Zeugnis abzulegen von den Gräuel des NS-Regimes versprach Sigmund Pluznik, als die Liquidierung des Ghettos seiner Heimatstadt Bedzin bevorstand. Dies hat der lebenslustige fast 90-Jährige mehrfach getan.
Von Esther Graf
Seine erste Erinnerung an das NS-Regime kann Sigmund Pluznik genau datieren. Es war der 4. September 1939, drei Tage nach Beginn des Zweiten Weltkriegs, als deutsche Soldaten seine Heimatstadt Bedzin (gesprochen Bendschin) besetzten. Von einem Tag auf den anderen galten Verbote für Juden, die einen normalen Alltag unmöglich machten. Der damals 15-jährige Sigmund durfte nicht mehr die Schule besuchen und ebenso wie seine Glaubensgenossen nicht mehr die Hauptstraße benutzen, geschweige denn mit der Straßenbahn fahren. Obwohl seine Eltern nicht religiös waren, sein Vater war überzeugter Sozialist, schickten ihn seine Eltern auf die jüdische Schule, während seine älteren Schwestern das neu gegründete Gymnasium Fürstenberg besuchten. Familie Pluznik gehörte mit ihrem Konfektionsgeschäft zur Mittelschicht der jüdischen Bevölkerung, die etwa zwei Drittel der Einwohner ausmachte. Schockierender als die zahlreichen Verbote war die erste Mordaktion der Nazis in Bedzin. Vier Tage nach der Besetzung trieben Wehrmachtssoldaten Juden in die Große Stadtsynagoge und steckten diese in Brand.
Versteckt in Wien.
Sigmund Pluznik schloss sich der zionistischen Jugend (hebr. haNoar haZioni) an, die ihm letztendlich das Leben rettete. Die Jugendorganisation bot geheimen Schulunterricht, an dem er zwei Jahre lang mit drei Freunden teilnahm. Sie versteckten ihre Schulhefte unter der Kleidung und trafen sich zum Lernen abwechselnd in einer Wohnung je eines Mitschülers. „Für mich war das der erste Schritt in Richtung Widerstand“, erklärt Pluznik. Diesem folgte der zweite, als die späteren Anführer des Warschauer Ghettoaufstandes Mordechai Anilewicz und Eliezer Geler im Sommer 1942 Bedzin besuchten. Sie berichteten von der Ausrottung des polnischen Judentums in den Todeslagern Majdanek, Sobibor, Treblinka und Bełżec und ermutigten zum Widerstand. Sigmund und seine Mitstreiter versuchten Waffen zu kaufen, um bei den Partisanen aufgenommen zu werden. Die Polen veräußerten diese allerdings nur zu horrenden Preisen. Deshalb brachen sie in Wohnungen deutscher Offiziere ein und stahlen die dort vorhandenen Waffen. Sich polnischen Widerstandskämpfern im Wald anschließen zu können, stellte sich als Hinterhalt der Nazis heraus. Jüdische Partisanen wurden in den Wald gelockt und erschossen. Von einer Gruppe überlebte als einziger Eisig Neumann, der nach Bedzin zurückkehrte und seine Kameraden warnte. Pluznik sollte mit der nächsten Gruppe gehen. Neumann, der heute in Israel lebt, rettete ihm und anderen jüdischen Widerstandskämpfern so das Leben. Die Jugendlichen waren gezwungen, ihre Strategie zu ändern. Ihr erklärtes Ziel war es zu überleben, um der Nachwelt berichten zu können. „Hiermit erfülle ich dieses Versprechen“, konstatiert Sigmund Pluznik und kommt auf seine abenteuerliche Flucht nach Palästina zu sprechen.