„Je älter ich werde, umso stärker fühle ich meine jüdische Identität“

Im Dezember hat Alexander Joel, Bruder des US-Stars Billy Joel, im schwer erschütterten Israel Benjamin Brittens War Requiem dirigiert.

351
Alexander Joel ist international gefragter Dirigent aus Wien. Zurzeit kann man ihn an der Volksoper erleben. Vor allem aber ist ihm die Arbeit in Israel gerade jetzt ein besonderes Anliegen. © JULIA WESELY

Bei der Ankunft war es wirklich spooky (gespenstisch), nicht nur, weil wir zwischen vier und fünf Uhr in Tel Aviv landeten, sondern, weil ich zu allererst mit den Fotos der nach Gaza entführten Kinder konfrontiert wurde, die mich zu Tränen rührten. Dann stand ich mutterseelenallein in dem Schalterraum für ‚Nicht-Israelis‘“, erzählt der britischdeutsche Dirigent Alexander Joel. Zuletzt war er 2009 als Tourist in Israel, Ende November 2024 kehrte er zurück – dieses Mal beruflich als Operndirigent.

„Nachdem mich die Grenzbeamtin streng gemustert hatte und schließlich mit meinem ‚jiddischen Ponem‘ als väterliches Erbe zufrieden war, rief sie plötzlich aus: ‚Warum kommen Sie gerade jetzt nach Israel? Es ist die gefährlichste Zeit seit Jahrzehnten!‘“, schildert Joel seine Ankunft. „Es war mir besonders wichtig, gerade jetzt in Israel zu sein, daher freute ich mich außerordentlich über dieses Engagement an der Israeli Opera – es kam mir gar nicht in den Sinn abzulehnen.“

Alexander Joel wurde 1971 in London geboren und wuchs in Wien auf, wo er am Konservatorium der Stadt Wien Dirigieren, Klavier und Komposition studierte. „Ich wurde schon mehrmals nach Tel Aviv eingeladen, zuerst kamen wir terminmäßig nicht zusammen, dann erwischte uns alle die Corona-Zeit. Das war jetzt der dritte Versuch, deshalb bin ich so glücklich, diese Produktion an der Israeli Opera gemacht zu haben.“

Planmäßig hätte der vielbeschäftigte Joel die Neuproduktion von Benjamin Brittens Oper Peter Grimes in der Regie von Mariusz Trelinski dirigieren sollen. Da es als Koproduktion mit der Nationaloper Polens vorgesehen war, aber diese nicht nur kurzfristig abgesprungen war, sondern auch den Regisseur nicht nach Israel reisen ließ, disponierte man um: „Die flexiblen Israelis befanden, dass wegen der aktuellen Kriegsgeschehnisse an mehreren Fronten Brittens Meisterwerk War Requiem viel passender wäre. So war ich fast vier Wochen in Israel und dirigierte vier ausverkaufte Vorstellungen zwischen 6. und 13. Dezember.“

Brittens War Requiem war als Auftragswerk für die Wiedereinweihung der Kathedrale von Coventry geschrieben, die während der Luftschlacht um England 1940 zerstört wurde. Dieses kraftvolle Werk für großes Orchester symbolisiert die Sinnlosigkeit des Krieges und die Bedeutung der Versöhnung. Britten vertonte hier die Dichtung von Wilfred Owen (1893–1918), die sich auf den Ersten Weltkrieg bezieht. Die Uraufführung fand am 30. Mai 1962 in der renovierten Kathedrale statt. Die Rezeption des Stückes übertraf die Erwartungen seines Schöpfers: Schon bald wurde es zu einem öffentlichen Ausdruck der Empörung über Krieg, Konflikte und Gewalt. In War Requiem wird die Kombination aus Totenmesse und Owens Poesie auf mehreren Ebenen deutlich. „Zwei Soldaten, ein Tenor und ein Bariton singen Owens Gedichte zur Begleitung eines Kammerorchesters mit zwölf Instrumenten, um die Erfahrungen einzelner Personen in Konflikten darzustellen“, erläutert Joel.

„Es war mir besonders wichtig,
gerade jetzt in Israel zu sein.“
Alexander Joel

Alexander Joel, der bereits in jungen Jahren Preisträger internationaler Wettbewerbe war, gab im Alter von 24 Jahren sein Debüt am Opernhaus Nürnberg, von wo seine Familie stammt: Im Jahr 1928 gründete sein Großvater den ersten Versand von Textilartikeln: Bald gehörte Karl Amson Joels Wäsche- und Konfektionsversandhaus zu den Größten der Branche. Karl Joel zog 1934 nach Berlin, weil Julius Streicher, NS-Gauleiter und Gründer des Hetzblattes Der Stürmer, ihn persönlich diffamierte. 1938 wurde sein erfolgreicher Betrieb „arisiert“: Josef Neckermann „übernahm“ alles um den Viertel des Kaufwerts. Während Neckermann mit seiner Familie Joels Berliner Villa bezog, lebte dieser mit seiner Familie mittellos in einer Zürcher Einzimmerwohnung, bis er über Frankreich, England und Kuba 1942 in die USA gelangte.

Helmut Joel, der Vater von Alexander und dessen Halbbruder Billy, des berühmten Sängers und erfolgreichen Songwriters, war ein begabter Pianist und kam noch in Nürnberg zur Welt. „Ein Großteil meiner Familie ist in der Shoah ermordet worden, nur meine Großeltern überlebten. Mein Vater war sein ganzes Leben nicht nur von der Shoah, sondern persönlich vom Zweiten Weltkrieg traumatisiert: Er kämpfte mit der US-Army in Frankreich, Italien und Deutschland, sprach aber nie über seine Vorfahren und deren Schicksal. Erst als ich dreizehn Jahre alt war, nahm er mich zum Familiengrab nach Nürnberg mit und erzählte mir unsere jüdische Geschichte.“

Seinen Bruder Billy kennt er erst seit 1989 besser, da war der US-Star bereits 40 Jahre alt, Alexander erst achtzehn. „Trotz unseres Altersunterschiedes waren wir schnell ein Herz und eine Seele, denn wir haben ähnliche Eigenschaften, es verbindet uns die Liebe zur Musik, zur Pasta – und vor allem unser schwarzer jüdisch-zynischer Humor!“

Besuch in dunklen Zeiten. Wie war die Stimmung in Israel im Dezember 2024? „Zuerst haben wir in der Oper eine Sicherheitseinführung bekommen, wie wir uns im Notfall zu verhalten haben. Besonders schön war die große Wertschätzung, die uns als internationalen Künstlerinnen und Künstlern und zuteil wurde, weil wir alle in dieser schweren Zeit gekommen waren“, freut sich Joel. „Die Menschen an der Oper sind sehr liberal, und ihre Stimmung ist sehr getrübt – jeder in Israel ist irgendwie betroffen von den Ereignissen. Außerdem leiden alle durch die derzeitige Polarisierung im Land“, erzählt Joel. „Sie hoffen dennoch, aus diesem Schlamassel herauszukommen, und bewahren sich den Humor.“ Dieser brachte den in Wien beheimateten Dirigenten mit den Israelis gleich auf eine Wellenlänge. „Je älter ich werde, umso stärker fühle ich meine jüdische Identität; und jetzt, da ich wieder in Israel war, hat sich das noch mehr manifestiert.“

Doch ohne Wiener Spezis geht es auch in Israel nicht: Als Joel einen Tag lang keine Proben hatte, feierte er in Jerusalem den 50. Geburtstag des österreichischen Geigers Julian Rachlin, der gerade dort gastierte und Kollegen eingeladen hatte.

Seit der Saison 2022–2023 ist Alexander Joel Erster Gastdirigent der Volksoper Wien, wo er 1999 sein Debüt mit Wiener Blut feierte. 2013 erlangte er große Aufmerksamkeit und Lob für die musikalische Leitung der Produktionen La Bohème und Carmen am Royal Opera House Covent Garden in London; seine Interpretation wurde sogar mit der legendären von Carlos Kleiber verglichen. Das französische und italienische Opernrepertoire hat sich Joel ebenso erarbeitet wie den Ring von Richard Wagner. Dirigate führten ihn u. a. an die Bayerische Staatsoper, an die Semperoper in Dresden und an die Vlaamse Opera in Antwerpen, nach Zürich, Lyon, Kopenhagen, Amsterdam, Oslo, Stockholm, Tokio und Hamburg.

„Die Oper von Lyon hat mich wieder eingeladen, aber die Daten kollidieren mit den nächsten Engagements in Israel in den kommenden zwei Saisonen. Und Israel hat bei mir Vorrang!“ Bald geht es auf Einladung von Covent Garden wieder nach London, und aktuell dirigiert Joel auch wieder an der Wiener Volksoper seine Einstudierungen von Puccinis La Rondine sowie Offenbachs Orpheus in der Unterwelt, aber auch Repertoirevorstellungen wie z. B. Bizets Carmen. „Am glücklichsten bin ich, wenn meine zehn Jahre alte Tochter Carla im Kinderchor der Volksoper singt und ich am Dirigentenpult stehe!“

HINTERLASSEN SIE EINE ANTWORT

Please enter your comment!
Please enter your name here