„Ich möchte vielleicht nicht mit Dir tauschen“

Zwei norwegische Künstler haben die Wienerin Ruth Maier, die im November 1942 von Oslo nach Auschwitz deportiert und dort ermordet wurde, dem Vergessen entrissen. Das Kammermusical Briefe von Ruth schildert das Schicksal einer „österreichischen Anne Frank“ auf behutsame Weise.

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Die beiden künstlerischen Köpfe hinter der internationalen Erfolgsproduktion Briefe von Ruth. Foto: Reinhard Engel

In einem karierten Faltenrock, einem gestrickten Pullunder über einer weißen Bluse schwingt sich die junge Frau auf die Bühne der Wiener Kammeroper. Sie wird diese Kleidung einer Gymnasiastin der 1930er-Jahre über zwei Stunden nicht wechseln, denn obwohl dieses Musical ihr Leben vom Schönen bis zum Tragischen erzählt, bleibt Ruth Maier immer jugendlich und optimistisch, eine talentierte, fantasievolle Frau, die an eine bessere Welt glaubt – bis sie mit 22 Jahren ermordet wird.

Der norwegische Komponist Gisle Kverndokk und sein Librettist Aksel-Otto Bull konnten mit der engagierten Unterstützung ihres Landsmannes Stefan Herheim, Intendant des Musiktheaters an der Wien, ihr Herzensprojekt hier realisieren. „In einer musikalischen Tonsprache, die nordisch klar und transparent ist, wird die Erzählung vorangetrieben“, zeigt sich der Dirigent der Produktion, Herbert Pichler, angetan. „Die Musik ist melodisch, manchmal romantisch, nutzt auch opernhafte Mittel wie Rezitative und Ensembles“, ergänzt ihr Schöpfer Kverndokk. „Sie ist ja schließlich inspiriert von Kunst und populärer Musik der 1930erund 1940er-Jahre.“

In deutscher Sprache erfolgreich uraufgeführt wurde Briefe von Ruth beim Musicalfrühling in Gmunden im März 2023. „Das Publikum war so bewegt und begeistert, dass es Standing Ovations gab“, erinnert sich Librettist Bull. „Elisabeth Sikora übertrug unser Werk ins Deutsche, indem sie zuerst Ruths Lebensgeschichte las, basierend auf Das Leben könnte gut sein – Tagebücher 1933–1942, und dann mit unserem englischen Libretto abstimmte. Beim Deutschen Musicalpreis gewann das Stück im selben Jahr in vier Kategorien und wurde zum besten Musical des Jahres gewählt.“

Doch wer war diese Wiener Jüdin, die solche Theater-Routiniers wie Kverndokk und Bull (siehe Biokasten) anregte, ein Kammermusical über sie zu schreiben? Ruth Maier wurde 1920 in Wien geboren und wuchs in einer wohlsituierten liberalen jüdischen Familie auf. Literatur und Sprache wurden früh zu ihrer Leidenschaft. Schon als Kind begann sie, tagebuchähnliche Einträge in ihre Schulhefte zu schreiben. Später entwickelte sich das Tagebuchschreiben zu ihrer existenziellen Tätigkeit.

„Ich habe durch Ruths Aufzeichnungen
nachvollziehen können, welch reiches
kulturelles
Leben sie in Wien führte.“

Gisle Kverndokk

Ihr erstes überliefertes Tagebuch stammt von Mai 1933, die letzten Aufzeichnungen vom Herbst 1942, kurz vor ihrer Ermordung im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Acht Tagebücher – etwa 1.100 Seiten – und um die 300 Briefe geben Aufschluss über ihre Biografie: Ruth spielte in Schulaufführungen bereits Hauptrollen, ging regelmäßig ins Burgtheater, wo es ihr besonders der Schauspieler Hermann Thimig (1890– 1982) angetan hatte. Die ersten Jahre ihres Tagebuchs beleuchten vor allem ihre große Zuneigung zu ihrem jung verstorbenen Vater, die innige Beziehung zu ihrer Schwester Judith (Ditl)sowie das angespannte Verhältnis zur Mutter.

„Ich habe durch Ruths Aufzeichnungen nachvollziehen können, welch reiches kulturelles Leben sie in Wien führte, mit Musik, Literatur und Kunst“, sagt Gisle Kverndokk. „Ich war fasziniert von ihrem Talent, sie malte auch Aquarelle, ihrer Lebensfreude, von ihrer Liebe zu den Menschen. Da sie träumte und viel fantasierte, spürte ich Musik in ihren Texten und wollte das unbedingt vertonen.“ Bis zur Fertigstellung des Musiktheaterwerks mussten der Komponist und seine Mitstreiter noch einen weiten Weg zurücklegen.

Obwohl die 18-jährige Ruth Maier den Antisemitismus in ihrer Heimatstadt schon lange vor 1938 zu spüren bekam, erfolgte der große Bruch in ihrem Leben erst nach dem „Anschluss“ durch die brutale Trennung von der Familie. Während ihre jüngere Schwester Judith noch mit einem Kindertransport nach England gelangt, schaffte sie es Anfang 1939 nur mehr nach Norwegen, wo ihr die beruflichen Kontakte des Vaters nützlich waren. Von dort wollte Ruth weiter nach Amerika oder England, um mit ihrer Schwester und Mutter wieder vereint zu werden. Doch die deutsche Okkupation Norwegens im April 1940 machte ihr einen Strich durch die Rechnung. Im Herbst darauf lernte Maier die norwegische Lyrikerin Gunvor Hofmo (1921–1995) kennen und lieben: Beide Frauen hatten sich zum freiwilligen Arbeitsdienst im besetzten Norwegen gemeldet und arbeiteten bei Bauern, denen wegen des Krieges die Arbeitskräfte fehlten. Trotz der äußeren Umstände, Lebensmittel waren knapp, ihre Feldarbeit ziemlich hart, erlebten Maier und Hofmo hier eine glückliche Zeit miteinander. Doch seit die deutsche Wehrmacht Norwegen besetzt hatte, litt Ruth immer wieder unter Depressionen. Das führte schließlich 1941 zu einem Nervenzusammenbruch, Ruth ließ sich in die Psychiatrie einweisen, wo sie sieben Wochen verbrachte. Während dieser Zeit, aber auch danach, gab ihr nur ihre Freundin Gunvor Halt. Hofmo sprach von Maier im mer als ihrer „Zwillingsseele“ – und später: „[…] und der eine Zwilling starb.“

In Norwegen kannte man nach der Shoah zwar das Schicksal der Anne Frank in den Niederlanden, aber nicht die „eigene, norwegische Anne Frank“, deren Deportation vom eigenen Territorium aus geschah.

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Der Norweger GISLE KVERNDOKK, Jahrgang 1967, zählt zu den vielseitigsten Komponisten seiner Generation. Er erhielt seine Ausbildung sowohl in Oslo wie auch an der Juilliard School of Music New York. Zu seinen Bühnenwerken zählen sowohl klassische Opern wie auch Konzertstücke
und Musicals. Für die Eröffnung der Oper in Oslo schuf er das Werk In 80 Tagen um die Welt. Aufgeführt wurden seine Kompositionen u. a. beim Schleswig-Holstein Musikfestival, seine Kinderopern Max und Moritz und Supersize Girl im Auftrag der New York Opera Society sowie in Washington, DC. Bereits 2016 und erneut 2022 war Gisle Kverndokk am Landestheater in Linz zu Gast. In Gmunden zeigte man 2017 sein Musical Sophies Welt.

Kverndokks Partner AKSEL-OTTO BULL, geboren 1963 in Oslo, ist ein norwegischer Theaterregisseur und Librettist. 1984–1985 arbeitete er als Regisseur am Nova Teater, später für das Nordland Teater, Agder Teater und Den Nationale Scene, dessen künstlerischer Leiter er 1997 war; weitere Stationen waren die Kildeen Operar und die Opera Nordfjord.

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Ruth Maier wurde am 26. November 1942 von norwegischen Polizisten aus der Osloer Pension Engelheim für junge Frauen abgeholt. Die Festnahme soll extrem brutal gewesen sein: Maier wurde in ein Auto gezerrt und noch am selben Tag auf das Gefangenentransportschiff „Donau“ verbracht. Fünf Tage später, am 1. Dezember, wurde sie zusammen mit 187 jüdischen Frauen, 42 Kindern und 116 arbeitsunfähigen Männern aus Norwegen im Vernichtungslager Auschwitz ermordet.

Der Verlust der Freundin bestimmte Gunvor Hofmos weiteres Leben: Nach der Diagnose Schizophrenie war sie mit Unterbrechungen 22 Jahre lang in Behandlung. Ab 1946 handeln zentrale Teile von Hofmos Lyrik, sie publizierte 20 Gedichtbände, von der tiefen Liebe zu Ruth. Hofmo galt als Vertreterin der modernen skandinavischen Lyrik und wurde als „Sängerin der (nordischen) Dunkelheit“ bezeichnet, doch sie selbst fühlte eine geistige Nähe zu den deutschsprachigen Dichtern Nelly Sachs und Paul Celan.

„Kurz vor Ruths Verhaftung lebten die beiden Frau in Trondheim, weil Gunvor sehr an ihrer dortigen Familie hing. Ruth wollte aber unbedingt nach Oslo“, berichtet Aksel-Otto Bull. „Ruth hätte noch die Möglichkeit gehabt, nach Schweden zu fliehen – das ist einigen Juden auch gelungen –, aber sie zögerte, sich von Gunvor zu trennen, und meinte: ‚Ich stehe zu und mit den Juden, teile ihr Schicksal.‘“

Gisle Kverndokk und Aksel-Otto Bull erzählen im Gespräch mit WINA-Autorin Marta S. Halpert über ihre Begegnung mit Ruth Maier und warum gerade das Musical-Genre ideal ist, um das tragische Schicksal der österreichischen Jüdin zeitgemäß auf die Bühne zu bringen. Foto: Reinhard Engel

Wann hat Norwegen begonnen, seine Kollaboration mit dem NS-Regime aufzuarbeiten? (siehe Kasten) „Mit der Mär von Norwegen als klaren Helden der Judenrettung wurde erst in den letzten 15 Jahren so richtig aufgeräumt; da kam ans Licht, wie viele Nazi-Kollaborateure es gegeben hat“, erzählt Gisle Kverndokk. „Wichtig wurde das von der jüdischen Bevölkerung geraubte Vermögen. Es ist noch nicht so lange her, dass sich der Premierminister bei der jüdischen Bevölkerung entschuldigt hat.“

Wie haben Kverndokk und Bull von ihrer Existenz erfahren? „Ich arbeitete 2007 mit einer Schauspielerin zusammen, wir machten am Norwegischen Nationaltheater Matinées mit Poesie und Musik“, erinnert sich der Komponist, „da hörte ich zum ersten Mal Lyrik von Gunvor Hofmo. Im Zuge der Vorbereitung stieß meine Kollegin auch auf die Briefe von Ruth Maier – und machte mich mit ihnen vertraut.“ Die Tagebücher und Briefe von Ruth waren bei der Familie Hofmo in Trondheim versteckt. Nach dem Krieg entdeckte sie Gunvor im Keller des Hauses und bewahrte diese bis zu ihrem Tod 1995 auf. Ihre Familie kontaktierte den norwegischen Schriftsteller Jan Erik Vold, der diese 2007 erstmals in Norwegen veröffentlichte, bisher wurden sie in zwölf Sprachen übersetzt.

„Vielleicht erkennen wir, wenn wir uns
mit Biografien wie jener von Ruth Maier beschäftigen,
was wir uns selbst angetan
haben.“

 

Vom Opernprojekt zum Musicalhit. Kverndokk und Bull waren nach der Lektüre der von Vold editierten Tagebücher derart beeindruckt und bewegt, dass sie gleich zu ihm und den Verlag pilgerten, um die Rechte zu erwerben. „Zuerst sprachen wir von der Absicht, eine Oper zu machen“, erzählt der Librettist, „Doch Vold mochte keine Opern und argumentierte, es entstünden gerade ein Film und ein Theaterstück, daher wäre das alles zu viel.“ Warum entschied man sich dann für das Genre Musical, angesichts des tragischen Lebensendes von Ruth? Ist das dafür kein zu leichtgewichtiges Medium? „Nein, da muss ich klar widersprechen“, entgegnet Gisle Kverndokk. „Gerade bei Ruth ist der Text extrem wichtig, die meisten Opernsänger kann man nicht verstehen – das Musical gibt uns da viel mehr Freiheit. Mit dem Musical haben wir eine Form geschaffen, in der Gesang und Sprache ineinander übergehen, in der Dialoge Spannung erzeugen, die die Musik wieder auflöst. Dies ermöglicht uns, die Grauzone zwischen Oper und Musical im Kammerformat zu erkunden.“ Mit Hinweis auf die gesellschaftlich wichtigen Bezüge zur Shoah in den erfolgreichen Musicals Cabaret und Sound of Music bestärken die beiden Kreativen noch ihre Entscheidung.

Oben: Ruth Maier, um 1935. ©geschichtewiki.wien.gv.a

Nach dem Besuch der Vorstellung an der Wiener Kammeroper im März 2025 fragt man nicht mehr nach der Form, sondern ist gleichermaßen bewegt von der durchsichtig-einfühlsamen, aber auch dramatischen Komposition, dem sehr gelungenen Bühnenbild, der wenig störenden Choreografie sowie der Leistung des gesamten Ensembles in der Regie des jungen Deutschen Philipp Moschitz.

Wie schwer war es für Kverndokk, der eine stattliche Anzahl von Opern, Kammermusik und Musicals komponiert hat, dieses heikle Thema in Musik umzusetzen? „Nie in meinem Leben habe ich mehr recherchiert als bei diesem Projekt. Ruths Texte flossen direkt in meine Adern hinein, ich war so inspiriert von den Kontrasten in ihrem Leben“, erzählt der Komponist. Nachdem der Norwegian Composers Fund das Musical in Auftrag gegeben hatte, erfolgte im Dezember 2014 der erste Workshop im Chat Noir Theater Oslo zu Ruth Maier. 2015 wurde es im Daryl Roth Theatre in New York, 2017 konzertant am Holocaust-Gedenktag an der Universität in Oslo präsentiert. Weitere konzertante Aufführungen des „aufwühlenden Musiktheaters“ (WClassic Review) gab es in Washington, DC und Cape Cod. Im April 2026 wird das Kammermusical Briefe von Ruth auf Initiative der dortigen kleinen jüdischen Gemeinde in Trondheim aufgeführt. Eine Tournee durch deutsche Städte ist in Planung, aber noch nicht spruchreif.

Kverndokk und Bull resümieren nachdenklich: „Vielleicht erkennen wir, wenn wir uns mit Biografien wie jener von Ruth Maier beschäftigen, was wir uns selbst angetan haben. Dass diese intelligenten, klugen, künstlerisch begabten Menschen verjagt, unterdrückt oder ermordet worden sind – damit haben wir uns in Europa einen riesigen Verlust zugefügt.“

In Oslo ist ein kleiner Park nach Ruth Maier benannt; im Osloer Holocaust-Zentrum sind die Tagebücher und andere Dokumente von Ruth Maier aufbewahrt und öffentlich zugänglich. Im Jahr 2014 wurden sie als Teil des UNESCO-Weltdokumentenerbes anerkannt. Ausstellungen über Ruth Maier wurden in den letzten Jahren im UNO-Center in New York, in Wien, Brünn und Oslo gezeigt, heuer auch im Bezirksmuseum Josefstadt in Wien. 2021 benannte man in der Leopoldstadt ein Park nach Ruth Maier, der nahe an ihre letzte Adresse grenzt: Obere Donaustraße 43.

„Donau“ hieß auch das Transportschiff mit den Todgeweihten, auf dem sich Ruth befand. Von dort gelang es ihr, den letzten Brief an Gunvor hinauszuschmuggeln. Darin schrieb sie: „Sorg Dich nicht um mich. Ich möchte vielleicht nicht mit Dir tauschen. Warum sollen wir nicht leiden, wenn so viel Leid ist?“

 


 

NORWEGEN: Jüdisches Leben vor und nach der Shoah

Die ersten Juden kamen nach der Vertreibung aus Spanien 1492 nach Norwegen, nur um 1687 ausgewiesen zu werden – mit der Bedingung, nicht wiederzukehren. Dieses diskriminierende Grundgesetz wurde nur durch den Einsatz des Schriftstellers Henrik Wergeland im Jahr 1851 annuliert. Die erste Synagoge öffnete ihre Tore 1862 in Oslo, damals noch Kristiania.

Bei Kriegsbeginn 1940 lebten etwas über 2.170 Juden in Norwegen, bei einer Gesamtbevölkerung von drei Millionen: 767 von ihnen wurden infolge der deutschen Okkupation verhaftet, nach Auschwitz deportiert, nur 30 von ihnen überlebten. Dem norwegischen Widerstand gelang es, 900 Juden über die Grenze nach Schweden zu schmuggeln. Heute leben etwa 1.400 Juden im Land, vor allem in der Hauptstadt Oslo und in Trondheim.

Einhart Lorenz ist Professor für Geschichte an der Universität Oslo; er forscht über die Verstrickungen Norwegens während der Shoah: „Nach 1945 gab es zwei Tendenzen in der Politik und Gesellschaft Norwegens: erstens die Verdrängung der norwegischen Beteiligung an der Shoah und zweitens den Versuch, den ‚Schaden‘ durch eine organisierte Zuwanderung zu ‚reparieren‘. Die Verdrängung betraf die Tatsache, dass norwegische Behörden und die Polizei an der Verhaftung der jüdischen Bevölkerung mitwirkten, dass sich Teile der Bevölkerung und der Staat am jüdischen Besitz bereicherten und dass norwegische Grenzposten und Polizisten freigesprochen wurden, obwohl sie Juden ermordet hatten. Demgegenüber gab es in der regierenden Arbeiterpartei Kräfte, die durch die Aufnahme jüdischer Shoah-Überlebender – displaced persons – und polnischer Juden die Bevölkerungsverluste wettmachen wollten. Darüber hinaus engagierte man sich innerhalb der Partei für den Aufbau Israels.

Norwegen war vom 9. April 1940 bis zum 8. Mai 1945 von der deutschen Wehrmacht besetzt. Die reguläre norwegische Regierung ging ins Exil, sodass die deutsche Besatzungsmacht eine Marionettenregierung, bestehend aus Kollaborateuren und angeführt von Vidkun Quisling, ernannte.

„Die Juden haben in Norwegen mehr Unheil angerichtet als in vielen anderen Ländern mit höherem Judenanteil“, klagte im Frühjahr 1941 Vidkun Quisling, der Vorsitzende der norwegischen Nazi- Partei Nasjonal Samling, in einer Rede, die er ein Jahr nach der Besetzung seines Landes in Deutschland hielt. Quisling setzte auch den antisemitischen Artikel II der norwegischen Verfassung wieder in Kraft, der seit 1851 zeitweilig aufgehoben war. Als Konsequenz begannen so die systematischen Verhaftungen norwegischer Juden ausgehend von Trondheim am 6. Oktober 1942. Mit dem Erlass Quislings vom 26. Oktober, jüdisches Vermögen einzuziehen, kam zur gesellschaftlich- politischen Gängelung nun auch die Entziehung der Existenz dazu.

Quisling, der Pfarrerssohn und fanatische Nationalsozialist, der zunächst als deutscher Vertrauensmann ohne Amt und seit Februar 1943 als norwegischer Ministerpräsident von Hitlers Gnaden agierte, definierte die „Rassenbegriffe“ noch enger als die Bürokraten in Berlin.

Im Herbst 1942 verhafteten norwegische Landsleute – und nicht die Besatzer – 532 Juden. Das war ein Viertel der jüdischen Gemeinde in Norwegen. Man brachte sie zu einem Schiff der deutschen Kriegsmarine, das von Oslo aus die erste Etappe auf dem Weg nach Auschwitz zurücklegte. Eine wichtige Rolle dabei spielte Knut Rød, der Leiter der staatlichen Polizei in Oslo, denn er schaffte es, dass die Deportation der jüdischen Bevölkerung „wohlorganisiert und reibungslos“ verlief. Nach dem Krieg wurde Rød angeklagt, doch der Norwegische Gerichtshof sprach ihn 1948 frei. Bemerkenswert ist der Umstand, dass er am 9. April freigesprochen wurde, dem achten Jahrestag der deutschen Invasion. Rød blieb bis zu seiner Pensionierung 1965 im Dienst der Polizei. Während Vidkun Quisling noch im Herbst 1945 zum Tode verurteilt und erschossen worden war, starb Rød 1986 als ehrenhafter Bürger.

Die gesetzliche Wiedergutmachung begann erst ab 1996. Und erst im Jahr 2006 wurde in Oslo ein Zentrum zur Erforschung des Holocaust eingerichtet. Es ist in der Villa Grande untergebracht, dem Prachtbau, den Quisling zwischen 1941 und 1945 bewohnte.

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