In der Not zusammenstehen

Der Krisenstab der IKG Wien trat bereits vor Purim und damit Wochen vor dem Shutdown des Landes durch die Regierung das erste Mal zusammen. Anders als in anderen jüdischen Gemeinden auch in Europa konnte so die Ausbreitung des Coronavirus innerhalb der jüdischen Gemeinde bisher vermieden werden. Schon zu Purim wurde darauf geschaut, dass die Synagogen nicht zu voll wurden und Menschen aus Risikogruppen zu Hause blieben. Gleichzeitig wuchs die Community zusammen: Hilfe auf den verschiedensten Ebenen wurde und wird groß geschrieben.

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Die größte Herausforderung dieser Krise war, dass wir keine Vergleichsmöglichkeit hatten: Sie hat die IKG als Gemeinde getroffen, aber auch jedes einzelne Mitglied“, beschreibt Generalsekretär Benjamin Nägele die Situation, in der sich die IKG seit Ende Februar befand. Da gab es finanzielle Aspekte, soziale Aspekte, berufliche Aspekte. „Mir ging es vor allem darum, dass es den Gemeindemitgliedern gut geht, dass wir helfen, wo es geht, sei es finanziell, sei es dadurch, dass ihnen, wenn sie zur Risikogruppe gehören, Essen geliefert wird. Ich glaube, dass wir das ganz gut gemacht haben. Ich glaube aber auch, dass genau das unser Job als Kultusgemeinde ist“, sagt IKG-Präsident Oskar Deutsch.
Die Ausbreitung des Virus in der Community verhindern und gleichzeitig die Menschen nicht alleine lassen – diese Ziele verfolgt(e) der Krisenstab in seiner Arbeit. In den Wochen des Lockdowns tagte das Gremium teils mehrmals am Tag. Und das vorzugsweise per Videokonferenz. Die Gemeindemitglieder wurden regelmäßig via Newsletter über den Stand der Schließungen der Einrichtungen der Gemeinde, aber auch Hilfsangebote, von Zustellservices bis zur Antragsmöglichkeiten für finanzielle Unterstützung, informiert.
Auch die Mitarbeiter der IKG arbeiteten im März und April vorzugsweise vom Homeoffice aus. Die Infrastruktur musste erst geschaffen werden. „Wir sind kein Technologiekonzern“, betont Generalsekretär Klaus Hoffmann, „Zugriffe auf Laufwerke und Ordner mussten rasch eingerichtet werden.“ Arbeit gab es allerdings mehr als sonst: Da waren zum einen die Mieter, die in Zahlungsschwierigkeiten geraten waren, zum anderen reagierte die IKG auf finanzielle Notlagen von Mitgliedern mit den Einrichtungen von Fonds, an die binnen Kurzem hunderte Anträge gestellt wurden.
Mit Mai kehrten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter langsam in die Büros zurück. Seitdem wird allerdings zum Schutz aller am Eingang Fieber gemessen, und auf den Gängen sind Masken zu tragen. Flexibilität wird dennoch weiter großgeschrieben; auf Eltern von Kindern, die immer wieder schulfreie Tage haben, wird Rücksicht genommen. Hoffmann unterstreicht, dass im Gegenzug von der Belegschaft in der Krise ebenfalls maximale Flexibilität gelebt worden sei.
„Mitarbeiter sind nun auch zu später Stunde erreichbar, wenn es nötig ist, oder am Wochenende.“ Ohne ihren Einsatz hätte die IKG diese schwere Zeit nicht so gut überstanden. Das unterstreicht auch Nägele: „Wir sind hier den Mitarbeitern zu großem Dank verpflichtet.“
Noch ist die Krise aber nicht vorbei, betonen die IKG-Generalsekretäre Nägele und Hoffmann sowie Deutsch und IKG-Vizepräsidentin Claudia Prutscher unisono. „Derzeit sind die Zahlen in Österreich wunderbar. Aber wenn ich die Kärntner Straße hinunterspaziere und sehe, dass Social Distancing schon wieder ein Fremdwort zu sein scheint, mache ich mir Sorgen“, meint der IKG-Präsident.
Die Grenzen wurden wieder aufgemacht, und das Virus mache eben nicht an der Grenze Halt. Es gelte, weiter aufmerksam zu sein. Ob eine zweite Welle kommt oder nicht, weiß derzeit zwar niemand. Die finanzielle Krise wird allerdings sicher noch eine Weile anhalten.
Mit dieser finanziellen Krise war und ist die IKG auf mehreren Ebenen konfrontiert. Einerseits im Immobilienbereich – Mieteinnahmen sind ja ein Pfeiler der Einnahmen und damit des Budgets der IKG. Hier sah man sich damit konfrontiert, dass einige Mieter, vor allem von Geschäftslokalen, die Miete nicht mehr zahlen konnte. Dabei schaute man sich jeden Fall einzeln an und suchte nach Lösungen, betont Hoffmann – von Stundungen bis zu Rabattierungen reichten die Ansätze, „da gibt es kein Patentrezept. Uns ist es wichtig, dass wir den Menschen in der Krise nicht mit Härte, sondern mit Menschlichkeit begegnen.“ Budgettechnisch sieht sich Hoffmann dadurch aber mit großen Fragezeichen konfrontiert. Der genehmigte Budgetvoranschlag für 2020 ist damit nur schwer erreichbar. Sinkende Einnahmen und steigende Ausgaben – wie sehr die Schere hier auseinanderklaffe, werde man erst in den kommenden Monaten sehen, wenn sich auch das Ausmaß der Wirtschaftskrise zeige.
Andererseits klagten von einem Tag auf den anderen auch viele Gemeindemitglieder finanzielle Sorgen: durch den Verlust des Arbeitsplatzes, durch Kurzarbeit, durch das Schließenmüssen des eigenen Geschäfts oder Lokals. Noch bevor die staatliche Hilfe so richtig anlief (in manchen Bereichen stolperte sie noch bis in den Juni hinein), richtete die IKG zwei Fonds ein: eine Akuthilfe für in Schwierigkeiten geratene Gemeindemitglieder und einen Krisenfonds für kleine Unternehmen und Selbstständige. Letztere wurde mit Mitteln aus privaten Spenden gefüllt, die unter der Ägide von Hoffmann ausgeschüttet wurden. Die Akuthilfe wird von der IKG selbst finanziert und von privaten Spendern unterstützt.

»Die Menschen müssen wissen,
da ist jemand, der ihnen hilft.«

IKG-Präsident Oskar Deutsch

Unbürokratisch helfen. Aktuell seien bereits mehr als 600 Anträge an den Akuthilfefonds gestellt worden. Von den 250.000 Euro, mit denen der Topf gefüllt worden sei, seien schon über 200.000 Euro ausbezahlt worden, berichtet Prutscher, die den Fonds gemeinsam mit den Generalsekretären und IKG-Vizepräsident Dezoni Dawaraschwili managt. Jede Auszahlung wurde mit 1.000 Euro gedeckelt, Einzelpersonen beziehungsweise Familien können aber wiederholt ansuchen. Inzwischen wurde an Betroffene auch schon mehrmals überwiesen. Anspruchsberechtigt sind nur Gemeindemitglieder. Nachgewiesen werden müssen Einkommenseinbußen, die durch die Coronakrise verursacht wurden. Alle Anträge werden rasch geprüft, sodass auch rasch überwiesen werden kann. „Uns ging es darum, schnell und unbürokratisch zu helfen“, betont Prutscher.
„Wir haben teils mehrmals pro Woche getagt, um trotz der vielen Anträge eine schnellstmögliche Bearbeitung und Auszahlung an die betroffenen Gemeindemitglieder innerhalb weniger Tage nach Antragstellung zu gewährleisten“, berichtet auch Dawaraschwili.
Für die IKG-Vizepräsidentin zeigt die aktuelle Krise vor allem auch eines: Die Einheitsgemeinde funktioniert. „Wir ziehen alle an einem Strang und können daher auch viel erreichen.“ Pikuach nefesch das sei das zentrale Motto: Leben zu retten. Hier hätten auch die Rabbiner der Stadt einen großen Beitrag geleistet, indem sie allen Mitgliedern klargemacht hätten, dass der Schutz des Lebens über allem stehe – auch über einem Minjan. Auch Nägele betont, „dass die Gemeinde zusammengewachsen ist“. Worüber er sich besonders freue: „Dass Leute ihr eigenes Leben zum Schutz anderer extrem eingeschränkt haben. Das ist etwas sehr Jüdisches. Pikuach nefesch war der Leitfaden, der alles angetrieben hat.“
Grundsätzlich sei die IKG auf Krisensituationen gut vorbereitet – es gebe entsprechende Pläne, etwa für den Fall eines Terroranschlags. Nun sei man aber mit ganz anderen Herausforderungen konfrontiert gewesen. Wie schützt man am besten die Bewohner des Maimonides-Zentrums (MZ)? Wie andere Personen, etwa Risikogruppen? Hier kamen die Jüdischen HochschülerInnen (JÖH), aber auch ESRA ins Spiel. Sie betreuten ältere Personen telefonisch, erledigten aber auch Einkäufe (siehe eigener Bericht) – auch das ein Beispiel für den Zusammenhalt in der Community.

Troubleshooting an allen Ecken und Ende. Der Krisenstab bemühte sich im März, ausreichend Desinfektionsmittel und Masken zu besorgen. Im MZ wiederum drohte durch die Schließung der Grenze zur Slowakei ein Pflegenotstand. IKG-Präsident Deutsch lobt hier die gute Zusammenarbeit mit dem Krisenstab der Regierung und den Magistraten der Stadt Wien. So habe sich für jedes Problem schließlich eine Lösung gefunden.
Besonders freut Deutsch, dass es ihm gelungen ist, einen an Krebs erkrankten Israeli, der sich mit seiner Familie in New York aufhielt und dort nicht behandelt werden konnte, mit Hilfe des Außenministeriums und einer Ausnahmegenehmigung nach Österreich zu bringen, wo er bereits zuvor in einem Spital in Wiener Neustadt betreut worden war und nun weiter behandelt wird. „Das war für mich persönlich ein ganz besonderes Erfolgserlebnis.“
Der Krisenstab, dem neben dem Präsidium und den Generalsekretären unter anderen auch der Arzt Arnold Pollak, die Sicherheitsfachleute Gad Fischmann und Ariel Edelmann, Peter Schwarz von ESRA, Micha Kaufman vom MZ oder der Kommunikationsexperte Erich Nuler angehören, wird so lange im Einsatz sein, bis die aktuelle Krise bewältigt ist, betont Deutsch. Was ihm dabei am wichtigsten ist: „Die Menschen müssen wissen, da ist jemand, der ihnen hilft.“
So sehr die Krise nach innen den Zusammenhalt gefördert hat (es gab auch rund ein Dutzend Menschen, die nun wieder Mitglieder geworden sind), zeigt sich nach außen leider ein Phänomen, das es nun gilt, im Blick zu behalten. Die Verzweiflung, nicht zuletzt die wirtschaftliche, treibt Menschen dazu, nach Sündenböcken zu suchen. Zahlreiche Verschwörungstheorien fördern dabei wieder einmal jede Menge Antisemitismus zu Tage, bedauert Nägele. „Die Menschen sind der Maßnahmen müde und fangen nun an, sich Sachen einzureden. Der steigende Antisemitismus – von ‚Wir sind die neuen Juden‘ über Rothschilds bis zum Bild der jüdischen Brunnenvergifter – der wird, so fürchte ich, noch weiter steigen, wenn sich die wirtschaftliche Lage weiter verschlechtert.“ Auch hier werde die IKG alles daran setzen, um in Kooperation mit den Sicherheitsbehörden die Gemeindemitglieder zu
schützen.

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