77 Jahre nachdem das Universitätsklinikum in Hamburg ihr den Doktortitel verweigerte, erhielt ihn Ingeborg Rapoport bei einem Festakt mit 150 zutiefst berührten Gästen, darunter zahlreiche Journalisten. Das enorme Interesse an dieser Promotion überstieg alle Erwartungen. Denn die 102-jährige Rapoport ist wohl die älteste Doktorandin der Welt. Sie hat dennoch die Doktorprüfung über Diphterie mit der zweitbesten Note, „magna cum laude“, bestanden, die ihr die Nazis aufgrund ihrer jüdischen Abstammung 1938 verweigerten. Initiiert hat die Promotion der Dekan der Medizinischen Fakultät, Uwe Koch-Gromus, der von Rapoports Fall erfuhr. Weil ihm die Aufarbeitung der Nazi-Geschichte seiner Universität am Herzen liegt, ermöglichte er diese Prüfung. Erst im März konnten die Rapoports den Beweis für die abgegebene Doktorarbeit erbringen. Rapoports Doktorvater bestätigte darin, dass sie eine Arbeit angefertigt hat, die von ihm als Doktorarbeit angenommen worden wäre, „wenn nicht die geltenden Gesetze wegen ihrer Abstammung die Zulassung zur Promotion unmöglich machten“.
Zehn Tage nach der Prüfung besuchte ich Rapoport in ihrem kleinen Einfamilienhaus im Osten Berlins. Die freundliche und neugierige Frau mit dem weißen Schopf öffnete die Eingangstür, schaltete das Telefon aus, das andauernd klingelt, und führte in ihr schlicht und altmodisch möbliertes Wohnzimmer, das wie ein Stück DDR wirkt. Sie erlaubte mir auch einige Fotos im großen Garten – unter der Bedingung, dass ich sie halte, denn sie kann kaum noch sehen. Von Igal Avidan
WINA: Seit dem Tod Ihres Mannes Mitja 2004 wohnen Sie allein. Wie kommen Sie zurecht?
Ingeborg Rapoport: Ich komme zurecht. Ich bin zwar heruntergezogen, mein Schlafzimmer war oben. Ich bin vorher immer die Treppe rauf und runter gegangen. Das kann ich auch noch, aber mit Unsicherheit. Daher haben wir beschlossen, dass ich lieber hier unten lebe. Eine sehr nette Frau kommt zweimal in der Woche jeweils für vier Stunden. Sie kauft für mich ein und kocht für mich, ist taktvoll und sehr lieb. Dann habe ich auch Kinder hier, vor allem die beiden Töchter, aber auch viele jüngere Menschen um mich, zum Beispiel ein Volontär vom VVN, der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen.
Was machen Sie gern?
❙ Ich höre Hörbücher, mindestens sechs Stunden pro Tag. Aus dem Haus gehe ich nur, wenn jemand mit dabei ist, auch wenn ich durch den Garten gehe. Den pflegt ein Freund, der eigentlich Jurist ist.
Was hat Sie dazu bewogen, im Mai Ihre aus dem Jahr 1938 stammende Doktorarbeit zu verteidigen?
❙ Der Dekan wollte „wiedergutmachen“ und hat sich mit dem Justiziar viel Mühe gemacht zu erfahren, wie er mir nach den vielen Jahren zum Titel verhelfen könnte. Für mich hat es keine Rolle mehr gespielt, denn ich bin seit 40 Jahren aus dem Beruf heraus und habe nicht darum angesucht.
Warum haben Sie sich nicht mit einem Ehrentitel zufriedengestellt?
❙ Das wollte ich nicht, aber er auch nicht. (Koch-Gromus sagt dazu, er finde einen Ehrentitel unangemessen, weil Ehrentitel nur an Menschen verliehen werden, die wissenschaftliche Leistungen der Universität Hamburg oder der UKE gegenüber erbracht haben, und darum ging es bei Rapoport nicht, sondern um die Wiederherstellung des versagten Rechts der Promotion).
Wie bereitet man sich in diesem Alter auf die mündliche Prüfung vor?
❙ Ich kann nicht sehen, bin praktisch blind und musste mir durch zwei Freunde und meine Schwiegertochter Hilfe holen. Sie sind alle Wissenschaftler und haben für mich im Internet recherchiert, was sich seit damals auf diesem Gebiet getan hat. Das habe ich wie ein Schüler gelernt, immer durch Nachfragen. Da ich ein visuelles Gedächtnis habe und kein akustisches, war es natürlich viel schwerer als sonst.
Waren Sie aufgeregt bei der Prüfung?
❙ Wahnsinnig. Aber schreiben Sie nicht „wahnsinnig“. Ich war sehr aufgeregt, weil ich für mich selber aufgeregt war – es war eine andere Situation, als ich je gehabt hatte – auch für den Dekan. Ich wollte ihn ja nicht enttäuschen.
Was hätte sie getan, wenn sie durchgefallen wäre?
❙ Ich hatte das Gefühl: Durchfallen werde ich nicht! Ich meine, etwas würde ich wohl produzieren können. Aber ich wusste natürlich nicht, wie anständig das ausfallen würde.