi Hamad. Nach über 17 Jahren Kontakt ist der Mann, den ich schon so lange kenne, ein anderer geworden, einer, der seine Leute in Gaza im Stich gelassen hat – und jetzt der offizielle Hamas-Sprecher für diesen Krieg ist.“
Dachs hätte in diesem Band, in dem noch viele andere Aspekte dieses Kriegsjahres verhandelt werden, auch gerne palästinensische Stimmen zu Wort kommen lassen. „Diese Perspektive wäre uns sehr wichtig gewesen.“ Doch keine:r der angefragten palästinensischen Autorinnen und Autoren sagte schließlich zu.
Ja, keine guten Aussichten. Und dennoch sollte der Almanach Pflichtlektüre sein. Es hat noch nie geholfen, die Augen vor der Realität zu verschließen.