Impfen: ja, unbedingt! Doch wer kommt zuerst?

Über nationale Impfpläne, menschliche Vernunft und die jüdische Ethik. Von Miriam Klein.

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Um es klar zu sagen: Die medizinische Wirkung der Covid-19-Schutzimpfung ist medizinisch belegt und damit aus allgemein-ethischer Sicht und aus Gründen der Solidarität notwendig. Die Gebote von pikuach nefesh* und dina d’malchuta** verpflichten auch aus jüdischer Sicht eindeutig zur Impfung.

Und endlich ist auch Licht am Ende des Pandemietunnels. Allerdings scheint derzeit klar, dass die Versorgung aller mit Impfstoff noch lange auf sich warten lassen wird – nicht nur wegen der aktuellen Lieferverzögerungen. Der „Roll-out“ läuft also – etwas schleppender zwar als geplant –, und die weltweiten Impfpläne folgen mehr oder weniger ähnlichen Schemata, vor allem was die so genannte „Priorisierung“, also die Reihung der zu Impfenden betrifft.
Trotzdem wird es noch eine ganze Weile mehr Menschen geben, die auf eine Impfung warten, als Menschen, die bereits geimpft wurden. Umgekehrt häufen sich die Fälle, bei denen ein vakziner „Überhang“ verimpft werden kann und muss.
Und wenn auch die Geschwindigkeit, mit der die Impfstoffe entwickelt, getestet und zugelassen werden, beispiellos ist: Die Pandemie wird nicht über Nacht verschwinden. Man erwartet, dass es bis 2023 oder sogar 2024 nicht genügend Impfstoff für die gesamte Weltbevölkerung geben wird – weshalb Regierungen, Behörden und Mediziner noch lange schwierige Entscheidungen bei der Verteilung zu treffen haben werden.
Während es in den reichen Industriestaaten aber allenfalls um die Priorisierung eines für alle, die ihn wollen, eher zeitnahe verfügbaren Impfstoffes geht, kämpft der ärmere, wirtschaftlich schwache Teil der Welt um Verteilungsgerechtigkeit.
Die globale Partnerschaft COVAX soll etwa zumindest die Impfung von Hochrisikogruppen in ärmeren Ländern sicherstellen. Wie erfolgreich COVAX aber dem weltweiten „Impfstoffnationalismus“ entgegenwirken kann, ist offen.
Wie können also die Prioritäten bei der Zuteilung einer so begrenzten Ressource gesetzt, Fairness garantiert und Missbrauch ausgeschlossen werden? Kann bei der so genannten Impftriage die jüdische Tradition Antworten geben?

Lösungsansätze in der Krise dürften nicht alleine auf wissenschaftlichen, also medizinischen, mathematischen und ökonomischen Evidenzen fußen.

 

Lösungsansätze in der Krise. Die Covid-19-Pandemie wirkt wie ein Brennglas, das die sozialen, wirtschaftlichen und ethischen Probleme sichtbarer, aber sicher nicht einfacher macht. Das ist mittlerweile allen klar. Manche meinen daher, Lösungsansätze in der Krise dürften nicht allein auf wissenschaftlichen, also medizinischen, mathematischen und ökonomischen Evidenzen fußen. Vielmehr fordern sie die Einbeziehung moralischer Überlegungen und ethischer Perspektiven. Hier haben sich unter anderem in einer gemeinsamen Initiative der World Jewish Congress und der World Council of Churches Gedanken gemacht und nach Anhaltspunkten für das ethische Handeln in der jüdisch-christlichen Tradition gesucht. Die drei wichtigsten Thesen folgen der jüdischen Tradition und lauten:

• Die g-ttgegebene Würde und der Wert jedes Menschen ist unantastbar (nach Bereschit 1:27)
• „Und du wirst deinen Nächsten/Nachbarn lieben, denn er ist wie du“ (nach Wajikra 19:18)
• „Lernet Gutes tun, trachtet nach Recht, helfet dem Unterdrückten, schaffet dem Waisen Recht …“ (Jesajah 1:17)
Die Ressourcenverteilung soll also so organisiert werden, dass gleiches Recht für alle Menschen auf Gesundheit gilt, die Bildung und damit die Zukunftsperspektiven junger Menschen gesichert sind und langfristige Schäden für die Wirtschaft möglichst minimiert werden. Soweit die Empfehlung der gemeinsamen Initiative.

Klinische Daten und jüdische Ethik. Rabbiner Jason Weiner, der in klinischer Bioethik promovierte und am Cedars-Sinai Medical Center in Los Angeles arbeitet, hat in seiner umfassenden Arbeit Jüdischer Leitfaden zur praktischen medizinischen Entscheidungsfindung auch die Prinzipien der Triage – also wie ein Verfahren der Priorisierung medizinischer Hilfeleistung bei unzureichenden Ressourcen aussehen kann – auch aus Sicht der jüdischen Ethik bewertet. Unter anderem sollen sämtliche Entscheidungen einzig auf klinisch relevante Daten und nicht auf soziale oder gesellschaftliche Merkmale der Patientin oder des Patienten beruhen. Der Entzug von Ressourcen soll – soweit wie möglich – in jedem einzelnen Fall in Absprache mit einem jüdischen Gelehrten erörtert werden.
Es gibt viele philosophische Theorien, wenn es darum geht, Leben zu retten und knappe Ressourcen zu verteilen. Auch viele Erzählungen und Geschichten der jüdischen Tradition handeln von Verteilung und Ressourcenknappheit: Der Auszug aus Kanaan, Jakobs Weg nach Ägypten und die Begegnung mit Josef während der Hungersnot. Der Talmud und die Schriften jüdischer Gelehrter bieten unzählige Beispiele und Lösungsansätze zu diesen Fragen. Man beschäftigte sich damit, ob man aus einem brennenden Haus eher eine Person oder einen heiligen Gegenstand retten solle. Wie zu handeln sei, wenn ein Pfeil gleichzeitig fünf Personen treffen würde. Sollte man den Flug des Pfeils so umleiten, dass eine andere Person getroffen würde? – Rettete man also ein Leben oder fünf? Gilt das auch für uns und heute? Sollte man die geistigen, politischen oder ökonomischen Anführer bevorzugen? Oder können diese sich auf Grund ihres ökonomischen Status oder ihres Bildungsniveaus auch ohne Impfung besser gegen das Virus schützen? Wer ist heute „systemrelevant“? Wie begegnet man in den Impfplänen der sozialen, psychischen und ökonomischen Schieflage, die diese Pandemie in der Gesellschaft noch verstärkt?
Triage ist ein komplexer Prozess, der keinen einfachen Regeln folgt und Fragen aufwirft, die nicht einfach zu beantworten sind. Die jüdische Tradition kann dabei als Leitfaden unterstützend wirken. Für die meisten von uns aber heißt es jetzt vor allem: Geduld haben, Solidarität zeigen, sich verstärkt um Zusammenhalt und gesellschaftlichen Frieden bemühen, also: das eigene Leben und das der anderen Menschen schützen – und vor allem die Medizinerinnen und Mediziner ihre Arbeit machen lassen.

* Das Gebot zur Bewahrung menschlichen Lebens.
** Das Gesetz des Landes (in dem man lebt) ist Gesetz.

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