„Ich habe noch gar nichts abgeschlossen“

Anna Mendelssohn zählt zu den bekanntesten und facettenreichsten Vertreterinnen der freien Wiener Theater- und Performancelandschaft. Seit mehreren Jahren studiert die zweifache Mutter zudem systemische Familientherapie an der Wiener Sigmund-Freud-Privatuniversität. Ein doppelt herausfordernder Weg, der der klugen, nachdenklichen und stets selbstkritischen Künstlerin nur scheinbar in die Wiege gelegt wurde.

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Anna Mendelssohn zählt zu den vielseitigsten Künstlerinnen der freien Wiener Theater- und Performanceszene.© Thomas Marschall

Wir treffen einander in einem Wiener Innenstadttouristencafé, in das wir uns wohl privat nicht verirren würden. Es liegt aber gut auf dem Weg von Anna Mendelssohn, die zwischen Tanzprobe, Therapiesitzung und Abendvorstellung am Theater, dem Wohnsitz am Rande der Stadt und ihren vielen täglichen anderen Stationen eine intensive Stunde Zeit für unser Gespräch findet. In einem Interview anlässlich eines ihrer letzten eigenen Theaterprojekte, Trriggerrring – the Feminist Voice (2018) verriet die vielseitige Künstlerin und Therapeutin in Ausbildung, dass für ihre Arbeiten das „Überschreiten von Identitäten, Forderungen, Einschränkungen und Definitionen“ im Zentrum stehe. Auf die Frage, ob das auch für sie persönlich gelte, muss Anna Mendelssohn nachdenken. Nein, eigentlich nicht, meint sie zuerst, um dann doch rasch zu relativieren: „Ich habe oft das Gefühl, ich bin so viele Dinge gleichzeitig.“ Dazu hat sie im Laufe ihres Lebens auch oft die Gelegenheit bekommen, „und vielleicht habe ich diese einfach gut genutzt.“
Anna Mendelssohn ist die Tochter des Psychoanalytikers Felix de Mendelssohn und der Theaterschaffenden Jutta Schwarz. Auf das Judentum ihrer Großeltern und ihres Vaters angesprochen, korrigiert Mendelssohn gleich zum Einstieg des Gesprächs: „Meine Großmutter stammte aus einer gänzlich assimilierten Familie, war christlich getauft und ging in die Kirche. Sie war wesentlich katholischer, als sie jemals jüdisch war. Tatsächlich ist mein Vater also überhaupt nicht jüdisch aufgewachsen.“ Pessach wurde in der Kindheit dennoch immer gefeiert, „aber ich habe zum Beispiel keine Ahnung, wie man Chanukka feiert“, gesteht sie.
Felix de Mendelssohn wurde 1944 im englischen Exil der Eltern geboren. In den 1970er-Jahren ging er vorerst nach München, wo er die Schauspielerin Jutta Schwarz kennen lernte. Das Paar machte sich schon bald auf eine gemeinsame Weltreise. Türkei und Syrien zählten zu den vielen prägenden Stationen, aber auch Israel, „wo sie knapp zwei Jahre lang lebten und wo auch mein Bruder geboren wurde“. In Israel lernte Felix de Mendelssohn auch „das Judentum für sich kennen und schätzen“, erinnert sich seine Tochter. „Schon auch als Religion, nicht nur als Lebensweise. Wobei zu betonen ist, dass mein Vater generell sehr an Religionen interessiert war.“ Nach mehrjährigen Reisen zog die Familie schließlich nach Wien, wo Anna Mendelssohn 1976 geboren wurde.

»Was passiert in den Nuancen,
wenn man
etwas ein wenig anders sagt oder den,
die anderen missversteht?«

Anna Mendelssohn

Vom Tanz zum Theater. Es ist vor allem der Tanz, der Anna schon als Kind besonders interessiert, und ihre Mutter fördert dieses Interesse von Beginn an. Als Hilde Spiel ihre Enkelin dann aber für die Tanzschule der Staatsoper anmelden will, lehnen das beide Elternteile doch mit einiger Vehemenz ab.
Es ist eine intensive persönliche Begegnung, der die damals 21-Jährige Studentin der Psychologie einige Jahre später auf einer Reise nach New York das Verständnis für zeitgenössische Kunst verdankt. Rasch wird ihr klar, „dass das Lehrangebot an der Universität nichts für mich war, und mit 23 Jahren habe ich dann mein Psychologiestudium hingeschmissen und bin nach England gegangen, um dort Schauspiel zu studieren.“ Zwei renommierte Colleges, zuerst in Dartington und danach in Bretton Hall, besucht sie in den folgenden drei Jahren. Die Entscheidung, in England zu studieren, hatte dabei doch einiges mit der prägenden Figur der Großmutter zu tun. Hier leben auch heute noch Hilde Spiels Tochter und enge Jugendfreunde des Vaters. „Ich hatte das Gefühl, dass England ein Stück Heimat ist, an dem ich auch so etwas wie Wurzeln habe. Ein Ort, den ich kenne.“
2004 kommt es zum nächsten entscheidenden Schritt in Anna Mendelssohns Leben. Das Studium ist fast zu Ende und die Schauspielerin auf der Suche nach einem Engagement, da erhält sie einen Anruf von Kornelia Kilga, die wenige Jahre zuvor mit dem israelischen Regisseur Yosi Wanunu toxic dreams gegründet hat. Eine Schauspielerin sei ausgefallen, und es wird dringend – und rasch – nach Ersatz gesucht. Mendelssohn kehrt nach Wien zurück – und ist seither festes Ensemblemitglied der zuletzt im November 2019 mit dem Nestroy-Preis ausgezeichneten Theaterformation. Die Begegnung mit Wanunu nennt Mendelssohn heute dankbar eine „Liebe auf den ersten Blick“. „Yosi Wanunu liebt die Ensemblearbeit“, gerät Mendelssohn ins Schwärmen, „und ich habe in diesen Jahren gelernt zu verstehen, warum, denn es entwickelt sich ein derart großes Vertrauen, eine Intimität, die vieles erleichtert. Man erspart sich viele Missverständnisse.“

Eigener künstlerischer Weg. Trotz des bis heute anhaltenden Erfolgs der Gruppe hat Anna Mendelssohn vor zehn Jahren aber doch das Gefühl, eigene Projekte initiieren und realisieren zu wollen. Dass ihre „Soloklimagipfelkonferenz“ Cry Me A River (2010) dann ein derartiger Erfolg werden würde und heute noch auf internationale Gastspiele eingeladen wird, gehört zu den immer wieder unerwarteten Glücksfällen im Leben der Künstlerin. Dabei war der Auslöser alles andere als erfreulich, verrät sie: „Es war ein sehr komischer Moment in meinem Leben. Ich war privat in einer Krisensituation und habe viel geweint – und zeitgleich habe ich im Radio über das Schmelzen der Gletscher, CO2 und Klimawandel gehört. Ich wollte dazu einfach mehr wissen, mich auskennen, es verstehen – und ich wollte, neben der sehr performativen Arbeit mit toxic dreams, auch einmal einen Monolog machen. Ich wollte wissen, was kann ein Monolog heute sein.“ Regie führte auch hier, wie bei den meisten ihrer eigenen Projekte seither, Yosi Wanunu. Doch die Form der Zusammenarbeit ist eine gänzlich neue und für jedes Projekte andere: „Ich bespreche mit Yosi meine Konzepte, erzähle, was ich recherchiere und wo meine Gedanken hingehen. Und gemeinsam überlegen wir dann Umsetzungs- und Inszenierungsformate“, erläutert Mendelssohn, die auch in verschiedenen anderen Konstellationen mit zahlreichen in Österreich wie international tätigen Künstler*innen kollaboriert. Aktuell ist sie etwa am TAG – Theater an der Gumpendorfer Straße in Dorian Gray – Die Auferstehung in der Regie der Avantgardefilmemacherin Mara Mattuschka zu sehen, im März in Oceans of Notions (swimming) der Tänzerin und Choreografin Anna Nowak im WUK (siehe auch KulturKalender, S. 54).

Liebe zur Sprache. Vor wenigen Jahren begann die zweifache Mutter neben all ihren künstlerischen Projekten mit dem Studium der systemischen Familientherapie. „Es war ja eigentlich mein alter, ursprünglicher Weg, zu dem ich zurückgekommen bin“, erzählt sie über ihre Entscheidung. Ein zusätzlicher Grund ist auch, dass das Leben als Künstlerin „existenziell schwierig“ ist, „ein lebenslanger harter Kampf, bei dem man auch oft verliert“. „Mir war immer klar, dass ich so um die 40 einen anderen Weg beginnen muss, ein zweites Standbein aufbauen muss.“
Anna Mendelssohn liebt ihr neues Arbeitsfeld, zu dem sich auch ihre besondere Liebe zur Sprache auf ideale Weise fügt. „In der Psychotherapie ist auch die Sprache sehr wichtig, das genaue Hinhören und nochmal genauer Hinhören“, erklärt sie einen wesentlichen Aspekt ihres Tätigkeitsgebiets und ergänzt: „Das ist mir als Schauspielerin und ganz stark in meinen eigenen Arbeiten zu politischen Themen auch immer wichtig gewesen: Wie reden wir, was meinen wir eigentlich damit? Was passiert in den Nuancen, wenn man etwas ein wenig anders sagt oder den, die anderen missversteht?“ Wenn es um ihre im Laufe des Lebens stetig gewachsene Nähe zur Sprache geht, „bin ich sehr von meiner Großmutter geprägt. Und auch von meinem Vater“, ist sich Anna Mendelssohn heute sicher.
Es liegt, hört man Anna Mendelssohn aufmerksam zu, viel Freiheit in der Art, wie sie das Leben zwischen den selbst gewählten Projekten, den Dingen, die sich immer wieder auftun, und den Verpflichtungen, die auch die „Rolle“ als Mutter und Partnerin mit sich bringt, konsequent unter einen Hut bekommt. Im Moment stimmt jedenfalls vieles, und die aktuellen Pläne zeigen in viele spannende Richtungen gleichermaßen.

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