„Ich habe furchtbare Angst, dass das wieder passiert“

3182

WINA sprach mit der Wiener Stadtschulratspräsidentin Susanne Brandsteidl über ihren diesjährigen Besuch in der KZ-Gedenkstätte Auschwitz, Holocaust Education an Wiens Schulen und islamischen Antisemitismus unter Jugendlichen. Interview: Alexia Weiss

WINA: Sie haben dieses Frühjahr am „March of the Living“ teilgenommen. War das Ihr erster Besuch in der KZ-Gedenkstätte Auschwitz?

Susanne Brandsteidl: Nein, ich war vorher schon zwei Mal privat dort, das erste Mal vor etwa zehn Jahren, an einem trüben Novembertag, zu Allerheiligen.

Worin lag der Unterschied in Ihrer Wahrnehmung, als Sie privat in Auschwitz waren und nun im Rahmen des Gedenkmarsches?

❙ Es ist gut, dass es March of the Living gibt. Aber der Eindruck ist, wenn man alleine dort ist, noch intensiver. Ich habe inzwischen einige Gedenkstätten besucht, auch, weil mein Sohn gerade in Sachsenhausen bei Berlin Gedenkdienst macht und ich über Ostern mit ihm in seiner Gedenkstätte war. An diesem Tag fegte der Sturm „Niklas“ über Deutschland, und da ist es auch in der Gedenkstätte zu Schneeverwehungen gekommen. Das war schon sehr gespenstisch. Und ich habe auch meinen ersten Auschwitz-Besuch als sehr düster, kalt und gespenstisch in Erinnerung. Dieser Tag mit March of the Living war nun sehr stark, ich will nicht sagen touristisch, aber doch sehr stark Event-orientiert. Und das ist gut, um Jugendliche dorthin zu bringen. Ich glaube aber, dass ein individuelles Erleben intensiver ist.

“„Ich

kann man nicht früh genug beginnen.““ font_container=“tag:h3|text_align:left|color:%000″ google_fonts=“font_family:Droid%20Serif%3Aregular%2Citalic%2C700%2C700italic|font_style:400%20italic%3A400%3Aitalic“]

Ich habe ein bisschen ein Problem – was hier nicht so war, aber doch vorkommt – mit dem unvorbereiteten Besuch von Jugendlichen in Gedenkstätten. Ich habe das Bild von Wurstsemmel kauenden Gruppen vor mir, was oft nicht der Fall ist, weil die Jugendlichen dann gar nicht dazu fähig sind zu essen, aber ich glaube eben, dass man sensibel mit Stimmungen umgehen muss. March of the Living ist aber ein guter Event, vor allem für die vielen, vielen Hinterbliebenen und Verwandten von Hinterbliebenen. Und ich denke, es ist gerade für Jugendliche aus Österreich ein Anstoß, eines Tages wieder individuell hinzureisen.

Man nimmt von solchen Orten auch oft etwas für sich persönlich mit. Welches Gefühl haben Sie aus Auschwitz mitgebracht?

❙ Ich habe furchtbare Angst, dass das wieder passiert. Und ich verstehe es da übrigens gar nicht, warum bestimmte politische Gruppierungen an Gedenkveranstaltungen in Österreich nicht teilnehmen. Das betrifft nicht nur den March of the Living.

Damit meinen Sie die FPÖ.

❙ Ich meine die FPÖ. Sonst nehmen ja alle Parteien teil.

Das Projekt „March of the Living“ gibt es schon seit einigen Jahren. Viele Wiener Schulklassen sind bereits nach Polen gefahren, um an den Gedenkfeierlichkeiten teilzunehmen. Was hören Sie dazu aus den Schulen?

Susanne Brandsteidl verantwortet als amtsführende Stadtschulrätin Wiens seit fast 15 Jahren zahlreiche Projekte im Bereich Holocaust Education.
Susanne Brandsteidl verantwortet als amtsführende Stadtschulrätin Wiens seit fast 15 Jahren zahlreiche Projekte im Bereich Holocaust Education.

❙ Wir haben ja auch Schülergruppen dort getroffen. Es bietet, glaube ich, durch die Vor- und die Nachbereitung eine sehr intensive Auseinandersetzung mit dem Thema Holocaust. Der Genius loci ist ja nicht nur sehr berühmt, sondern bei dieser Reise eben stark spürbar und wirksam, und man erkennt die internationale Dimension. Die internationale Organisation hinter diesem Event ist sehr strukturiert. Man hat das Gefühl, man ist hier mit dem Gedenken, mit dem „niemals vergessen“ nicht alleine. Das bringt auch wiederum Stärke mit sich.

Mehr Wiener Schulen fahren allerdings nach Mauthausen als nach Auschwitz. Dort wurden inzwischen die Gedenkstätte neu gestaltet und das pädagogische Konzept überarbeitet. Welche Rückmeldungen haben Sie hier von den Lehrerinnen und Lehrern?

❙ Ich war ja jetzt auch bei der Feier anlässlich der Befreiung von Mauthausen vor 70 Jahren. Ich glaube es ist fast ein Regelausgang geworden und dass es kaum Schulen gibt, die nicht nach Mauthausen fahren. Daher gibt es auch keine großen Rückmeldungen, vielleicht auch, weil das Erleben der Todesstiege nach wie vor der brisanteste Moment ist, so overwhelming, wie die Briten sagen, daran hat sich ja nichts geändert.

Die Todesstiege ist also nach wie vor der nachhaltigste Eindruck, den man aus der KZ-Gedenkstätte Mauthausen mitnimmt.

❙ Das würde ich so sagen.

Wie sieht Ihrer Meinung nach eine geglückte Auseinandersetzung mit der Schoah in der Schule aus? Was ist dabei zu berücksichtigen?

❙ Da ist der Besuch von Gedenkstätten schon ein wichtiges Element, weil das Erleben des Ortes, dieses Erleben der Baracken schon sehr bedrückend ist. Und Vermittlung gelingt gut, wenn sie über Individualisierung passiert. Kollektives Erzählen ist nicht der richtige Zugang. Ich möchte da kurz etwas Persönliches erzählen: Mein Sohn ist bei diesem Thema sehr sensibel. Er war im Jänner mit einer Gruppe des Deutschen Bundesrates von Berlin aus in Auschwitz, bei dieser Fahrt haben Jugendliche verschiedener Nationen, die zu diesem Zeitpunkt in Berlin waren, teilgenommen. Und er hat danach gesagt, „wir haben alle durchgeweint.“ Und ich denke, wenn man diese Berge von Haaren, die Koffersammlung und all das in Auschwitz sieht, dann wird man nie mehr ein Nazi sein. (Kurze Pause.) Let’s hope so.

Holocaust Education ist insgesamt ein sehr sensibler Bereich, bei dem sich auch die Frage stellt: Wann fängt man damit an? Der Lehrplan sieht eine erste Begegnung mit diesem Kapitel der Geschichte in der vierten Klasse Volksschule vor. Ist das verpflichtend, oder liegt hier eine Thematisierung im Ermessen der Pädagogen?

❙ Ja, eine erste Auseinandersetzung ist in der vierten Schulstufe vorgesehen. Aber es hängt sicher von der jeweiligen Klasse ab. Spontan möchte ich dazu sagen: Ich befürworte ein frühes Thematisieren. Ich glaube, mit der Immunisierung der geistigen Festplatte, was diesen Teil der österreichischen Geschichte betrifft beziehungsweise der europäischen Geschichte, kann man nicht früh genug beginnen.

Viele Schulen arbeiten immer wieder an Projekten zur NS-Zeit. Welches Projekt ist Ihnen besonders gut in Erinnerung geblieben?

A Letter to the Stars!

Und Projekte, die von Schulen ausgegangen sind?

❙ Wasagasse, Gedenktafel. Karajangasse, das war ja selbst eine so genannte Sammelschule, wo versucht wurde, Biografien zu recherchieren.

Da sind wir wieder bei der Individualisierung.

❙ Es geht, glaube ich, eben immer um Individualisierung. Viele Schulen haben Projekte, die dahin gehen: Was ist aus den Schülern geworden, die vertrieben worden sind? Frederic Morten hat zum Beispiel am Akademischen Gymnasium gelesen, Ari Rath war an vielen Schulen zu Gast. Schulklassen waren wiederum in Die letzten Zeugen am Burgtheater. Es passiert viel.

Gibt es seitens des Stadtschulrats gezielte inhaltliche Hilfestellung im Bereich Holocaust Education?

❙ Lehrerfortbildung passiert an den Pädagogischen Hochschulen. Wir haben aber eine Reihe von Inspektoren, denen dieses Thema ein besonderes Anliegen ist. Michael Sörös zum Beispiel war vorher schon als Schuldirektor sehr engagiert und hat eine besondere Beziehung zu Zeitzeugen aufgebaut. Viele Lehrerinnen und Lehrer nehmen an den Exkursionen nach Yad Vashem teil. Außerdem gibt es Exkursionen nach Krakau, um Auschwitz zu sehen, aber auch das jüdische Krakau zu besuchen.

Die Schoah ist ein psychisch sehr belastendes Thema. Gibt es hier psychologische Hilfestellung, falls ein Kind die Auseinandersetzung damit nicht verkraftet?

❙ Ja, aber nicht speziell auf das Thema Holocaust bezogen.

Hier ist also auch die Schulpsychologie zuständig.

❙ Ja, das fällt in den Aufgabenbereich der Schulpsychologie. Beim March of the Living waren aber zum Beispiel auch Psychologen mit vor Ort.

Die Wiener Schülerschaft ist sehr divers – da gibt es auch Mädchen und Buben, die ihre eigene Flucht- und Verfolgungsgeschichte mitbringen.

❙ Das wollte ich gerade sagen, die psychologische Unterstützung unterscheidet sich hier nicht.

Soll der Unterricht, der sich mit dem Holocaust auseinandersetzt, anders gestaltet werden, wenn Kinder, die Krieg oder Verfolgung selbst erlebt haben, in der Klasse sitzen?

❙ Nein, ich glaube nicht, dass man dann etwas anders machen muss. Die Auseinandersetzung mit dem Thema an sich ist wichtig und gehört gemacht.

Auf der anderen Seite sind wir nun in Wien in der Situation, dass manche der Migrantinnen und Migranten aus Ländern kommen, in denen der Antisemitismus sehr stark ist und die so Antisemitismus nach Österreich importieren. Das spüren zum Beispiel jüdische Jugendliche, die eine Lehre absolvieren und dabei die Berufsschule besuchen. Aber auch jüdische Inhaber kleiner Geschäfte berichten immer wieder von antisemitischen Pöbeleien durch Jugendliche in ihrem Arbeitsalltag. Ist das eine Entwicklung, der sich die Schule annehmen muss?

❙ Ja, das sehen wir auch. Wenn Jugendliche in unserem Radikalisierungsnetzwerk auffällig werden, ist das meist ein klassisches Charakteristikum. Es gibt Einzelfälle, die dann sogar auch bei mir im Büro landen. Da gilt es aber, wie in allen anderen Bereichen, wo es um Jugend und Menschenrechte geht: Es ist mir völlig gleichgültig, warum man jemanden ausgrenzt, warum man in diesem Fall antisemitische Äußerungen tätigt. Das ist a) nicht zu dulden, und b) sind immer die klaren Grenzen der österreichischen Verfassung und der österreichischen Gesellschaft aufzuzeigen. Wir sind gerade mit unserer Geschichte ein Land, das da sehr sensibel reagiert. Wir wehren den Anfängen, also wehren wir den Anfängen – Thomas Bernhard hat schon Recht –, wenn es um antisemitische Äußerungen autochthoner Österreicher geht, und wir wehren den Anfängen, wenn es um antisemitische Äußerungen von nicht in Österreich Geborenen geht. Das macht in der Wirkung und auch in der Vorgangsweise aus meiner Sicht keinen Unterschied. Ich glaube aber schon, dass das so genannte Verstehen nicht zu weit gefasst sein darf. Ich denke, man muss ganz vehement einschreiten und gleich von Anfang an klarstellen, dass die österreichische Gesellschaft das nicht mitträgt und dass Integration anders aussieht. Aber ja, Sie haben leider völlig Recht, wir haben diese Fälle, und ich war eigentlich fast ein bisschen schockiert darüber, in welch großem Ausmaß wir sie haben.

Was bedeutet das konkret: ein großes Ausmaß?

❙ Verstehen Sie mich nicht falsch: Es sind Einzelfälle. Aber vor fünf Jahren bin ich davon ausgegangen, dass das an Wiener Schulen nicht vorkommt. Und nun sehe ich, es gibt immer wieder Fälle.

Susanne Brandsteidl wurde 1963 geboren. Sie studierte Sprachwissenschaften, machte als Lehrerin  für Deutsch und Geschichte sowie Leiterin eines Tagesschulheims erste Erfahrungen im Schulwesen und arbeitete als Schullektorin im Verlag Jugend und Volk. 1994 wechselte die Pädagogin als Leiterin des Referates für allgemein pädagogische und schulwissenschaftliche Angelegenheiten der AHS in den Wiener Stadtschulrat; seit 2001 ist Susanne Brandsteidl  amtsführende Präsidentin des Stadtschulrats.

Bilder: © Daniel Shaked

HINTERLASSEN SIE EINE ANTWORT

Please enter your comment!
Please enter your name here