* Aus: Auf der gelben Straßen, 2025
WINA: Herzlichen Dank, dass ihr euch so kurz vor der Premiere Zeit für ein Gespräch mit WINA nehmt. Im Zentrum des szenischen Konzepts eures Theaterabends steht die textliche, vor allem aber inhaltliche Verbindung zweier Kurzgeschichten, deren Entstehungszeiten und Orte sehr unterschiedlich waren – hier das Amerika eine Dekade vor der Jahrhundertwende und eine Frau, deren Mann, ein Arzt, im Bemühen um deren „Heilung“ und im Namen der Medizin massiven Missbrauch begeht, da das Wien des aufsteigenden Faschismus und der – noch – „jüdischen“ Leopoldstadt mit all ihren dunklen und so gar nicht romantischen Existenzen und Schicksalen, darunter jenem der Protagonisten „Maja“ in Der Oger, die von ihrem Mann sehr bewusst in den körperlichen und psychischen Abgrund getrieben wird. Könnt ihr zu Beginn etwas über die Auswahl der beiden Texte erzählen?
Blanka Rádóczy: Die gelbe Tapete ist eine Kurzgeschichte, während Die gelbe Straße eigentlich eine Sammlung von Kurzgeschichten ist, aus denen wir eine, eben Der Oger, ausgewählt haben und mit jener von Gilman zusammenführen.
Anna Laner: Veza Canettis Geschichte Der Oger war bereits vor dem Erscheinen des Buches als eigenständige Erzählung entstanden, die sie dann in das Buch mit vier weiteren eingearbeitet hat. Da es darin Figuren gibt, die immer wieder auftauchen, gilt Die gelbe Straße heute als Roman, ist es aber im Grunde nicht. Ihr späteres Stück Der Oger schrieb Veza Canetti dann auch Basis eben dieser Kurzgeschichte – und für unsere Bühnenadaption sind wir daher ebenfalls von der Kurzgeschichte ausgegangen, die wir nun mit jener von Charlotte Perkins Gilman verbinden.
Blanka Rádóczy: Zur Frage, warum wir diese beiden Texte zusammengeführt haben: Was mich an beiden Texten bzw. der Protagonistinnen interessiert, ist der Aspekt des Verrücktwerdens. So wird die Frau in Die gelbe Tapete in dem Raum, in den sie von ihrem Mann eingesperrt wird, ja mit der Zeit verrückt, und auch die Figur in Der Oger wird von ihrem Mann, wie du schon erwähnt hast, letztlich in den Wahnsinn getrieben. Die Frage, die ich mir als Regisseurin gestellt habe, war also, wie ich diesen Prozess des Verrücktwerdens der beiden Frauen auf der Bühne darstellen kann.
Anna Laner: Und auch die Frage, was eben dazu beiträgt, dass sie verrückt werden. Da ist einerseits diese physische Gewalt, andererseits die psychische Gewalt. Die gelbe Tapete macht dabei vor allem letzteren Aspekt deutlich, Der Oger ist wiederum ein harter, überaus brutaler Text auch über körperliche Gewalt. Und dass in diesen Kreislauf der Gewalt beide Seiten dazugehören, das finden wir ganz wichtig: In allen Femiziden, bis heute, sind es immer beide Elemente, und wir fanden es spannend, beide Geschichten parallelzuführen, um zu zeigen, dass auch Phrasen wie „Du bildest dir das alles nur ein“ oder „Ich bin eh ganz toll, nur du bist das Problem“ dazugehören. Dieses ganz alte Bild des Frauen in den Wahnsinn Treibens ist schließlich auch ein Teil bis heute aufrechter gesellschaftlicher Strukturen, die das ermöglichen.
Irgendwann verbinden sich diese beiden Frauen
zu einer Frau, einer Geschichte, denn beide erfahren
ja die gleiche Gewalt und verbinden sich
über diese gemeinsamen Erfahrungen.
Blanka Rádóczy
WINA: In der früheren Geschichte hat man dennoch das Gefühl, dass der Ehemann und Arzt seine grausamen Handlungen auf dem Fundament einer legitimierten, tradierten Behandlungstradition aufbaut, die jene erschreckenden Ergebnisse mit sich führte. Im Original bricht der Arzt, als er seinen Fehler bemerkt, in dem Raum, in dem er seine Frau gefangen hält, zusammen.
Anna Laner: In unserer Fassung tut er das nicht! Und gerade dieser Paternalisieren wie auch dieses der Frau nichts zutrauen, das spielt in die Handlungen Johns in Die gelbe Tapete hinein und gehört in das eben skizzierte weite Feld von Gewalt gegen Frauen.
Blanka Rádóczy: John in Die gelbe Tapete stellt sich selbst nie in Frage, nicht als Ehemann und nicht als Arzt. Und alles, was er tut, ist für ihn so auch das Richtige, und aus eben diesem Grund nimmt er seine Frau an keiner Stelle ernst. Dieses Kleinmachen, diese Nichtzuhören sind schon an sich Grenzüberschreitungen: John akzeptiert die persönlichen Grenzen seiner Frau an keiner Stelle, und er behandelt sie wie ein Kind – und auch das ist ein ganz typisches Moment, das sich bis heute durchzieht. So nennt er sie mehrfach im Text „meine Kleine“, was in einer Beziehung, einer Ehe ganz schrecklich und demütigend ist.
Auf der gelben Straße nach Veza Canetti
Eine Kooperation des Theater Nestroyhof Hamakom mit GLITCH Performances
Konzept: Anna Laner & Blanka Rádóczy; Regie: Blanka Rádóczy; Ausstattung: Andrea Simeon; Musik: Marion Ludwig; Dramaturgie: Anna Laner; Produktion: Nefeli Antoniadi; Schauspiel: Johanna Sophia Baader, Aline-Sarah Kunisch, Birgit Stöger
Theater Nestroyhof Hamakom, 22., 24., 25., 26., 29., 30., 31.1. u. 1.2.2025, 20 Uhr
hamakom.at/aufdergelbenstrasse
WINA: In der Bühnenfassung werden beide Geschichten tatsächlich erzählt, zum einen durch eine Erzählerin, eine weibliche Darstellerin, die parallel dazu auch in mehrere Rollen schlüpft.
Anna Laner: Es ist für uns wichtig, dass die Erzählfigur von einer Frau dargestellt wird, denn das patriarchale System ist auch eines, das von Frauen mitgetragen wurde – und wird. Es profitieren auch genug Frauen von diesem System, und das finde ich wichtig, dass man erzählt, dass es kein rein „männliches“ Problem ist.

WINA: An ihrer Seite stehen zwei Schauspielerinnen, die jeweils eine der Hauptfiguren sind und bleiben, deren Erleben der Ereignisse jedoch auf sehr unterschiedliche Weise darstellen.
Anna Laner: Der dramaturgische Grundidee kam von Blanka und ist, diese Stufen der Gewalt oder auch die Stufen des Wahnsinns, der Unterdrückung auf die Bühne zu bringen. Und unter diesem Aspekt haben wir versucht, Parallelitäten zu schaffen. Wo kommen Eingriffe des Mannes, bei denen es immer eine Stufe ärger wird, und diese Stufen finden wir in beiden Geschichten.
Blanka Rádóczy: Diese Stufen führen ja letztlich dazu, dass die Frauen verrückt werden. Im Fall der jungen Frau in Die gelbe Tapete sind diese Stufen fast ineinander übergehend und so ist die Erzählung selbst eine kontinuierlichere, sie zeigt wie sie allmählich immer mehr in den Wahnsinn abgleitet. Beim Oger von Canetti sind die Stufen hingegen klarer gesetzt.
WINA: Und so auch Majas Reaktionen, wie ich anhand des Probenbesuchs den Eindruck bekommen habe. Man hat, anders als bei ihr, bei der jungen Frau in Die gelbe Tapete das Gefühl, dass sie langsam, fast unmerklich in dieses Verrücktwerden abdriftet; sie beginnt, die Tapete zu beobachten, sie in allen Details zu beschreiben, mit ihr fast zu verschmelzen in diesem abgeschlossenen Raum in einem entlegenen Sommerhaus. Maja hingegen kommentiert mit Blicken und Gesten die Handlung, scheint aus der Geschichte auch mal auszusteigen, ohne das jedoch je wirklich zu tun.
Anna Laner: Im Falle der Frau in Die gelbe Tapete haben wir das als Schutzmechanismus gelesen: Wenn man nirgends hin kann, dann kann man sich nur in diese Welt zurückziehen, in der einem das nicht mehr wehtun kann.
Als Jüdin in dieser Zeit, in den Dreißigerjahren,
in denen der Antisemitismus sich mit Frauenfeindlichkeit
und -hass paarte, Texte wie die in Die gelbe Straße
zu schreiben, das war schon sehr außergewöhnlich.
Anna Laner
WINA: Maja wiederum, vor allem in eurer Setzung, wirkt eher wie eine Frau von heute. Und kann sich trotz allem dennoch nicht aus der Situation befreien.
Blanka Rádóczy: Man sieht auch bei ihr deutlich den Verlauf, wenn auch nicht so fließend; doch dann gibt es den Moment, an dem sie von ihrem Mann eingesperrt wird. An diesem Punkt gibt es dann auch einen, von uns erfundenen, Turn in eine andere Welt.
Anna Laner: Im Original ist Canettis Text sehr handlungsorientiert. Was wir in der Inszenierung aber machen, ist, aus der durchgehenden Außenperspektive dieser Geschichte auch eine Innenperspektive zu genieren. Diese Ich-Form, die wir für beide Figuren gewählt haben, ist nur in Die gelbe Tapete so vorhanden, nicht aber im Canetti-Text. Diese Entscheidung finden wir aber für die Inszenierung sehr wichtig, zumal wir bei beiden Frauen gegen Ende in eine innere Perspektive gehen.
Blanka Rádóczy: Und irgendwann verbinden sich diese beiden Frauen, die zuerst in getrennten Bühnensituationen dargestellt werden, zu einer Frau, einer Geschichte, denn beide erfahren ja die gleiche Gewalt und verbinden sich über diese gemeinsamen Erfahrungen, bis die Räume zu einem Raum werden und die Bewegungen der beiden Frauen sich auch immer mehr annähern. Und irgendwann beginnen sie auch, miteinander zu sprechen …
Anna Laner: … und erzählen eine Geschichten zusammen zu Ende.

WINA: Welche von den beiden?
Anna Laner: Eine ganz andere … eine Geschichte aus den 1960er-Jahren, die ihrerseits an eine Reihe von weiteren Erzählungen der Literaturgeschichte erinnert, in denen immer wieder über Frauen geschrieben wird, die verrückt wurden oder sind, Frauen an Fenstern, in Dachböden …
WINA: Was erzählt dieses abschließende Bild der beiden Frauen, die in ihren Gefängnissen aufeinander treffen und miteinander ins Gespräch kommen?
Blanka Rádóczy: Sie bleiben zwar in ihrer Welt – ein Happy End gibt es nicht –, aber sie schaffen sich auch eine neue Welt, in der sie sich als Frauen verbinden, und ich finde, das ist nicht unbedingt inhaltlich positiv – nicht, wenn man sieht, was auf der Bühne geschieht –, aber auf einer anderen Ebene, abseits davon.
Anna Laner: Es ist schon eine Geschichte der Emanzipation, die wir im Stück erzählen. Die beiden Frauen emanzipieren sich von dieser dritten Macht, von diesen Männern, und begeben sich gemeinsam und ganz aktiv in den Wahnsinn – oder auch: in einen anderen Möglichkeitsraum. Und sie entfachen, im wahrsten Sinne, diese Welt – und befreien sich von den Strukturen.
Ich glaube, dieses Solidaritätsmoment ist zentral: Nur wenn man sich zusammentut und gemeinsam gegen die Strukturen angeht, hat man eine Chance – aber es ist jetzt nicht die große These, mit der wir den Abend beenden wollen.
WINA: Ein Aspekt, den ich spannend fand, war, dass Gilman selbst ja eine ähnliche Erfahrung gemacht hatte wir ihre Figur, sich im Gegensatz zu dieser aber mit ihrem Schreiben gegen die Handlungen ihres Mannes, und ihrer Gesellschaft, zu Wehr zu setzen begonnen hat. Im Gegensatz zu ihrer Figur im Sommerhaus wurde Gilman nicht verrückt.
Anna Laner: Was uns dabei auch sehr interessiert hat, war, dass das Medizinsystem, in dem Gilman, wie ihre Figur auch, lebte, ein ausschließlich männliches war. Dass also dieser John nichts anderes anzubieten hat, weil es zu dieser Zeit noch gar keine Forschung dazu gab und die „Norm“ immer der männliche Körper war.
WINA: Bei meinem Probenbesuch war die erschreckende Feststellung, dass die beiden Texte in keiner Weise „alt“ wirken, sondern sehr aktuell; und auch das Bühnenbild erzählt eine Welt von heute.
Anna Laner: Das war auch eine unserer Ideen, diese drei Texte aus sehr unterschiedlichen Zeiten doch gemeinsam erzählen, dass es heute noch immer so ist. Wenn man diese ganzen Biografien und Geschichten von Femiziden und häuslicher Gewalt heute liest, dann ist so viel von diesen Texten drinnen: Manipulation, „Gaslighting“, auch: dieses sich nach außen hin als Gönner und Mäzen darstellen, und zuhause, im Privaten, ein, im Falle von Herrn Iger auch sehr geldgieriger, Gewaltmensch zu sein. Das Besondere am Text von Veza Canetti ist dabei: Dieser Iger ist ja vom Geld der Frau abhängig. Sie ist die Erbin, sie bringt das Vermögen in die Ehe ein.
WINA: Und trotzdem kann sie sich nicht lösen.
Anna Laner: Ja, weil die Gesetze es damals nicht zuließen. Dennoch ist bis heute vielfach der Fall, dass sich Frauen schlichtweg aus finanziellen Gründen nicht aus Gewaltstrukturen lösen können. Beide Texte zeigen Mechanismen, die heute eins zu eins noch wirksam sind.
WINA: Besonders fällt bei euch der durchgängige Einsatz von Musik auf.
Anna Laner: Auch hier wollten wir die beiden Welten klarer darstellen, hier die Frau im Sommerhaus mit der fast sphärischen Musik. Während der Text von Canetti wahnsinnig brutal ist und eine andere Musik braucht. Canettis brutalistische Sprache ist einzigartig, zumal in der Zeit, in der ihre Texte entstanden – und ist bis heute viel zu wenig beachtet. Auch ihr Gespür für „kleine Leute“, für Menschen auf der Straße, an die sie sich mit ihren Geschichten heranzoomt. Und die Ferdinandstraße in der Leopoldstadt ist direkt hier ums Eck vom Theater Nestroyhof Hamakom.
WINA: War das auch der Grund, dass Stück an diesem Haus zu zeigen?
Anna Laner: Ja, es war uns klar: Dieses Stück gehört ins Hamakom! Die Leopoldstadt war ihre Heimat, bevor sie gemeinsam mit ihrem Mann, Elias Canetti, 1938 ins Exil nach England ging, wo sie auch starb.
WINA: Die ersten Werke unter ihrem Namen wurden jedoch erst postum von Elias Canetti für die Veröffentlichung genehmigt. Zu Lebzeiten wusste man nichts von der Autorin Veza Canetti.
Anna Laner: Ein besonderes Augenmerk auf diese wichtige Autorin zu legen war uns sehr wichtig. Auf Basis unserer Recherchen im Zuge der aktuellen Inszenierung haben wir auch versucht herauszufinden, ob es noch mehr unpublizierte Texte von Veza Canetti gibt, doch irgendwie haben wir dabei das Gefühl gewonnen, dass es da wenig Interesse gibt. Für uns war diese Auseinandersetzung mit dem Ort, dem Bezirk, in dem Branka und ich auch wohnen, sehr wichtig. Auch die Auseinandersetzung mit Fragen von Ausgrenzung und Vertreibung, die in alle Texte von Canetti hineinspielen, war uns für die Inszenierung zentral. Als Jüdin in dieser Zeit, in den Dreißigerjahren, in denen der Antisemitismus sich mit Frauenfeindlichkeit und -hass paarte, Texte wie die in Die gelbe Straße zu schreiben, das war schon sehr außergewöhnlich.