Die nördliche Säule des Herakles ist berühmt als britischer Militärstützpunkt und für ihre Affen. Weit weniger bekannt ist Gibraltar als Heimat einer prosperierenden jüdischen Gemeinde. Von Sebestyén Fiumei
Wer samstags durch Gibraltars Straßen schlendert, der wird mehr oder weniger verwundert zur Kenntnis nehmen müssen, dass allerorts die Geschäfte geschlossen sind. In Israel wäre das selbstverständlich, aber auf der anderen Seite des Mediterraneums? Oder doch – in einem Land mit dem zweithöchsten jüdischen Bevölkerungsanteil nach Israel sollte das eigentlich nicht weiter überraschen.
Der Fels von Gibraltar, die nördliche Säule des Herakles, liegt an der Südspitze Andalusiens und ist seit mehr als 300 Jahren britisch. Die Halbinsel, in etwa so groß wie Währing, ist berühmt als britischer Militärstützpunkt und für seinen mehr als 400 Meter hohen Felsen – „The Rock“ – mit seinen Berberaffen. Gibraltar ist der einzige Ort in Europa, an dem Affen frei lebend vorkommen.
Weit weniger bekannt, aber nicht weniger bedeutend, ist die Tatsache, dass in der kleinen Mittelmeerstadt auch eine sehr lebhafte jüdische Gemeinde beheimatet ist. Laut Jonathan Sacks, dem ehemaligen Oberrabbiner des Vereinigten Königreichs, sind die Juden Gibraltars so gut in die Gesellschaft integriert wie wahrscheinlich sonst nirgendwo auf der Welt. Für die rund 800 lokalen und die weiteren 200 israelischen Juden ist der Antisemitismus nur vom Hörensagen bekannt. Die gibraltarische Kehilat (jüdische Gemeinde) ist vielleicht die ungewöhnlichste der Welt. In diesem „Klein-Britannien“ – die Peninsula hat insgesamt weniger als 30.000 Einwohner – befinden sich immerhin vier Synagogen in einem Abstand von wenigen hundert Metern. Und am Schabbat sind alle vier voll. In welche Synagoge man geht, hat eher etwas mit familiären Gewohnheiten zu tun und nichts mit der religiösen Ausrichtung. In Gibraltar beten alle Juden – von den streng Orthodoxen über Orthodoxe und Konservative bis zu den Liberalen – miteinander, jeweils unter „einem Dach“, oder genauer gesagt: unter vier Dächern.
Solid as a rock
1704 eroberten die Briten Gibraltar von den Spaniern. Das wieder rückgängig zu machen, bekommt man in Spanien allerdings bis heute nicht ganz aus den Köpfen. Ein alter Aberglaube besagt, sollten die Affen vom Fels verschwinden, würden die Briten die Hoheit über das Eingangstor zum Mittelmeer verlieren. Hintergrund dieser Legende ist, dass während der letzten spanischen Belagerung Gibraltars die Briten von den Affen vor einem Nachtangriff der Spanier gewarnt worden wären. Eine starke Legende. Während des Zweiten Weltkrieges schrumpfte der Bestand der Tiere so sehr, dass auf Sir Winston Churchills persönlichen Befehl hin eigens Affennachwuchs aus Marokko rekrutiert wurde. Soweit zur britischen Historie.
Der Friede von Utrecht (1713) verbat formell die Ansiedlung von Juden auf dem Felsen, dennoch wurde dort schon im Jahre 1749 die erste Synagoge eröffnet. Die meisten Juden auf dem Rock sind Sefardim. Ihr Einfluss ist u. a. auch in der gibraltarischen Mundart Llanito zu erkennen. Llanito ist eine spanisch-englische Mischsprache (aus sprachwissenschaftlichem Blickwinkel eher ein Code-Switching) mit ca. 500 Wörtern aus unterschiedlichen jüdischen Sprachen wie Hebräisch, Ladino oder Haketia (sog. westliches Ladino aus Nordmarokko).