Kampf zur Rettung der Demokratie

Erweiterte Fassung des in Montreux geführten Interviews* mit dem israelischen Historiker Yuval Noah Harari über die aktuellen Entwicklungen in Israel, autoritäre Geschichtserzählung und die Komplexität von Demokratien. Von Gisela Dachs und Gordana Mijuk

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Der israelische Historiker Yuval Noah Harari (47) erläutert im Gespräch seine Sorgen und seinen Kampf zur Rettung der Demokratie in Israel. © Oded Balilty / AP / picturedesk.com

WINA: Sie sind ein Meister der großen historischen Erzählung. Sie haben enorm erfolgreiche Bücher über die Geschichte der Menschheit geschrieben. Jetzt sind Sie aber auch zum politischen Aktivisten geworden. Weshalb?
Yuval Noah Harari: Wenn das Haus, in dem ich lebe, brennt, kann ich nur zwei Dinge tun: davonlaufen oder versuchen, das Feuer zu löschen. Ich habe mich dem Kampf zur Rettung der israelischen Demokratie verschrieben. Sollte unser Widerstand scheitern, werde ich Israel verlassen müssen. Ich kann nicht in einem Land über die großen Herausforderungen der Menschheit schreiben, wenn es dort keinen echten Schutz der Redeund Meinungsfreiheit gibt. Ich könnte meine Bücher ja heute auch nicht in Moskau oder Teheran schreiben. Und ich werde dies auch nicht in Tel Aviv tun können, wenn die Regierung ihren Willen durchsetzt und Israel in eine Diktatur verwandelt.

Worum geht es in dieser Krise?
I Im Ausland glauben viele, es gehe um eine Justizreform, die bloß das Oberste Gericht betreffe. Doch ihnen ist nicht bewusst, dass das Oberste Gericht die einzige Instanz ist in Israel, die die Macht des Parlamentes kontrollieren kann. Israel fehlen robuste Kontrollmechanismen, wie sie andere Demokratien kennen. Es gibt in Israel keine zweite Kammer, keinen Präsidenten, der sein Veto einlegen könnte, keine Verfassung, keine Gliedstaaten, die das Gesetz bekämpfen könnten. Es gibt nur das Oberste Gericht. Wenn die Knesset zum Beispiel das Wahlrecht arabischer Israeli streichen wollen würde, wäre dafür nur eine minimale Mehrheit von 61 von 120 Abgeordneten nötig – heute können ein solch antidemokratisches Gesetz immerhin die Obersten Richter verhindern. Und nun will das Parlament die Macht des Obersten Gericht derart einschränken, dass sie keine Gesetze mehr kippen können, oder sie wollen das Gericht mit ihren eigenen Leuten besetzen, was letztlich aufs Gleiche rauskommt.

Um welche konkreten Gesetzesänderungen geht es denn?
I Mitglieder der Koalition haben bereits von Dutzenden Gesetzen gesprochen, die nicht nur arabische Staatsbürger, sondern auch Frauen, LGBT-Menschen und säkulare Israeli diskriminieren sollen. Da sind sie sehr offen. Sie warten nur darauf, das Oberste Gericht zu übernehmen. Ich glaube, dass die breite Protestbewegung kurzfristig in der Lage sein wird, die Machtausweitung durch die Regierung von Benjamin Netanjahu zu stoppen. Mir bereitet aber Sorgen, was langfristig passiert angesichts der großen demografischen Veränderungen in der israelischen Gesellschaft.

Was meinen Sie damit?
I Ein immer größerer Teil der israelischen Bevölkerung versteht offenbar nicht, was Demokratie ist, oder will ernsthaft keine Demokratie. In der Regierung gibt es starke Kräfte, die offen rassistisch von einer „jewish supremacy“, einer jüdischen Überlegenheit, reden. Sie glauben nicht an Minderheitenrechte. Sie glauben nicht, dass ihre Mehrheitskoalition Kontrollen braucht. Und diese Gruppe von Menschen wächst. Derzeit nehmen messianische religiöse Weltanschauungen in Israel zu. Und jetzt sind diese Kräfte eine Allianz mit Ministerpräsident Benjamin Netanjahu eingegangen.

Weshalb macht er da mit?
I Was in Netanjahus Kopf vorgeht, weiß niemand. Klar ist, er steht wegen Korruption vor Gericht, kämpft um sein politisches Überleben, möglicherweise um seine persönliche Freiheit. Sollte er für schuldig befunden werden, könnte er Jahre hinter Gitter verbringen. Klar ist auch, dass Netanjahu bereit ist, dafür das Justizwesen zu zerstören. Aber für seine Verbündeten in der Regierung ist das die Gelegenheit, ihren Traum von Israel als nicht demokratischer Theokratie zu verwirklichen.

Es ist nicht lange her, da galt Netanjahu als überzeugter Demokrat.
I Jetzt verrät er sein eigenes Erbe. Netanjahu hat jahrelang mitgeholfen, die israelische Wirtschaft aufzubauen, besonders den Hightech-Sektor. Nun zerstört er das. Ich habe viele Freunde in der Hightech-Industrie, und jeder verlässt das sinkende Schiff.

Wie zeigt sich das?
I Die Firmen ziehen noch nicht weg aus Israel, weil das schwierig und teuer ist. Doch man sieht, dass die ausländischen Investitionen schrumpfen. Leute in der Industrie sagen, dass nun keine neuen Firmen in Israel gegründet würden. Die wichtigsten beiden Stärken von Israel waren bisher Brain-Power und Vertrauen. Ein Firmengründer konnte bis jetzt darauf vertrauen, dass es eine unabhängige Justiz gibt, die sein Unternehmen schützt. Wenn es diesen Schutz nicht mehr gibt, wird hier nichts mehr laufen. Es braucht Jahre, um diese Art von Vertrauen aufzubauen, und manchmal genügt ein Monat, um es zu zerstören. Selbst wenn jetzt der Justizumbau gestoppt wird, ist nicht garantiert, dass es die antidemokratischen Kräfte nicht in ein oder zwei Jahren erneut versuchen.

 

„Doch ihnen ist nicht bewusst, dass das Oberste
Gericht die einzige Instanz ist in Israel, die die
Macht des Parlamentes kontrollieren kann.“

 

Aber die Protestbewegung könnte doch jetzt zeigen, dass die Mehrheit im Land eine liberale Demokratie will, mit Kontrollmechanismen. Eine Krise ist auch immer eine Chance für etwas Neues.
I Absolut. Und es geht der Protestbewegung auch um viel mehr als nur darum, die Justizreform zu stoppen. Sie fordert einen neuen Sozialvertrag. Viele glauben, es brauche endlich eine geschriebene Verfassung, andere wollen föderale Strukturen einführen. Klar ist, die halbdemokratischen Strukturen, die in Israel 75 Jahre lang ausgereicht haben, genügen heute nicht mehr.

In Israel hat es aber womöglich noch nie so viel Wertschätzung von Demokratie gegeben wie heute. Manche reden von einer zweiten Staatsgründung.
I Es gibt tatsächlich viel positives Potenzial. Man sieht Teile der Bevölkerung, die nie in die Politik involviert waren, die sich jetzt sogar sehr stark engagieren und die Gefahr erkennen. Hoffentlich können wir diese Krise als eine solche Gelegenheit nutzen und Israel zu einer viel stärkeren Demokratie als je zuvor zu machen.

Die gegenwärtige extrem rechte Regierung fällt auch durch eine extreme Elitekritik auf. Mitglieder der Regierung gehen sogar auf die Armee los.
I Die Piloten der israelischen Luftwaffe – die Teil der Elite sind, weil sie unabdingbar sind für die Sicherheit – kündigten an, nicht mehr zu dienen, sollte die Justizreform umgesetzt werden. Der Kommunikationsminister, der selbst nie in der Armee war, sagte darauf: „Geht zur Hölle. Wer braucht euch denn!“ Die Regierung denunziert die Leute, die für die Sicherheit im Land sorgen, als Verräter! Gleichzeitig plant die Regierung noch mehr Ausnahmeregelungen, damit strenggläubige Juden nicht zum Militär müssen.

Das Elite-Bashing ist ein bewährtes Mittel populistischer Politiker.
I Ja, die Kritik an den Eliten ist weit verbreitet. Was die Leute oft vergessen, was uns die Geschichte aber lehrt, ist: Es gibt keine Gesellschaften ohne Eliten. Jedes Mal, wenn versucht wurde, Gesellschaften zu etablieren ohne sie, kam so etwas wie eine Sowjetunion heraus. Irgendjemand muss das Land ja managen, führen. Populisten sind auch nicht wirklich gegen Eliten, sie wollen einfach selber die neue Elite sein.

Weshalb kommt die Kritik an den Eliten gerade jetzt so gut an, wenn es sie doch schon immer gegeben hat?
I In jedem Land gibt es offensichtlich Korruption, und man sieht auch vielerorts Eliten, die sich selbst mehr nutzen als der Gesellschaft. Das ist Teil der menschlichen Natur. Das ist aber auch genau der Grund, weshalb Demokratien ein Kontrollsystem brauchen. Die Gründerväter der amerikanischen Demokratie haben dies vorausgesehen. Sie sagten, Menschen seien keine Engel, sie brauchten eine Regierung. Weil aber auch Menschen in Regierungen keine Engel sind, braucht es Kontrollmechanismen.

 

„Wir können versuchen zu verstehen, was passiert ist, aber ich glaube, es wäre irreführend zu glauben, wir können die Bewegungen auch wirklich kausal erklären.“

 

Demokratien haben wohl einfach ein realistisches Menschenbild.
I Ich glaube, die große Differenz zwischen liberalen Demokratien und autoritären Bewegungen ist, dass autoritäre Bewegungen utopische Tendenzen haben. Wenn wir an der Macht wären, so lautet ihr Versprechen, wäre alles perfekt. Autoritäre Führer glauben auch, sie seien unfehlbar. Und wenn es zu Problemen kommt, sind immer die anderen schuld. Demokratien und ein demokratisches Weltbild gehen dagegen von der Annahme aus, dass Menschen Fehler machen und Utopien unmöglich sind. Wen man auch wählt, es tauchen Probleme auf, und genau deshalb braucht es Checks and Balances. Liberale Demokratien sind im Vergleich zu anderen Regierungsformen der letzten 200 Jahre die beste Herrschaftsform, trotz ihren Problemen.

Und ihren Krisen.
I Ja, Demokratien gehen durch Krisenphasen. Die heutige ist nicht die erste. Denken wir an die 1960er-Jahre oder die frühen 1920er- und 1930er-Jahre. Diese Krisen führten in noch viel größere Krisen.

Weshalb?
I Oft wird gesagt, dass wegen der ökonomischen Krise von 1929 der Faschismus entstanden sei. Als Historiker habe ich da meine Zweifel. Denn sehr oft in der Geschichte können wir nicht genau erklären, was diese großen historischen Bewegungen ausgelöst hat. Wir können versuchen zu verstehen, was passiert ist, aber ich glaube, es wäre irreführend zu glauben, wir können die Bewegungen auch wirklich kausal erklären. Ich weiß nicht, weshalb Faschismus entstanden ist. Es gab ihn ja nicht nur in Deutschland und Italien. Der Faschismus war eine globale Welle. Nicht überall spielten ökonomische Faktoren mit. Die Faschisten erzählten vielmehr neue Geschichten, die bei den Leuten ankamen.

Sie erklären Bewegungen also mit Geschichten. Sind heutige Autokraten vor allem gute Geschichtenerzähler?
I Ja, oft. Die Historie wird meistens nicht durch harte Fakten in der Realität entschieden, sondern durch die Dinge, die Menschen im Kopf haben, Ideen, Ideologien, es ist die Sicht auf die Realität, die die Realität prägt. Das Problem ist, und das sehen wir in der Geschichte der letzten tausend Jahre immer wieder: Menschen sind oft empfänglich für unsinnige Geschichten. Weshalb haben sich etwa während der Religionskriege im 16. Jahrhundert Katholiken und Protestanten massakriert? Worum ging es bei diesem Konflikt wirklich? Es scheint keine objektive Erklärung zu geben. Es sieht so aus, als hätte ein ganzer Kontinent den Verstand verloren.

„Eine Diktatur ist einfach zu verstehen.
Eine Person bestimmt dort alles.
Demokratie dagegen ist kompliziert,
und das muss so sein.“

 

Auch heute gibt es aus rationaler Perspektive keinen Grund, weshalb Russland die Ukraine angreift und Hunderttausende Menschen sterben müssen.
I Genau. Schauen Sie sich den Konflikt zwischen den Israeli und den Palästinensern an. Es geht nicht um Wirtschaft, es geht auch nicht um Land oder Essen. Es gibt genügend Land, genügend zu essen, es geht um imaginäre Geschichten. Jerusalem ist eigentlich eine normale Stadt mit Häusern, Straßen, Bäumen. Aber wenn Sie Jerusalem durch das Prisma religiöser Mythologie anschauen, sehen Sie überall Engel und Götter und Propheten. In dieser virtuellen Realität können Sie keine Kompromisse mehr eingehen. In einer normalen Stadt könnte man einfach Grenzen ziehen, hier oder da. Aber an dem Ort, an dem Gott die ewige Wahrheit offenbart hat, da gibt es keine Kompromisse. Menschen kämpfen um diese Geschichten, nicht um Steine und Bäume.

Menschen sind manipulierbar.
I
Es gibt auch ein Gegenbeispiel. In Europa hat man sich vor 100 Jahren gegenseitig umgebracht, im Ersten und Zweiten Weltkrieg. Nun lebt man zumindest in der EU in einem Frieden, der zuvor nie da gewesen ist. Die Europäer haben heute nicht mehr Land als vor 100 Jahren, im Gegenteil, damals waren sie eine Weltmacht mit Kolonien, aber sie konnten sich nicht darüber einigen, wie man die Welt aufteilt. Jetzt kontrollieren sie weniger Territorium und leben in Frieden.

Aber er gibt immer noch Politiker, die diese autoritären Geschichten erzählen. Der ungarische Regierungschef Viktor Orbán etwa oder eben der russische Präsident Wladimir Putin.
I Ich bin kein Fan von Orbán. Aber der ungarische Nationalismus ist heute immerhin viel gezähmter als jener vor einem Jahrhundert. Orbán ruft ja nicht dazu auf, gegen Rumänien in den Krieg zu ziehen. Bei Putin ist das anders. Er redet nicht nur, er handelt auch. Und deshalb gibt es auch diese außerordentliche Reaktion in Europa auf Putins Angriff auf die Ukraine. Schweden und Finnland treten der Nato bei, Deutschland rüstet auf, schickt Waffen. Das war vor der russischen Invasion undenkbar. Europa hat keine andere Wahl. Wird Putin nicht gestoppt, wirft er uns zurück in die Wirklichkeit des Ersten Weltkriegs. Nicht nur in Europa, sondern überall auf der Welt werden dann die Verteidigungsbudgets in die Höhe schießen, dafür werden Gelder vom Bildungswesen und vom Gesundheitssektor abgezogen. Und sicherlich sind wir dann nicht in der Lage, Probleme wie den Klimawandel und den Aufstieg der künstlichen Intelligenz anzugehen.

Es gibt aber auch positive demokratische Bewegungen. In der Türkei etwa hat sich die Opposition gegen den langjährigen Machthaber Tayyip Erdogan vereint. Auch die vorige Regierung in Israel bestand aus acht verschiedenen Parteien, die sich gegen Netanjahu verbündet hatten, sogar eine islamistische Partei war dabei. Wären das nicht neue Modelle, diese DemokratieKrise zu überwinden?
I Ja. In der Vergangenheit hatte man ein demokratisches System als gemeinsame Basis. Alle waren grundsätzlich damit einverstanden, und dann stritt man über linke und rechte Politik usw., wie das in Demokratien üblich ist. Aber dann kam es zum Aufstieg jener Kräfte, deren wichtigstes Anliegen es jetzt ist, die Demokratie zu zerstören. Und um diese Kräfte zu stoppen, müssen sich alle Mitspieler im demokratischen Spiel zusammentun.

Was ist für Sie Demokratie?
I In der Demokratie gibt es zwei hauptsächliche Kontrollmechanismen über die Macht der Mehrheit: Es gibt Menschenrechte, die nicht verletzt werden dürfen, auch wenn eine 99-prozentige Mehrheit das Gegenteil möchte. In Uganda wurde gerade die Todesstrafe für Homosexuelle verabschiedet, das Gesetz wurde mit 387 zu zwei Stimmen verabschiedet. Die Idee von Demokratie beruht darauf, dass es Menschenrechte gibt, unabhängig von Mehrheiten. Das zweite Prinzip sind die Bürgerrechte, das sind die Grundgesetze des demokratischen Spiels. Sonst würden die Wahlsieger sofort den Verlierern das Wahlrecht nehmen, und das wäre das Ende.

In den USA funktionieren die Kontrollmechanismen. Dennoch ist auch dort das Vertrauen in die Demokratie an einem Tiefpunkt. Wie lässt sich das erklären?
I Es ist gut, dass die USA funktionierende Institutionen haben. Nach vier Jahren Donald Trump kamen faire Wahlen und ein relativ friedlicher Machtwechsel. Aber Verfassungen und Institutionen sind keine theoretischen Ideen, sie sind am Ende von Menschen gemacht. Und wenn man sie ständig angreift, wenn die Menschen das Vertrauen in sie verlieren, dann brechen sie am Ende zusammen. Das heißt, eine Demokratie muss gute Institutionen schaffen, aber sie muss diese ständig reparieren und warten.

Wieso fällt uns das offenbar so schwer?
I Eine Diktatur ist einfach zu verstehen. Eine Person bestimmt dort alles. Demokratie dagegen ist kompliziert, und das muss so sein. Das ist die Idee von Demokratie. Ein komplexes, bürokratisch anmutendes System mit Checks und Balances muss den fehlbaren Menschen korrigieren. Wir stammen vom Affen in der afrikanischen Savanne ab. Es fällt uns leichter, eine starke Verbindung zu einem anderen menschlichen Lebewesen aufzubauen, statt einer bürokratischen Maschinerie zu vertrauen. Tun wir Letzteres aber nicht, bricht unsere Gesellschaft auseinander.

* Erschienen am 30. April in der NZZ am Sonntag.

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