
Es gab schon einmal optimistischere Perspektiven. Stolz ist Sharon Adler darauf, in den vergangenen Jahrzehnten jüdische Themen in den gesamtgesellschaftlichen Diskurs eingebracht, aber auch den Dialog angestoßen zu haben. Eines ihrer Herzensprojekte war hier Schalom Aleikum – Als Freundin hinzufügen, das 2014 in Kooperation mit der Heinrich-Böll-Stiftung startete und im Rahmen dessen muslimische und jüdische junge Frauen ein Tandem bildeten, um über die Gemeinsamkeiten und Unterschiede in ihrem Leben zu schreiben. Die dabei entstandenen Texte wurden von AVIVA-Berlin redaktionell betreut und auf der Seite veröffentlicht.
Für eine Fortführung dieser Initiative fehlte Adler das Geld – eines der Hauptprobleme, das sich auch durch 25 Jahre Magazinmachen zieht. Zum einen gebe es hier wenig öffentliches Engagement, sagt sie, „wenn etwas gefördert wird, dann hat es meist ausschließlich mit Antisemitismus zu tun.“ Über Antisemitismus werde „auf der AVIVA zwar natürlich auch eingehend berichtet, wie zum Beispiel in unserem Projekt JETZT ERST RECHT. STOP ANTISEMITISMUS, aber eben nicht nur“. Sie bekomme jedenfalls leider keine institutionelle Förderung. „Damit bin ich aber auch unabhängig, und das wiederum hat ja auch etwas Gutes.“
Andererseits ist sie auch sehr restriktiv, wenn es um die Auswahl von Werbeeinschaltungen geht. Eben sei auf der Seite eine Anzeige des Jüdischen Museums Berlin für die derzeit laufende Schau Access Kafka zu sehen. Darüber freue sie sich, und dahinter könne sie stehen. „Aber so Dinge wie Schaltungen für Dating-Portale, Schminke, Beauty, das ist für mich nicht relevant.“
Es ist eben eine ganz andere Art von Frauenmagazin, das Adler 1999 ersann und das schließlich Anfang 2000 online ging. Ihr stieß sauer auf, „dass Frauen, ob jetzt in der Kunst oder Literatur, in der Wissenschaft, Medizin, Politik oder Wirtschaft einfach nicht so präsent sind wie ihre männlichen Kollegen“. Frauen seien aber auch in der Geschichtsschreibung unterrepräsentiert. Und Jüdinnen seien sowohl in der allgemeinen Geschichtsschreibung wie auch in der gegenwärtigen Erzählung nicht adäquat vertreten. Als Jüdin sowie Nachfahrin von sowohl Holocaust-Überlebenden wie auch von von den Nationalsozialisten Ermordeten war ihr auch diese Perspektive wichtig.
Der 7. Oktober führte auch
dazu, dass beinahe alle der
nichtjüdischen Journalistinnen,
[…] sich nicht mehr meldeten.
Auf AVIVA-Berlin wird dagegen angeschrieben. Über die Jahre ist so eine ansehnliche Zahl von Porträts, Interviews, Berichten entstanden. Gemeinsam ist ihnen die Tiefe, das Hintergründige, das Ausgearbeitete. Hier wird nicht einfach etwas rasch dahingeschrieben. An manchem Beitrag arbeite sie zwei Wochen oder sogar länger, weil es ihr eben nicht reiche, ein Thema einfach nur über das Wiedergeben einer Presseaussendung anzureißen, berichtet sie.
Sie sagt aber auch: Es gebe durchaus die Momente, in denen sie darüber nachdenke, ob es Zeit sei, „die AVIVA neu auszurichten“. Ob es vielleicht da oder dort Sinn mache, ein Thema nur kurz, etwa in Blog-Beiträgen, vorzustellen und damit zu helfen, es zum Thema zu machen. Das hat auch damit zu tun, dass Adler zuletzt auch viele ihrer Autorinnen abhanden kamen. Hier kommt der 7. Oktober 2023 ins Spiel – dazu an späterer Stelle mehr.
Als nahezu One-Woman-Show muss sie jedenfalls mit ihren Zeitressourcen schonend umgehen – zumal sie neben dem Magazin auch für andere Projekte verantwortlich zeichnet.
Da ist etwa ihre ehrenamtliche Tätigkeit als Vorständin der Stiftung ZURÜCKGEBEN. Diese fördert seit 1994 jüdische Frauen in Kunst und Wissenschaft. Da ist aber vor allem die Reihe Jüdinnen in Deutschland nach 1945. Erinnerungen, Brüche, Perspektiven für die Bundeszentrale für politische Bildung in Deutschland. Zuletzt sprach sie dafür im Dezember des Vorjahres mit der Künstlerin, Musikerin, Kuratorin, Performerin und Aktionistin Elianna Renner, die sich ihrerseits in ihren interdisziplinären und interaktiven Arbeiten ebenfalls der Sichtbarmachung vergessener Frauenbiografien widmet. Die Texte, die hier entstehen, stellt Adler auch auf AVIVA-Berlin.de.
aviva-berlin.de
bpb.de/318092
mdbk.de/provenienzforschung
stiftung-zurueckgeben.de
pixelmeer.de
Darunter findet sich ebenfalls ein Gespräch mit der Literatur- und Filmwissenschafterin Cathy Gelbin, in dem sich die beiden auch über den im Gefolge des 7. Oktober 2023 weltweit angestiegenen Antisemitismus unterhalten. Es ist ein Thema, das Sharon Adler persönlich schmerzt. Mit Drohungen und Beschimpfungen in Zuschriften war sie bereits vor diesem Datum nicht ständig, aber doch immer wieder konfrontiert. Nun aber sieht sie vor allem eine andere Art von Bruch, „der vieles, was es an gewachsenen Allianzen und Kooperationen gegeben hat, zerstört hat“.
Es ist der Umgang in linken Kreisen, in der feministischen und queerfeministischen Szene, teils auch im eigenen Freundes- und Bekanntenkreis mit dem Überfall der Hamas auf Israel, der Adler vor den Kopf stößt. „Da gab es so viel Solidarisierung mit den Terroristen, da wurde die sexualisierte Gewalt an Frauen und Mädchen und, wie wir heute wissen, auch an Männern, völlig ignoriert, dass ich bezweifle, ob es da nochmals zu einer Art von Zusammenarbeit kommen kann.“ Eine Freundin zum Beispiel, die sie kenne, seitdem sie 17 Jahre alt sei, habe nach dem 7.Oktober 2023 nicht einmal gefragt, wie es ihr gehe. Und das, obwohl sie wisse, dass Adler auch Familie in Israel habe. „Als sie dann an meinem Geburtstag am 23. Oktober angerufen hat, bin ich nicht ans Telefon gegangen, weil ich es wirklich nicht ertragen konnte.“
Ernüchternd seien aber auch die Stellungnahmen diverser Frauenorganisationen am 25. November 2023, dem Internationen Tag gegen Gewalt gegen Frauen, gewesen. „Ich habe alle Pressemitteilungen, die dazu bei der AVIVA eingingen, nach einem Wort der Anteilnahme, Empathie und Solidarität durchforstet. Aber da war nichts. Der 7. Oktober wurde nicht thematisiert. Bei einer Organisation hat sich auch ein ganz tief sitzender Antisemitismus gezeigt. Ich habe alle Institutionen kontaktiert, und die Pressesprecherin einer Einrichtung sagte auf meine Frage, warum zu Spenden für die Menschen in Gaza aufgerufen würde, aber nicht für die von Traumata betroffenen Überlebenden der Massaker vom 7. Oktober, man habe hier erstens ‚keine Expertise‘, und außerdem wisse man ,ja auch gar nicht, ob das wirklich alles so passiert ist‘. In Israel hätten sie zudem auch ‚genug eigenes Geld‘.“ Autorinnen, die für die AVIVA-Berlin schreiben, tun dies vor allem, weil ihnen die Themen ein Anliegen sind. Denn zahlen kann Sharon Adler mangels stabiler Finanzierung leider wenig oder nichts. Dass sie aktuell aber nahezu die einzige Autorin ist, hat andere Gründe. Denn der 7. Oktober führte auch dazu, dass beinahe alle der nichtjüdischen Journalistinnen, die immer wieder Texte zum Magazin beisteuerten, sich nicht mehr meldeten. Auch das setzt Adler persönlich zu, gerade auch, weil ihr der Dialog immer so wichtig war. Dafür ergäben sich nun andere Perspektiven und Allianzen, erzählt sie: etwa von Jüdinnen mit Kurdinnen und Jesidinnen. Ein Projekt wie Schalom Aleikum wäre aktuell aber schwierig, meint sie.
Hat Social Media ihre Arbeit als Online-Journalistin verändert? Adler sagt, sie sei hier nicht sehr präsent, auch wenn sie selbst immer wieder an Online-Kampagnen teilnehme. In den Anfangsjahren habe sie auch noch mehr darauf geschaut, wie die Zugriffszahlen auf die Seite an sich ausschauen, doch das interessiere sie nicht mehr. Das sei einerseits auch ihrem Zeitproblem geschuldet, andererseits aber hechle sie eben keinen Zahlen und keinen Likes hinterher. Sie stelle die Beiträge auf die Seite und vertraue dann darauf, dass die Texte ihre Leser und Leserinnen finden. Worüber sie sich freue, sei dann zum Beispiel das Feedback von anderen Journalistinnen, die ihr erzählen, dass sie bei ihren Recherchen immer wieder über die AVIVA-Berlin stolpern beziehungsweise gezielt auf der Seite nach jüdischen Themen oder Personen suchen. „Das ist die Relevanz, die mir wichtig ist.“ Wahrscheinlicher als künftig Themen nur mehr kurz anzureißen sei daher auch, dass in dem Magazin auch in den nächsten Jahren alles so bleibe, wie es jetzt ist. Was Adler jedenfalls sicher weiß: Sie will die AVIVABerlin weiterführen – gerne auch weitere 25 Jahre.