Das Kalkül des Kalifen

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Der „Islamische Staat“ kämpft bislang nur im Irak und Syrien, plant aber die Eroberung Israels und stimmt seine Anhänger schon darauf ein.  Von Stefan Frank   

Die iranische Nachrichtenagentur IRNA gilt als nicht sehr kritisch gegenüber ihren Quellen. 2012 hatte sie berichtet, dass der damalige iranische Präsident Mahmoud Ahmadinejad laut einer Umfrage in den USA populärer sei als Barack Obama. Die „Nachricht“ stammte aus The Onion, einem amerikanischen Satiremagazin. Ein IRNA-Artikel von Juli 2014, der von der englischsprachigen Tehran Times zur Titelstory gemacht wurde, behauptete, die USA hätten ISIS gegründet, um Israel zu schützen. Der Plan mit dem Codenamen „Hornissennest“ sehe vor, ein Gravitationszentrum zu schaffen, das alle militanten Sunniten der Welt anzieht. Ein typisches Beispiel einer vaticinium ex eventu, einer nachträglichen Prophezeiung, wie Verschwörungstheoretiker sie gern verwenden. Diesmal berief sich IRNA auf angebliche Enthüllungen von Edward Snowden, die dieser aber nie gemacht hat – und nicht hätte machen können, da die „Informationen“ aus einer Zeit stammen sollen, als Snowden gar keinen Zugriff mehr auf Geheiminformationen hatte. Trotzdem wurde das Gerücht von arabischen Zeitungen aufgegriffen und weiterverbreitet. Für Israel ist die Story bedrohlich; nicht weil es nun eine weitere antisemitische Verschwörungstheorie gibt, sondern weil sie den „Islamischen Staat“, der bislang vor allem Muslime getötet hat, unter Druck setzt zu zeigen, dass die Juden sein Hauptfeind sind.

„Laut einigen Quellen haben sich viele unzufriedene Mitglieder der Hamas und anderer radikaler salafistisch-dschihadistischer Gruppen dem Islamischen Staat angeschlossen.“ Khaled Abu Toameh, Journalist

Das hat Folgen. Anfang Dezember wurde über Twitter das Gerücht verbreitet, der IS hätte in Kobani die israelisch-kanadische Soldatin Gill Rosenberg in seine Gewalt gebracht. Erst drei Wochen zuvor hatte Rudaw, ein kurdischer Fernsehsender mit einer populären englischsprachigen Facebook-Seite, zum ersten Mal über Rosenberg berichtet, die sich den kurdischen „Volksschutzeinheiten“ (YPG/YPJ) angeschlossen hat. Nun triumphierten Anhänger des IS in aller Welt: „Ich biete 30 Golddinar für die jüdische Sklavin“, kommentierte einer die Twitter-Meldung. Ein anderer schickte ein von Oktober datierendes, bereits bekanntes Foto eines grinsenden IS-Kämpfers, der den abgeschnittenen Kopf einer Frau in der Hand hält, versehen mit dem Kommentar: „Eine Israelin erwartet ein viel härteres Schicksal.“ Die israelische und die kanadische Regierung erklärten, den Fall untersuchen zu wollen. Das brauchten sie nicht, denn das Gerücht über die Entführung stellte sich rasch als falsch heraus. Trotzdem hat es eine Bedeutung; nicht ohne Grund wählten die Spin-Doctors des IS ausgerechnet eine Israelin. „Israel spielt in ihrer Propaganda eine Rolle“, sagt Aymenn Jawad Al-Tamimi, ein Fellow des Middle East Forum in Phila­delphia, gegenüber konkret. Insbesondere das Motiv der Eroberung Jerusalems komme immer wieder vor. Zum Beweis schickt er ein Foto, das eine Reklametafel mit arabischer Schrift zeigt. Die Al-Aksa-Moschee ist zu sehen, oben links das Logo des IS, auch auf einem Gebäude hinter der Tafel weht die schwarze Fahne. Die Aufnahme stamme aus der syrischen Provinz Hasakah, sagt Al-Tamimi, und wurde noch zu der Zeit gemacht, als sich die Gruppe „ISIL“ – „Islamischer Staat im Irak und der Levante“ – nannte. Der arabische Slogan bedeute: „Wir kämpfen im Irak und der Levante, unsere Augen sind auf dem Heiligen Haus (ein Begriff für die Al-Aksa-Moschee).“ Zur Levante (bzw. „al-Sham“, wie der IS es auf Arabisch nennt), die im Namen der Organisation vorkam, bevor ihr Führer al-Baghdadi sich zum „Kalifen“ kürte, gehört auch ganz Israel.

Auf seiner Website hat Al-Tamimi einen Nasheed übersetzt – so heißt der stets von Männerstimmen auf Arabisch vorgetragene Singsang, in dem zum Heiligen Krieg aufgerufen wird. Solche Nasheeds werden mit martialischen Bildern versehen, bei YouTube und auf dschihadistischen Internetseiten hochgeladen und sollen den Zuschauer in Kampfeslaune versetzen. Dieser Nasheed besteht aus einer Strophe, die dreimal wiederholt wird. Es geht um „Soldaten der Gerechtigkeit“, die „al-Sham in Licht erstrahlen lassen“, um das „Erwachen des Islamischen Staats“, das „Niederreißen von Grenzen“ – und um die Juden: „Wo immer ihr in die Schlacht zieht / Gibt es Demütigung für den Rabbi der Juden / Wir zerbrechen die Kreuze / Wir vernichten die Abkömmlinge der Affen.“ „Abkömmlinge der Affen“ (oft auch „von Schweinen“) ist ein im arabischen Raum benutzter Schmähbegriff für die Juden.

Die Drohungen des IS sind nicht bloße Wunsch- bzw. Wahnvorstellungen. „Israel ist unmittelbar von ISIS bedroht“, sagt Al-Tamimi. Die Gefahr gehe vom ISIS-Netzwerk Gaza-Sinai aus. Es handelt sich um eine Gruppe namens Ansar Bayt al-Maqdis („Anhänger des Heiligen Hauses“/ABM). Sie besteht seit 2011 und wurde bislang dem Umfeld von Al-Qaeda zugerechnet. Anfang November schloss sie sich offiziell dem „Islamischen Staat“ an. In einer Audiobotschaft sagte ein Sprecher: „Im Einklang mit den Lehren des Propheten erklären wir unsere Loyalität zum Kalifat und rufen die Muslime überall auf der Welt auf, dasselbe zu tun.“ Die ABM seien nun die wilayat (Provinz) des Kalifats im Sinai. Das ist allerdings eine Übertreibung, denn anders als der IS in Syrien und dem Irak kontrollieren die Ansar Bayt al-Maqdis im Sinai kein Territorium; sie sind eine reine Untergrundorganisation, die Guerillaanschläge ausführt.

Dafür aber eignet sich der Sinai sehr gut, begünstigt durch geografische, politische und soziale Faktoren. Er ist etwa so groß wie Bayern, aber nur sehr dünn besiedelt (zehn Einwohner pro km²). Die dort lebenden Beduinen werden seit Jahrzehnten diskriminiert; sie haben nicht die volle Staatsbürgerschaft und wurden von der Regierung in Kairo absichtlich von regio­nalen Projekten im Bereich des Tourismus und der Landwirtschaft ausgegrenzt. Sie leben vom Schmuggel. Der Friedensvertrag mit Israel machte den Sinai zu einer entmilitarisierten Zone, die schwachen Polizeikräfte wurden 2011 im Zuge der landesweiten Erhebung gegen das Mubarak-Regime zeitweise vertrieben. Seither wurden mit israelischem Einverständnis immer wieder ägyptische Streitkräfte in das Gebiet verlegt, es kommt regelmäßig zu Gefechten und zu Terroranschlägen auf Soldaten.

„Israel ist unmittelbar von ISIS bedroht“, sagt Al-Tamimi. Die Gefahr gehe vom ISIS-Netzwerk Gaza-Sinai aus.

ABM schlug auch in Kairo und dem Nildelta zu und verübte zahlreiche Anschläge auf die von Ägypten nach Israel führende Gaspipeline, so dass der Erdgasexport immer wieder unterbrochen wurde. In den letzten vier Jahren hat die Gruppe hunderte ägyptische Wehrpflichtige und Polizisten getötet. Der letzte große Anschlag fand am 24. Oktober in der Stadt Sheikh Zuweid statt und ähnelte den Attacken, die ISIS in Syrien und dem Irak verübt: Zuerst wurde von einem Selbstmordattentäter eine große Autobombenexplosion herbeigeführt, danach griffen Bewaffnete mit Maschinenpistolen an. 31 Soldaten wurden getötet. „Wir befinden uns in einem ausgewachsenen Krieg in ganz Ägypten“, zitiert die halbstaatliche ägyptische Zeitung Al-Ahram einen Militärexperten. Am 12. November gab es sogar ein erstes Seegefecht, bei dem die ägyptische Marine nach eigenen Angaben vier (nicht näher bezeichnete) Schiffe von Terroristen zerstört und 30 Personen festgenommen hat. Es ist möglich – wenn auch nur Spekulation –, dass mit den Schiffen Anschläge auf israelische Schiffe, Strände oder Erdgasplattformen im Mittelmeer durchgeführt werden sollten.

Israel droht also bereits Gefahr von Ägyptens Territorium und seinen Gewässern. Ob sie durch die Anbindung der Terroristen an den IS gewachsen sei, hält Al-Tamimi für „fraglich“. „Al-Maqdi war schon zuvor eine Gefahr für Israel. Die Gruppe kann jetzt die brutale Taktik von ISIS kopieren, Gefangene enthaupten und Videos dieser Hinrichtungen veröffentlichen, aber ich bezweifle, dass sie ihre Truppenstärke und Bewaffnung signifikant erhöhen kann.“

Vom IS in Syrien gehe für Israel keine Gefahr aus, so Al-Tamimi, da dieser in den an Israel grenzenden Teilen nicht präsent sei. Was ist mit Al-Nusra, jener Armee von Dschihadisten, die im September in den Golanhöhen 45 Blauhelmsoldaten von den Fidschi-Inseln als Geiseln nahm und sich ein Feuergefecht mit philippinischen Soldaten lieferte? Einige Websites berichteten im Sommer über eine Allianz der beiden Dschihad-Gruppen. „Diese Berichte beruhen auf der Desinformation aus Rebellenkreisen und haben sich als falsch herausgestellt“, sagt Al-Tamimi. „Trotzdem muss Israel natürlich wachsam sein und jederzeit mit Raketenbeschuss aus Quneitra (ein Ort auf der syrischen Seite des Golan; SF) rechnen, sei es von Jabhat al-Nusra oder anderen Jihadi-Gruppen im Süden, wie etwa Jamaat Jund al-Qawqaz (russischsprachige Dschihadisten aus dem Kaukasus; SF).“

Wie soll Israel darauf reagieren? Bislang macht es die Regierung in Damaskus für sämtliche Übergriffe auf israelisches Territorium verantwortlich, auch dann, wenn es eine Granate der Dschihadisten ist, die auf israelischem Gebiet einschlägt. Al-Tamimi plädiert für eine neue Doktrin: Israel solle diejenigen beschießen, die die Rakete oder Granate wirklich abgefeuert haben.

Etwas anders als in Ägypten und Syrien stellt sich die Lage im Gazastreifen dar. Dort herrscht die Hamas, sie wird aber vom IS offen herausgefordert. „Es ist kein Geheimnis, dass der Islamische Staat eine Präsenz im Gazastreifen hat“, sagt der Journalist Khaled Abu Toameh, der für verschiedene internationale Zeitungen über die Westbank und den Gazastreifen berichtet. „Laut einigen Quellen haben sich viele unzufriedene Mitglieder der Hamas und anderer radikaler salafistisch-dschihadistischer Gruppen dem Islamischen Staat angeschlossen.“

Die Hamas bestreitet, dass der IS im Gazastreifen überhaupt präsent ist. Doch Anfang Dezember sorgten dort zwei vom „Islamischen Staat“ unterzeichnete Flugblätter für Panik, die im Abstand weniger Tage auftauchten. Auf dem einen wurden 18 namentlich genannte Dichter und Schriftsteller der „Lüsternheit“ und des „Atheismus“ bezichtigt. Diese „Apostaten“ wurden aufgefordert, zum Islam „zurückzukehren“. Auf dem anderen wurde den Frauen des Gazastreifens ein Ultimatum gesetzt: Ab der darauffolgenden Woche müssten sie in der Öffentlichkeit vollständig verschleiert sein, anderenfalls käme die „Strafe des Islamischen Staates“ (Steinigung) über sie. Diese Flugblätter seien nicht das einzige Zeichen der Aktivitäten des IS in Gaza, so Abu Toameh: Dort lebende Palästinenser berichteten, dass die Fahne des Islamischen Staats vielerorts zu sehen sei, vor allem in Fußballstadien und öffentlichen Gebäuden. An den Windschutzscheiben vieler Autos befänden sich Aufkleber mit dem Emblem des IS, einige Familien klebten es gar auf Hochzeitseinladungen. „Das alles passiert, während die Hamas behauptet, es gebe keine Zellen des IS in Gaza. Die, die diese Drohungen ernst nehmen, das sind die Frauen und diejenigen, deren Namen auf den Flugblättern stehen.“ Auch Fotos von Palästinensern, die in Syrien und dem Irak im Kampf für den IS zu „Märtyrern“ wurden, würden in Gaza plakatiert, vor allem in Moscheen und Bildungseinrichtungen. Etliche Palästinenser kämpfen also schon für den IS. Nach einem Bericht des israelischen Inlandsgeheimdienstes Shin Bet haben sich auch mindestens 30 arabische Israelis dem IS angeschlossen. Im Internet würden gezielt arabisch-israelische Medizin- und Pharmaziestudenten angesprochen; sie sollten ihre „islamische Pflicht“ tun und dem IS dienen; dem fehlt es nämlich an Ärzten.

Auch wenn es noch keine erfolgreichen Anschläge des IS auf Israel gab, ist das Land, wie die Dschihadisten selbst sagen, in ihrem Blickfeld. Zwei gute Nachrichten gibt es dennoch: Über die israelisch-libanesische Grenze wird der IS nicht kommen; denn dort wacht die Hisbollah, das schiitische Pendant zum IS und gleichzeitig dessen Feind im syrischen Bürgerkrieg. Sie will zwar selbst Israel auslöschen – und plant schon den nächsten Krieg –, verhindert aber derzeit mit ihren Streitkräften (und einem engmaschigen Netz von Wachposten an der Grenze zu Syrien), dass der IS im Libanon zu einer relevanten Kraft wird. Derzeit ist er dort lediglich in der Lage, Untergrundoperationen, vor allem Bombenanschläge, durchzuführen. Auch in der Westbank werden die Schergen des „Kalifen“ keinen Fuß auf den Boden kriegen: denn dort sorgt Israel für Ruhe. Tatsächlich sind es einzig die israelischen Sicherheitskräfte, die verhindern, dass die palästinensische Autonomiebehörde unter ihrem Führer Mahmoud Abbas gewaltsam gestürzt und durch ein – wie auch immer geartetes – Dschihad-Regime ersetzt wird. Das im Vergleich zu anderen arabischen Gesellschaften hohe Maß an Freiheit genießen die arabischen Palästinenser nur, weil israe­lische Soldaten darüber wachen. Diejenigen in Europa, die einen „Staat Palästina“ „anerkennen“ wollen, sollten sich fragen, wie dieser aussehen würde. Das Leben wäre dort kaum so wie derzeit in den arabischen Vierteln Jerusalems, sondern vielleicht eher wie in Raqqa oder Mossul. ◗

Stefan Frank, ist freier Journalist in Bonn. Dieser Artikel erschien erstmals in der Zeitschrift konkret, 1/2015. Wir danken für die Abdruckgenehmigung.

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