Im Labyrinth der Grenzen

Das Jüdische Museum Hohenems zeigt eine beeindruckende Ausstellung zum Thema Grenzen, sichtbaren wie unsichtbaren.

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Filters. Vincent Grunwald, 2012–2014 © Hohenems; Dietmar Walser

Sag Schibbolet! Von sichtbaren und unsichtbaren Grenzen

Zur Ausstellung ist der Katalog und Reader Sag Schibbolet! Von sichtbaren und unsichtbaren Grenzen erschienen,
(Hg.: Boaz Levin, Hanno Loewy,
Anika Reichwald),
Bucher, 2018.

Die titelgebende biblische Geschichte über die Verwendung des sprachlichen Codes, der bei der erhofften Überquerung des rettenden Jordan Inklusion oder Exklusion bewirkt, verortet das Thema der Ausstellung, prägt sie gleichsam als Wasserzeichen.
Das Sprechen des falschen Dialekts, eine kleine Lautverschiebung, die auf eine andere Herkunft verweist, führt die flüchtenden Ephraimiter im Buch der Richter direkt in den Tod.
Den lokalen Ausgangspunkt für die von Boaz Levin kuratierte höchstaktuelle Themenschau aber bildeten die am Ufer des Alten Rheins errichteten Grenzsteine, die einmal die Schwelle zwischen Nazideutschland und der Schweiz markierten. Als graue Attrappen mit dem Initial OE stehen gleichsam Landmarks der Historie als Hörstationen im Museum verteilt. Sie geben akustische Einblicke in historische Fakten und Berichte zwischen 1938 und 1945. Zu hören sind Lebensgeschichten von Geflüchteten, von geglückten und tödlichen Fluchtversuchen, in eben jenem Grenzgebiet bei Hohenems.

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Wir überschreiten die Schwelle, treten ein in einen Raum, in dem die Grenzen der Welt sinnlich auf uns einstürzen.

INFO: Sag Schibbolet! Von sichtbaren und unsichtbaren Grenzen Ausstellung, Jüdisches Museum Hohenems, bis 17. Februar 2019 jm-hohenems.at

In der Ausstellung geht es um die Konstruktion von Nationalstaaten, um umkämpftes Terrain, geografische Grenzen und jene im Kopf, um (willkürliche) Distinktion und Exklusion. Um Rechtsordnungen, die zu Unrechtsordnungen werden, eine Welt im Ausnahmezustand, privaten und öffentlichen Raum, Überwachung und Strafe, Leben und Tod.
Die Annäherung über die Kunst ermöglicht eine offene Etablierung des Themas von großem Facettenreichtum.
Auf engstem Raum entfalten sich in den Kellerräumlichkeiten des Museums Grenzen als Dispositive, die vielschichtige Lesarten ermöglichen.
Was sich einschreibt, sind Fragen nach Identität und Privatsphäre, persönlichen Rechten/Menschenrechten, Zugehörigkeit und Ausschluss.
Die Bandbreite der künstlerischen Arbeiten reicht von der Auseinandersetzung mit territorialen, kulturellen, historischen wie gegenwärtigen Grenzziehungen und verlorenen Heimaten (Desert Bloom, Fazal Sheikh), Leben in der Diaspora (A Gentle Breeze Passed Over Us, Pınar Öğrenci), über subversive Reflexionen zur biometrischen Erfassung (Facial Weaponiziation Suite, Zach Blas), die Illustration logistisch-technologischer Verwaltung restriktiver Maßnahmen (die sachlich-nüchternen Fotografien der Bürosettings der Frontex-Zentrale in Warschau von Leon Kahane) bis hin zur Thematisierung von hegemonialen Räumen der Repräsentation (The Walls of the WTO, Ryan S. Jeffrey & Quinn Slobodian).
Mittels dokumentarischer Verfahren (Foto, Video), konzeptueller und performativer Zugänge werden Konzepte von Nation, (willkürliche) Grenzziehungen, digitale Weltentwürfe und postpanoptische Machtverhältnisse sowie der Status quo von (wirtschaftlicher, sozialer) Ungleichheit befragt.

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Ein assoziativer Parcours durch zeitgenössische Überwachungsgesellschaften

A Gentle Breeze Passed Over Us. Pınar Öğrenci,
2017 (Filmstill) © Hohenems; Dietmar Walser

Sag Schibbolet! Von sichtbaren und unsichtbaren Grenzen ist ein gelungener assoziativer Parcours internationaler Positionen zeitgenössischer Kunst durch zeitgenössische Überwachungsgesellschaften, in denen qua Geburt zwischen Privilegierten und Unterprivilegierten, Erwünschten und Unerwünschten, Mobilen und Immobilen unterschieden wird.
Alle stehen unter ständiger Observation; jedem Körper sind die Grenzen der (biologischen, ethnischen, religiösen, kulturellen, sozialen, Gender-) Identität eingeschrieben, Merkmale und Eigenschaften, die für ihn/sie sprechen oder gegen sie/ihn verwendet werden (können).
Das Spannungsfeld zwischen Sicherheit und Freiheit ist allgegenwärtig.
Schwarzweiße Bilder von aufgelassenen französischen Grenzstationen ziehen vorbei (Café de la Frontière, Mikael Levin).
Das leise Klackern des Diaprojektors mischt sich mit dem Klang der Oud, die Ahmed Shaqaqi im Raum nebenan spielt.
Auf einer freihängenden Leinwand posen US-Soldaten in der irakischen Wüste (We used to play hide-and-seek under the red sky, Pınar Öğrenci). Der Himmel ist blutrot gefärbt. Die Wüstenstürme toben, sie nehmen die Sicht.
Keine Grenzen zu sehen; weit und breit: Niemandsland.

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