„Es gibt zwei jüdische Gemeinschaften, die unterschiedlich leben wollen, und das sollte man akzeptieren“
Rabbiner Slomó Köves über seine Rolle in der jüdischen und ungarischen Öffentlichkeit, über seine Gemeinde und über die Stiftung Tat und Schutz, die er im Kampf gegen Antisemitismus mitinitiiert hat.
WINA: Rabbi Köves, unter Ihren Vorfahren gab es viele Rabbiner und jüdische Gelehrte, trotzdem hatten Sie keinerlei religiöse Erziehung, bis Sie 13 Jahre alt waren. Was brachte den Umschwung, die bevorstehende Bar Mizwa?
Rabbi Slomó Köves: Nein, eigentlich schon früher, mit etwa elf Jahren. Ich wurde in eine säkulare Familie geboren, meine Eltern sind beide nach der Schoa geboren, beide wussten nicht, dass sie Juden waren. Die Großeltern auf beiden Seiten haben das verschwiegen.
Wie haben diese die Schoa in Ungarn überlebt?
I Ein Teil ging schon vor dem Krieg nach Bolivien, die anderen drei überlebten im Budapester Ghetto und in der Zwangsarbeit. Nach dem Krieg und während des Kommunismus waren Religion und Judentum nicht Teil unserer Identität. Auch meine Eltern erfuhren erst mit 16 Jahren, dass sie jüdisch waren. Da sie aber uns, mir und meinen zwei jüngeren Schwestern, nicht das Gleiche antun wollten, sagten sie uns das früher. Der Großteil der ungarischen Juden hatte ja eine ähnliche Geschichte, denn jene, die ursprünglich orthodox waren, sind spätestens mit dem Aufstand im Jahr 1956 weggegangen.
Wie ging es bei Ihnen weiter?
I Der Kommunismus war vorbei, als ich elf Jahre alt wurde. Plötzlich war viel die Rede von Judentum und Identität. Ich interessierte mich für alles Neue und begann mich zu informieren – dabei habe ich erst entdeckt, dass „jüdisch Sein“ eine Religion ist! 1989 kam dann Rabbi Baruch Oberlander als erster Shaliach (Abgesandter) von Lubavitch Chabad nach Ungarn; ich begann bei ihm zu lernen, und eineinhalb Jahre später hatte ich meine Bar Mizwa. Aber zuerst musste ich Brit Mila (Beschneidung) mit 12 Jahren machen.
Was sagten Ihre Eltern zu all dem?
I Ich war in der achten Schulstufe, als ich ihnen gesagt habe, dass ich Rabbiner werden und dafür zum Studium nach Israel gehen möchte. Sie sagten nur, „OK, du kannst auf ein halbes Jahr fahren, dann sehen wir, ob du das fortsetzen willst.“ Ich absolvierte die zehn Jahre meiner Rabbiner-Ausbildung in Israel, in den USA (Pittsburgh und New York), anschließend in Frankreich. Mein Geschichtsstudium an der Universität von Debrecen – über die Geschichte des ungarischen Judentums im 19. Jahrhundert – schloss ich 2007 mit einem PhD ab.
„Ich fühlte eine gewisse Verantwortung meinen ungarischen
Landsleuten gegenüber.“
Rabbi Slomó Köves
Sie haben an renommierten jüdischen Hochschulen in den USA studiert, warum kamen Sie nach Ungarn zurück?
I In den frühen 1990er-Jahren gab es etwa 4.000 junge Menschen, die so wie ich religiös geworden waren. Fast alle verließen Ungarn, weil sie für ihr neues Leben keine Infrastruktur vorfanden. Ich fühlte eine gewisse Verantwortung meinen ungarischen Landsleuten gegenüber: Ich hatte bereits die Schönheit des jüdischen Lebens, der tiefgründigen Philosophie und des Chassidismus erfahren, daher empfand ich die Pflicht, zurückzukommen und das alles mit den ungarisch-jüdischen Menschen zu teilen. Ich hoffte auch, eine Frau zu finden, die mit mir nach Ungarn gehen würde. Ich hatte Glück: Dvora Lea aus Israel war dazu bereit, ihr Vater war Shaliach in Akko. Wir heirateten 2001 und haben inzwischen fünf Kinder miteinander.
Auch nach dem Fall des Kommunismus war immer wieder von rund 100.000 in Ungarn lebenden Juden die Rede. Aber es gab vielleicht fünftausend, die sich zu ihrer Religion bekannten – und noch viel weniger, die sie praktizierten. Wie würden Sie das Judentum aufgliedern?
I Da sehe ich vier Kategorien: erstens die Orthodoxie, die vor allem auf dem Land und nicht in Budapest zu finden war. Dieser Teil wurde auch in der Schoa am schlimmsten dezimiert. Zweitens hatte Budapest vor dem Krieg eine Million Einwohner, davon waren rund 250.000 Juden, und von diesen hatten sich etwa 100.000 schon vor der Schoa taufen lassen. Die Dritten sind die säkularen Juden, die zum Teil auch Kommunisten waren, wie meine Familie. Das Model der neologen Juden ging überhaupt nicht auf: Denn sie dachten, wenn sie gute Ungarn wären, würden man ihnen nichts antun. Doch das war eine große Illusion, den Kommunisten waren die Neologen einfach bequemer. Ein paar Tausend gingen einmal im Jahr zu Jom Kippur in den Tempel. Chabad konnte in den letzten 30 Jahren sehr viele Juden erreichen.
Im Januar 2003 wurden Sie als erster orthodoxer Rabbiner nach der Schoa von drei Rabbinern, davon zwei Oberrabbiner aus Israel, in Ihr Amt eingeführt. Auch der damalige liberale Präsident Ungarns, Ferenc Madl, wohnte dieser historischen Zeremonie bei. Als ein wichtiges Ziel und auch das von EMIH – Egységes Magyarországi Izraelita Hitközség (Vereinte Ungarische Israelitische Gemeinde) nennen Sie die Bewahrung des jüdischen Erbes, die alten Synagogen wieder herzustellen und neue einzuweihen. Wer finanziert die EMIH?
I Ja, natürlich geht es uns um das Erbe, vor allem aber um das tägliche jüdische Leben. Daher waren uns Bethäuser sehr wichtig. Derzeit sind rund zwanzig Synagogen in Ungarn aktiv, davon betreibt EMIH elf: Neun sind in Budapest und je eine in Miskolc und Debrecen.*
Wir haben zwei Schulen, einen Cheder (Volksschule mit jüdischen Fächern) und die Maimonides-Schule für nicht religiöse Kinder. Wir stellen koscheres Fleisch bereit, betreiben ein eigenes Schlachthaus sowie sechs koschere Restaurants.
Jüdisches, auch religiöses Leben in Ungarn zu ermöglichen, ist unser wichtigstes Anliegen. Als ich jung war, hat es keine Möglichkeiten dafür gegeben, auch wenn ich dies gewollt hätte. Mein Ziel ist und war es, jedem, der es möchte, auch die Infrastruktur zu bieten, dass er beten gehen, koscher halten und auch Schomer Schabbat (Einhaltung der Schabbat- Gesetze) sein kann.
Aber von den Einnahmen der Gastronomiebetriebe allein können Sie das sicher nicht alles stemmen?
I Zu Beginn machten wir es genauso wie Lubavitch- Chabad-Bewegungen in anderen Städten: Wir bemühten uns um Spenden in Ungarn und im Ausland. Leider kam da nur sehr wenig zusammen. Also haben wir uns an Mazsihisz gewendet, die eine neologe Ausrichtung hat, sich aber als Vertretung aller Juden Ungarns sieht, also ähnlich wie die IKG in Wien. Rabbi Oberlander fragte an, ob wir Teil von Mazsihisz sein können, um auch in den Genuss der staatlichen Förderungen zu kommen. Man teilte uns eindeutig mit, dass wir keine Mitglieder werden können. Deshalb haben wir 2004 unsere Dachorganisation EMIH gegründet und sind weiter auf Sponsorensuche gegangen.
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Haben Sie dann mit Mazsihisz und anderen jüdischen Vereinen um Zuwendungen seitens der ungarischen Regierung konkurriert?
I Nein, denn die Regierung hat Mazsihisz acht Millionen Forint (etwa sechs Millionen US-Dollar) als jährliche Förderung für die gesamte jüdische Gemeinde zugeteilt. Das war die Summe, mit der man – statt der Rückgabe von jüdischen Gebäuden – monetär kompensiert hat. Von 2004 bis 2010, also sechs Jahre lang, haben wir darum gekämpft, dass EMIH mindestens zehn Prozent dieser Förderung erhält. Mazsihisz erhält 80 Prozent und die kleine orthodoxe Gemeinde MAOIH in Budapest auch zehn Prozent.
Woher kommen also die restlichen Finanzmittel für die umfangreichen Aktivitäten von EMIH?
I Diese Förderung war ein wichtiger Schritt, aber das reichte nicht aus. Ich fuhr immer wieder in die USA, um unsere Spender weiter zu motivieren. Ich sagte ihnen, dass sie uns helfen müssten, ihre Antwort war: „Wir haben euch schon letztes und vorletztes Jahr geholfen, warum unternehmt ihr nicht etwas, damit ihr selbstständig Einkommen generiert?“ Diesen Rat haben wir ernst genommen: Derzeit betreiben wir eine Kette von zehn Altersheimen, die wir komplett übernommen haben, und zwei weitere sind inzwischen dazu gekommen. Insgesamt leben 1.600 Menschen in den Heimen dieser Kette, die die größte in Budapest ist.
Sind da auch jüdische Senioren untergebracht?
I Es gibt rund hundert jüdische Bewohner. Die versorgen wir mit koscherem Essen, und ein Rabbi betreut sie regelmäßig. Anstatt ein kleines Heim für 100 Juden zu schaffen, werden sie gut in den großen Häusern versorgt. Außerdem haben wir 2017 die Milton- Friedman-Privatuniversität eröffnet, benannt nach dem amerikanischen Wirtschaftswissenschafter, an der derzeit 2.000 junge Menschen Fächer wie Politikwissenschaft und Soziologie studieren, aber auch ein IT-Angebot bekommen sowie eine Privatpiloten- Ausbildung machen können. Die Universität ist für alle zugänglich, dennoch bieten wir zusätzlich das Programm Jüdische Studien an. Es nennt sich Ashkenazim, weil es um das Erbe der mitteleuropäischen Juden geht. Unser neuestes Unternehmen haben wir soeben gekauft, das ist die große Aluminium-Fabrik Inotal im Süden Ungarns. Aus all diesen Geschäftsbereichen finanzieren wir das gesamte jüdische Leben.
Es ist immer wieder die Rede von großen Friktionen zwischen dem Mazsihisz und Ihrer Organisation EMIH. Vor allem heißt es, dass Sie persönlich sehr gute Beziehungen zu Regierungschef Viktor Orbán haben, der zwar pro-israelisch auftritt, aber wenig gegen den Antisemitismus in der ungarischen Politik sowie in der Zivilgesellschaft unternimmt. Was sagen Sie dazu?
I Diese Behauptungen sind faktisch unwahr: Erstens erhalten wir nicht mehr staatliche Unterstützung, wie ich Ihnen ausgeführt habe. Zweitens stehen wir in der Jahrtausende alten Tradition der jüdischen Gemeinden: Wir müssen gute Beziehungen zu den Regierenden pflegen, nur wenn jemand ausgesprochen antisemitisch ist, wie es Hitler war, müssen wir überlegen, wie wir damit umgehen. Da wir über Jahrhunderte immer eine Minderheit sind, können wir uns nicht aussuchen, wer uns regiert, wir sind angehalten, mit allen Parteien gleich umzugehen, also unparteiisch. Wenn man Viktor Orbán, wie er heute ist, mit jenem vor 25 Jahren vergleicht, liegen Welten dazwischen, auch bezüglich des Antisemitismus in seiner Fidesz-Partei. Hier ein paar Zahlen dazu: Jüngst wurde in einer Umfrage auch der Antisemitismus in allen Parteien abgefragt. Dabei kam heraus, dass bei Fidesz vor zehn Jahren etwa 15 Prozent stärker antisemitisch waren als bei den Linken, heute ist es genau umgekehrt.
Und was ist mit der schrecklichen Plakatkampagne gegen den jüdischen Philanthropen George Soros, mit der die Straßen und U-Bahn Stationen vollgeklebt waren?
I Worin sehen Sie eine antisemitische Kampagne? Vor zehn, fünfzehn Jahren waren weder Orbán noch seine Fidesz derart pro Israel. Aber Soros ist ja selbst gegen Israel. Wir wollten wissen, ob die Ungarn Soros als Juden wahrnehmen, und wir haben das auch abgefragt. Denn wenn das so ist, dann hätten die Plakate eine versteckte antisemitische Botschaft transportiert. Es stellte sich aber heraus, dass nur zwei Prozent der Befragten Soros als Juden sahen, und nur sieben Prozent waren es bei den antisemitischen Parteien. Das heißt aber nicht, dass mir das gefällt, denn es ist sicher eine sehr simple und populistische Kampagne, aber das heißt noch nicht, dass sie antisemitisch ist.
Finden Sie nicht, dass die Kontroversen zwischen den jüdischen Gruppierungen in Ungarn diese insgesamt schwächen? Könnten EMIH und Mazsihisz nicht mehr erreichen, wenn sie an einem Strang ziehen?
I Ich bin sehr dafür, dass wir nicht miteinander streiten. Wir machen alle Fehler, das Leben ist nicht schwarz oder weiß, auch ich habe Fehler gemacht. Es ist wichtig, dass wir uns gegenseitig respektieren und auch gelten lassen. Es gibt zwei jüdische Gemeinschaften, die unterschiedlich leben wollen, auch das muss man akzeptieren. Die Situation hat sich aber meiner Meinung nach in letzter Zeit schon beruhigt. Der neue Präsident von Mazsihisz geht die Sachen etwas ruhiger an, das beste Beispiel dafür ist unser gemeinsamer Kampf gegen Antisemitismus in der Action and Protection Foundation TEV (Tett és Védelem Alapítvány), die wir ins Leben gerufen haben und wo alle Gemeinden das gleiche wichtige Ziel verfolgen.
Slomó Köves, geboren 1979 ist Oberrabbiner der EMIH (Egységes Magyarországi Izraelita Hitközség), einer Mitgliedsorganisation der Chabad-Lubawitsch-Bewegung in Ungarn. Köves ist außerdem Oberrabbiner der ungarischen Streitkräfte. Köves wuchs in einer säkular-jüdischen Familie auf und erhielt im sozialistischen Ungarn keine jüdische Erziehung. Er verließ daher auf eigenen Wunsch das ungarische Schulwesen, um ins Ausland zu gehen und sich der religiösen Studien zu widmen. Er absolvierte die Yeshiva High School in Pittsburgh (USA), das Institut Superieur D’études Rabbiniques et Talmudiques in Brunoy (F) und die Central-Lubavitch -Yeshivot in New York (USA). Er ist außerdem zertifizierter Sofer und Mohel. Im Januar 2003 wurde Slomó Köves als erster orthodoxer Rabbiner seit dem Holocaust in Ungarn ordiniert und übernahm 2004 die Position des Oberrabbiners in der damals neu gegründeten Statusquo-Bewegung EMIH (Einheitliche Israelitische Gemeinde Ungarns). Zu seinen Initiativen zählen die Wiedereröffnung der Budapester Mikwe in der Kazinczy utca, sowie der Óbudai Zsinagóga, der ältesten Synagoge Budapests. Er beteiligte sich an der Gründung mehrerer religiöser Bildungseinrichtungen für Kinder und ist Mitbegründer der Stiftung für Tat und Schutz. Diese Organisation widmet sich der Bekämpfung des zunehmenden Antisemitismus in Ungarn durch Bildungsarbeit, dialogorientierte Ansätze und die Förderung einer positiven jüdischen Identität.
*2019 veröffentlichte die Hebrew University of Jerusalem eine Studie, wonach noch 162 Synagogen in Ungarn identifiziert werden konnten. Das ist knapp ein Viertel der Anzahl vor der Schoa. Falls die Schätzungen stimmen, gab es vor 1939 etwa 600 Synagogen und Bethäuser in Ungarn.

























