Immer weiter

Jeden Tag schien die Sonne, jede Nacht leuchtete der Mond. Ich lag auf Deck in meiner postsozialen Hängematte; überall zogen dunkle Wellen vorbei.

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Paul Divjak: Dardanella Ritter Vrlg., 2019, 80 S., € 13,90

An dem Tag, an dem sich das Ende der Geschichte lautlos über uns senkte, befand ich mich an Bord der „Dardanella“. Seit Längerem hatte ich gewusst, dass uns wohl nicht mehr viel Zeit bleiben würde. Alles war im Überfluss vorhanden, doch die Unsicherheit nahm zu.
Ich konnte es nicht mehr verbergen, jeder merkte es – auch mein Gesicht war verrutscht; mein Lachen verbarg meine innere Leere, verhüllte meine Angst nur unter Mühen. Allen, mit denen ich noch sprach, blieb dieser Umstand verborgen, ging es ihnen doch nicht anders. Verkleidet, vermummt schluckten wir Pillen. Wir hielten uns weiter aufrecht und taten so, als wäre es tatsächlich unser Leben, das wir da lebten.
Alles war erfüllt von unbedeutendem Lallen; wir redeten in hohlen Phrasen, verschlossen unsere Augen, lebten die Wiederholung der Wiederholung – und wir horteten Dinge.
Wir starrten alle auf unsere Smartphones, wie immer. Wir hatten keinen Empfang, und doch knallten uns pausenlos Schlagzeilen um die Ohren. Es schien mir, als ob sich die Weltbühne plötzlich mit noch höherem Tempo drehen würde; die Gesichter um mich verzogen sich zu Fratzen. Ich griff nach einem Joint, um Geschwindigkeit rauszunehmen.
Was sich jetzt vor meinen Augen auftat, war das Heilige Land. Es war bevölkert von Propheten und Göttern, Zauberern und Riesen. Ich sah Moses, Mohamed und Jesus, ich begegnete Uranos, den Titanen und schließlich Zeus, Houdini, Merlin, Krabat und dem Hünen vom Berg.
Auf dem See Genezareth übte ich mich im Wasserlaufen, vor den Toren Wiens trank ich mit einem Türken starken Kaffee, und ich tanzte am Kongress bis zum Morgengrauen. Die Begleitmusik tat ihr Übriges. – Ganz großes Kino!
Etwas sang unaufhörlich in mir. Ein Dichter sprach laut seine Verse; Stakkato-Poesie. Und dann noch dieser alberne Technobeat. Die Kunst ist tot. Es lebe die Kunst. – Der Kunst ihre Kunst, der Freiheit ihre Zeit.
Mitten im Meer, draußen auf hoher See, fielen mir nun Worte zu. Ich war umgeben von den Sätzen meiner Kindheit. Sie umschmeichelten mich, umschlungen mich, liebkosten und fesselten mich. Sie bereiteten ihre Haken vor, links und rechts, warfen ihre Bezeichnungen und Bedeutungen nach mir aus; unbändige Sprachgewalt. Die Worte und die Sätze köderten mich, schnitten mir den Leib auf wie einem Fisch, fanden in meinem Inneren allerdings nichts von Wert. Ich war kein Basejumper, kein Apnoetaucher und kein Extrembergsteiger. Ich war in der Logik der Gegenwart eigentlich zu nichts zu gebrauchen.

»Je dichter das Netz, desto mehr will man heraus, während gerade seine Dichte
verwehrt, dass man heraus kann.« 
Theodor W. Adorno

Eine große vernichtende Erzählung lag über all den vielen kleinen. Ich war ein schmutziger Waschlappen aus der Ära Kreisky, lag vollgesogen, verdreckt auf dem Sonnendeck, zwischen den Inseln, und ich wusste nicht weshalb. Die soziale Marktwirtschaft hatte mich über den Umweg des Turbokapitalismus direkt an Bord der „Dardanella“ gespült. Dass ich dennoch nicht zu den Angepassten und Leistungsträgern, den Systemgewinnern und Selbstvermarktungsexperten gehörte, stand fest.
Nie wollte ich einer von ihnen werden. Blasse Gesichter im Kunstlicht; die Augen in leeren Höhlen. Die Getriebenen schienen mir Verlorene, die einzig durch die Behauptung zu leben aus ihrem Delirium zu erwachen glaubten. Sie waren zu kaufkräftigen Teilhabern eines riesenhaften Krakengebildes geworden, das ihnen alles zu geben versprach und ihnen gleichzeitig alles raubte.
Die Frage war nicht, welche Schuld der Kapitalismus hatte. Die Frage war, was der eigentliche Grund für den Kapitalismus gewesen ist.
Jeden Tag schien die Sonne, jede Nacht leuchtete der Mond.
Alle schliefen nun, nur ich hatte Angst. – Kein Land in Sicht. Wen würde das Meer wohl heute fressen?


Textauszug aus Paul Divjak: Dardanella, soeben erschienen bei Ritter, Klagenfurt.
(Mit freundlicher Genehmigung des Verlags)

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