„Jüdische Menschen sind zu ihrem alten Glauben zurückgekehrt“

Nur wenige Monate nach Kriegsbeginn hat Botschafter Benkö seinen Dienst in Kyiv angetreten. Jetzt rät er Europa, sich sicherheitspolitisch neu aufzustellen: Der Frieden dürfe nicht mehr als gegeben und ewig angenommen werden.

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Botschafter Arad Benkö bei der Übergabe der Beglaubigungsurkunde an Präsident Selensky im Jänner 2023. © privat

WINA: Herr Botschafter, Sie haben Ihren Posten in Kyiv genau sechs Monate nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine, im August 2022, angetreten. Vor unserem Gespräch waren Sie gerade im Osten, in Lemberg, unterwegs. Wie viel können, müssen Sie für Ihre Tätigkeit im Land herumreisen?

Arad Benkö: Das Reisen ist ein wichtiger Bestandteil meiner Arbeit in einem Land, in dem Österreich zahlreiche bilaterale Projekte umsetzt. Das sind großteils humanitäre Projekte, vom relativ sicheren Westen bis hin in frontnahe Gebiete. Darüber hinaus besuche ich aber auch regelmäßig österreichische Unternehmen, deren Produktion weiterhin läuft, und sogar Kulturprojekte können zu Kriegszeiten implementiert werden.

Reisen außerhalb der Hauptstadt sind wichtig, um sich ein Bild von der Stimmung und der Lage im gesamten Land machen zu können, und die Menschen freuen sich über solche Besuche als Zeichen der Solidarität.

Der Flugverkehr wurde mit dem 24. Februar 2022 eingestellt, daher ist eine Bewegung für das Team der Botschaft in die Ukraine und hinaus nur mit dem Zug oder per PKW möglich. So bin ich also viel auf Achse, im wahrsten Sinn des Wortes.

 

Bei der Einweihung einer neuen Tora-Rolle in Kyiv: Ich durfte beim Fertigstellen den Arm des Chabad-Rabbiners berühren und damit persönlich die Hand anlegen. Rosch ha-Schana 2023. © privat

 

Erzählen Sie uns ein wenig davon, wie Ihr Alltag als österreichischer Botschafter in diesem kriegsgepeinigten Land aussieht?

I Der Alltag in der Hauptstadt unterscheidet sich oberflächlich gesehen wenig vom Alltag in Wien, Rom oder Paris. Man geht zur Arbeit, trifft sich mit Freunden, besucht die Oper, alles in allem eine scheinbare Normalität. Doch täglich ertönt ein- oder mehrmals der Fliegeralarm, vor allem in der Nacht. Und in der Regel ist eine mittel- und langfristige Planung kaum möglich. Trotzdem ist jeder Tag mit Terminen gefüllt, seien es politische Gespräche mit ukrainischen Politikern oder Diplomaten, seien es Koordinationsgespräche im Kreis europäischer Kollegen zu wirtschaftlichen oder politischen Themen.

 

Es gibt auch öfter Stromabschaltungen, wie wirkt sich das aus?

I Ja, das stimmt. Einerseits gibt es seit Mai immer wieder Stromabschaltungen von bis zu 12 Stunden am Tag, andererseits lebt es sich als Diplomat, humanitärer Helfer oder Journalist in der Ukraine doch anders als die Einheimischen. Denn sie haben Brüder, Söhne oder Ehemänner, die an der Front stehen – sie leben also in der ständigen Angst, schlechte Nachrichten zu erhalten. Und nicht immer gelingt es der Flugabwehr, russische Marschflugkörper oder Drohnen abzufangen – sie haben leider sehr hohes Zerstörungspotenzial.

„Reisen außerhalb der Hauptstadt sind
wichtig, um sich ein Bild von der Stimmung und
der Lage im gesamten Land machen zu können,
und die Menschen freuen sich über solche

Besuche als Zeichen der Solidarität.“
Arad Benkö

Ist meine Annahme richtig, dass es derzeit bei Ihren Aufgaben weniger um die „große Politik“ geht, sondern um soziale Hilfe?

I Die Bandbreite der Aufgaben und Themen ist sehr groß. Das humanitäre Segment hat sich im Vergleich zu 2022 reduziert, dennoch besuchen wir immer wieder österreichische Projekte im Land, weil Österreich nach wie vor die Unterstützung der notleidenden Zivilbevölkerung im Auge hat. Natürlich zählt die politische Berichterstattung gerade in einem Land wie der Ukraine, wo angesichts des russischen Angriffskriegs die europäische Sicherheitspolitik eine Neuorientierung erfährt, zum Kerngeschäft der Diplomatie. Aber auch die weiterhin starke Präsenz von fast 200 österreichischen Unternehmen erfordert die Aufmerksamkeit der Botschaft.

Der Wiederaufbau wird früher oder später voll anlaufen, und Österreich ist interessiert, hier einen wichtigen Beitrag zu leisten, es wurde eigens dazu ein Point of Contact im Außenministerium eingerichtet. Abgesehen davon sind wir auch dabei, den Kulturbetrieb wieder hochzufahren. Denn die Menschen in der Ukraine sind gerade in diesen schwierigen Zeiten sehr dankbar für Abwechslung.

 

Sie erwähnten in einem Ö1-Gespräch, dass Sie auch den Kontakt zu den jüdischen Bewohnern pflegen und manchmal die Synagoge besuchen. Welche Probleme haben die noch verbliebenen jüdischen Ukrainer? Handelt es sich da großteils um ältere Menschen?

I Die jüdische Gemeinde in der Ukraine ist eine der größten in Europa. Zur Zeit der Sowjetunion war die Ausübung des jüdischen Glaubens verboten, und viele Juden haben sich assimiliert. Ich habe mehrfach sehr alte Menschen kennen gelernt, mit denen ich das jüdische Neujahr gefeiert habe, die zum alten Glauben zurückgekehrt sind. Sie sind zufrieden in der Ukraine. Leider gibt es auch hier Antisemitismus, aber der Anteil rechtsextremer Kräfte ist verschwindend gering. Es ist gut, dass in der Ukraine ein Jude Präsident sein kann, und es im Übrigen irrelevant ist, welche Religion ein Politiker hat.

 

Sie haben bisher mehr als zwei Jahre in der Ukraine verbracht. Wie würden Sie die bewundernswerte hohe Moral und Resilienz der Bevölkerung im ersten Jahr des Krieges mit der Stimmung heute vergleichen?

I Wenige hätten der Ukraine zugetraut, sich gegen den russischen Aggressor so lange militärisch zu behaupten. Das liegt – so wie Sie sagen – an der hohen Moral und Resilienz der Bevölkerung, die für mich persönlich sehr beeindruckend und inspirierend ist. Auch wenn die Stimmung vor zwei Jahren positiver war, ist die Überzeugung, für die Freiheit und die Souveränität ihres Landes kämpfen zu müssen, weiterhin sehr stark. Gleichzeitig ist das Leid angesichts hoher Todeszahlen und der katastrophalen Lebensumstände eine sehr hohe Belastung für die Moral und die Resilienz.

 

Trotz der kürzlich verstärkten Lieferung von weitreichenden Präzisionswaffen sind sowohl die politischen Beobachter als auch die Militärexperten eher pessimistisch, was die Lage der Ukraine betrifft: Die Frage ist, ob sie genug gewichtige Verhandlungsmasse haben wird, um erfolgreich von einem zukünftigen Verhandlungstisch aufzustehen?

I In der Ukraine habe ich gelernt, dass Prognosen zum Kriegsverlauf extrem schwierig sind und unerwartete Entwicklungen nie ausgeschlossen werden können. Aber in der Tat ist es so, dass die Ukraine immer nur genügend Waffen und Munition erhalten hat, um Russland die Stirn zu bieten und zu überleben und nicht mehr.

Es liegt an der Ukraine zu sagen, wann sie für einen Frieden bereit ist und Verhandlungen stattfinden können. Putin hat es in der Hand, diesen Krieg morgen zu beenden. Er hat ihn ohne Grund vom Zaun gebrochen, er hat den Nachbarstaat überfallen, er könnte ihn beenden. So oder so ist Europa gut beraten, sich sicherheits- und verteidigungspolitisch neu aufzustellen, denn der Krieg zeigt, dass Frieden in Europa nicht mehr als gegeben und ewig angenommen werden kann.

 


BOTSCHAFTER ARAD BENKÖ,
geboren 1970, studierte Geschichte und Politikwissenschaft an der Universität Wien, wo er 1999 auch promovierte. 1991–1992 schob er Studien am King’s College London ein und beendete sein Masterstudium in European Political and Administrative Studies am College of Europe in Brügge.

1998 begann seine Laufbahn im Außenministerium, bereits 1999 wurde Benkö Attaché an der österreichischen Botschaft in Bonn. 2000–2001 fungierte er als politischer Berater des UN-Sonderbeauftragten in Pristina bei der Kosovo-United Nations Administration Mission (UNMIK).

2002–2005 war er stellvertretender Botschafter in Bukarest (Amtsbereich Rumänien und Republik Moldau), danach koordinierte er ein Jahr das politische und sicherheitspolitische Komitee an der österreichischen Vertretung in Brüssel.

2006–2009 stand Benkö als Direktor dem Kulturforum Tel Aviv vor und war gleichzeitig Pressesprecher der Botschaft, und zwar zur Zeit, als Botschafter Michael Rendi dort fungierte.

2015–2020 amtierte Benkö als österreichischer Botschafter zuerst in Lettland und anschließend als erster österreichischer Botschafter in Georgien. Danach leitete er im Bundesministerium für Europa und internationale Angelegenheiten (BMEIA) die Abteilung Amtssitz Wien, ehe er im August 2022 zum österreichischen Botschafter in der Ukraine berufen wurde.

Arad Benkö hat familiäre Wurzeln in Neusiedl am See: Der Neusiedler Martin Pieber hat über seine Vorfahren das Buch mit dem Titel Die jüdische Familie Wallenstein-Benkö geschrieben.

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