Während der Gazakrieg mittlerweile seit 22 Monaten tobt, gehen jede Woche landesweit Tausende Israelis auf die Straße, um gegen den anhaltenden Waffengang und das Versäumnis der Regierung, israelische Geiseln freizulassen, zu protestieren. Bei den größten Demonstrationen in Tel Aviv vor dem Verteidigungsministerium finden sich mittlerweile auch ehemalige hohe Offiziere der Israelischen Streitkräfte (IDF) und Funktionäre des Sicherheitsapparats. Sie stellen sich gegen die jüngste Entscheidung des israelischen Kabinetts von Premierminister Benjamin Netanjahu, eine Operation zur Eroberung von Gaza-Stadt zu starten und den fast zweijährigen Krieg auszuweiten. Auch Uzi Ben David und seine Frau Miriam aus Jerusalem sind dabei. Ihr Sohn Amos, 40 Jahre alt, kämpfte als Reservist im Küstenstreifen. Im Dezember kehrte er von einem Fronteinsatz zurück – äußerlich unversehrt, innerlich jedoch gebrochen. Wenige Wochen später nahm er sich das Leben. Nicht gefallen im Gefecht, sondern in der Dunkelheit danach.
„Amos war unser ganzer Stolz“, sagt Miriam, eine 63-jährige Gymnasiallehrerin, mit stockender Stimme, während ihr Mann neben ihr steht, in der Hand ein Foto, das ihren Sohn in Uniform zeigt – lachend, voller Lebenslust. „Er wollte dienen. Er wollte etwas beitragen. Am Ende hat ihn genau das kaputtgemacht. Wir haben gespürt, dass er leidet, aber wir haben die Tiefe nicht erkannt. Als Eltern denkt man immer, man kann seine Kinder beschützen, doch es gibt Momente, in denen man zu spät versteht.“
„Gaza hat ihn nie verlassen“, erzählt Miriam. „Wir haben ihn verloren, aber nicht im Kampf. Er kam zurück, aber ein Teil von ihm blieb dort. Er hat nie über das gesprochen, was er gesehen hat. Wir dachten, es würde mit der Zeit besser, doch am Ende war die Stille lauter als jede Explosion.“ Sie beschreibt ihren Sohn als einen glücklichen und sehr offenen Menschen, einen Vater von vier Kindern mit einem großen Herzen und einem breiten Lächeln, der sein Land liebte. Motiviert von der Geschichte seines Vaters, der während des Jom-Kippur-Kriegs 1973 Kriegsgefangener in Syrien war und Folter, Hunger und Monate der Ungewissheit überstand, wollte Amos seit seiner Kindheit dienen, beschützen und an vorderster Front stehen.
Doch der 7. Oktober 2023 veränderte alles. An diesem Tag, als die radikalislamische Hamas in den Süden Israels einfiel, 1.200 Menschen – hauptsächlich Zivilisten – wortwörtlich abschlachtete und 251 Geiseln nahm, stand er inmitten der Hölle: Er half mit, Verwundete aus zerstörten Häusern zu ziehen, hörte die Schreie, sah die Bilder, die sich unauslöschlich in seine Gedanken brannten. In den nächsten Wochen und Monaten kämpfte er in Gaza, und diese Kriegserfahrungen verletzten seine Seele noch mehr.
„Als er nach all den Monaten zurückkam, konnte er seinen Beruf nicht mehr ausüben“, beschreibt Miriam den Zustand ihres Sohnes. „Er wurde sehr schweigsam, verlor immer mehr die Geduld mit seinen Kindern und Arbeitskollegen, hatte Schlafstörungen und Albträume. Wann immer wir ihn fragten, sagte er, alles sei in Ordnung.“
Sie erzählt, dass bei ihm später eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) diagnostiziert wurde. Die Ärzte aber zweifelten an der Ursache seines Traumas. „Letztendlich konnte er nicht damit leben“, sagt Miriam. „Zwei Tage vor seiner geplanten Rückkehr in den aktiven Dienst nahm er sich das Leben mit seiner Pistole. Er hat für uns alle gekämpft – und am Ende gegen etwas, das keiner von uns sehen konnte.“
Wenn der Himmel über uns in Flammen steht, bleibt die Seele oft in den Trümmern zurück, die der Mensch selbst erschaffen hat. Krieg ist mehr als ein Kampf um Land oder Macht – er ist ein Konflikt gegen das eigene Menschsein. Jeder Schuss, jede Explosion hinterlässt unsichtbare Narben, die nicht an Haut oder Fleisch haften, sondern tief in den Gedanken und im Herzen. Nach dem 7. Oktober 2023 haben die Schreie und das Chaos nicht nur Städte, sondern auch Seelen zerbrochen. Für viele Soldaten, deren Tage zuvor von Kameradschaft, Pflichtbewusstsein und Hoffnung geprägt waren, wurde das Weiterleben zu einer Last, die kein Training, Mut und Anerkennung abfedern konnten. Der Schmerz, den sie gesehen und gespürt haben – das Leid Unschuldiger, das Zusehen beim Sterben, das Gefühl der Ohnmacht – wuchs wie eine stille Welle in ihnen heran. Manche fanden keinen Ausweg aus diesem inneren Tsunami, keinen Hafen der Ruhe, keine Hand, die sie hielt.
Nach dem schlimmsten Pogrom an Juden seit dem Holocaust und dem Beginn des aktuellen Gazakriegs hat die Zahl der Selbstmorde unter IDF-Soldaten einen alarmierenden Höhepunkt erreicht. Die israelische Armee verzeichnete 2023 insgesamt 17 vermutete Suizide, darunter sieben nach dem Ausbruch der Feindseligkeiten. Im darauffolgenden Jahr stieg die Zahl auf 21, und 2025 wurden bislang 17 weitere Fälle registriert.
Multiple Traumata-Auslöser. „Besorgniserregend ist der Anstieg unter Reservisten, die nach dem umfassenden Mobilisierungsaufruf in den Kampfzonen eingesetzt wurden“, erzählt Professor Eyal Fruchter, Ex-IDF-Vorsitzender für psychische Gesundheit und nun medizinischer Direktor der Organisation „Kollektives Handeln für Resilienz“ (ICAR). „Interne Untersuchungen deuten darauf hin, dass die meisten darunter mit psychischen Traumata infolge von Kampfeinsätzen, dem Verlust von Kameraden und extremen Belastungen während der Einsätze zusammenhängen. Die IDF hat auf diese Entwicklung reagiert, indem sie über 800 Reservisten als psychologische Betreuungskräfte mobilisierte und eine rund um die Uhr erreichbare Hotline für Soldaten einrichtete.“
Dank des Anfang der 2000er-Jahre von ihm mitentwickelten Suizidpräventionsprogramms gelang es bis vor dem 7. Oktober 2023, die Zahl der Selbstmorde beim Militär um 63 Prozent zu senken. Anfangs konzentrierte es sich mehr auf junge Wehrpflichtige; seit Kriegsausbruch wurde es auch auf Reservesoldaten angepasst. Doch die aktuellen Zahlen werfen einen Schatten auf die militärischen Erfolge und verdeutlichen die tieferliegenden psychischen Wunden, die der Krieg hinterlässt. Der Anstieg an Suiziden unter den Soldaten ist ein besorgniserregendes Signal für die langfristigen Auswirkungen des Konflikts auf die israelische Gesellschaft. Und so warnt der Trauma-Spezialist vor einem wachsenden Risiko nicht nur auf dem Schlachtfeld, sondern auch nach der Rückkehr in das zivile Leben: „Das Hauptproblem liegt zwischen beiden Welten“, sagte er. „Wenn weder die eine noch die andere für die seelisch angeschlagene Person verantwortlich ist, kann das einen großen Riss verursachen, der behoben werden muss.“
Laut einem Bericht des israelischen Zentrums für Information und Wissen vom September 2024 ist das Land mit einer beispiellosen Welle psychischer Belastungen konfrontiert. Eine von Gesundheitsministerium in Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern und Sicherheitsexperten initiierte Studie verzeichnet über 200.000 Anfragen nach psychologischer Unterstützung und einen Anstieg der Zahl der aktiven klinischen Patienten um 900 Prozent im Vergleich zum Vorkriegsniveau. Besonders bedeutsam ist die Schätzung des Ministeriums, dass zwischen 13.000 und 57.000 Israelis, darunter Tausende von Soldaten, wahrscheinlich eine vollständige PTBS entwickeln werden. Unter ihnen stammen zwischen 1.500 und 20.000 aus Kampf- und Unterstützungseinheiten.
„Das Gesundheitsministerium zählt nur diejenigen, die eine formelle Therapie beginnen“, kritisiert Fruchter die bürokratischen Hürden. „Diese werden auch im zivilen Leben weiter betreut. Aber was ist mit denen, die sich nicht trauen, Hilfe zu suchen? Zahlreiche PTBS-bedingte Suizide treten oft erst nach Konfliktende auf, und viele begehen erst mit Verzögerung Selbstmord.“
Fruchter verweist auch auf technische Probleme im System: So mangle es in Israel mit weniger als 1.000 Psychiatern an ausgebildetem Personal, um den wachsenden Bedarf an psychologischer Betreuung zu decken. Laut Experten ist zudem davon auszugehen, dass die schwerwiegendsten Folgen noch bevorstehen. So stiegen beispielsweise Drogenmissbrauch und -abhängigkeit insbesondere unter den evakuierten Bewohnern nahe des Gazastreifens und der Nordgrenze in letzter Zeit stark an.
Trotz der düsteren Statistiken beharren IDF-Vertreter darauf, dass strukturierte Mechanismen zur Verhinderung von Suizid und Trauma-Eskalation vorhanden sind. Jede Kampfeinheit verfügt über einen Psychiater, in der Regel einen klinischen Psychologen oder Sozialarbeiter, der darin geschult ist, Risiken zu erkennen und schnell zu reagieren.
Doch die Verantwortung endet nicht an den Kasernentoren – sie liegt auch bei der Gesellschaft, die Soldaten in den Einsatz schickt und diese nach deren Rückkehr nicht allein lassen darf. Hoffnung geben Initiativen wie die NGO Bishvil Hahayim (hebr., „Für das Leben“). Deren Sprecherin Shira Sarussi, Leutnant in der IDF und engagierte Begleiterin, zeigt, dass es Wege aus der Dunkelheit gibt – wenn Armee, Staat und Zivilgesellschaft gemeinsam hinschauen und handeln. „Wir dürfen Soldaten nicht nur im Krieg begleiten, sondern müssen auch im Frieden für sie da sein“, erklärt die Reserveoffizierin.
„Viele kehren ohne Uniform, Kommando, Gehalt, klare Rolle und mit großer emotionaler Verwirrung nach Hause zurück. Manche haben Zweifel, denn sie erzählen mir, dass sie Menschen getötet haben und Schreckliches sahen. Sie möchten nicht wieder arbeiten gehen, als wäre nichts passiert. Deshalb ist es wichtig, über Suizid zu sprechen. Nur mit einem verantwortungsvollen Umgang damit können wir das Risiko weiterer Fälle verringern.“
Sarussi kennt die massiven emotionalen Belastungen nur zu gut, hat sie doch in den letzten zwei Jahren eng mit Reservisten in Not zusammengearbeitet, nachdem ihr eigener Bruder vor acht Jahren Selbstmord begangen hatte. Noch heute macht sie sich Vorwürfe, seine seelischen Schmerzen nicht erkannt zu haben. Ihre Familie war sich zwar bewusst, welchen psychischen Belastungen der Erstgeborene in seiner Militärzeit ausgesetzt war, doch er selbst zeigte seine seelischen Narben niemandem.
„Nicht gefallen im Gefecht,
sondern in der Dunkelheit danach.“
Die Expertin beschreibt ein wiederkehrendes emotionales Muster bei Soldaten, die aus dem Dienst zurückkehren: „Erschöpfung und Gefühlslosigkeit sind häufige Symptome“, erläutert Sarussi. „Sie erleben einen Verlust an Vitalität und empfinden Sinnlosigkeit. Viele kommen nach Hause und isolieren sich, wollen keine Menschen mehr treffen und kapseln sich ab. Man sieht Ungeduld, Verwirrung und Müdigkeit.“
Für die studierte Sozialarbeiterin sind dies klassische Anzeichen von Depressionen und Suizidgedanken, die jedoch oft unbemerkt bleiben, insbesondere wenn Reservisten ihre Uniform wieder abgelegt haben. Während die Soldaten beim Einsatz noch zusammen kämpfen und die Erfahrungen in der Gruppe teilen, beginnt die wirkliche Härte, wenn sie zurückkehren und von nun an allein mit dem Alltag klarkommen müssen.
„Die Armee hat traumatisierte Soldaten jahrelang mit ihren Problemen allein gelassen“, kritisiert Sarussi ein Tabuthema in der IDF. „Zwar gibt es mittlerweile zahlreiche verbesserte Programme im Bereich der psychologischen Betreuungsarbeit, aber jahrzehntelange Vernachlässigung in diesem Sektor kann nicht in ein paar Monaten wiedergutgemacht werden.“ Ein großes Problem in Israel sei zudem „die politische Situation, die uns alle plötzlich aus unserem bisherigen Leben reißt und in eine unerträgliche seelische Routine wirft. Leider gibt es auch hier nicht genügend nachhaltige psychologische Versorgung.“ Sarussi ruft daher zu mehr Verantwortung, größerem Bewusstsein und einem neuen gesamtgesellschaftlichen Umgang mit den unsichtbaren Wunden der Soldaten auf.
Hinter jeder Zahl, hinter jeder NGO stehen menschliche Schicksale. Es sind Familien wie die von Uzi und Miriam Ben David, die mit einer Leerstelle leben müssen, die keine Worte füllen können – und jeden Samstag vor dem Verteidigungsministerium in Tel Aviv demonstrieren.
Die Ben Davids haben gelernt, ihre Trauer in ein Vermächtnis zu verwandeln – und in die Forderung, dass die Armee nicht nur auf die körperliche, sondern ebenso auf die seelische Gesundheit ihrer Soldaten achten muss. Denn der Krieg in der Seele jedes Einzelnen mit seinen oft tödlichen Auswirkungen verwebt den Schmerz der Familie und die Fürsorge danach zu einem eindringlichen Bild: Der jüdische Staat kämpft nicht nur gegen äußere Feinde, sondern auch gegen eine stumme innere Front.
Doch inmitten von Trauer und Verlust bleibt die Hoffnung: „Wir erzählen die Geschichte unseres Sohnes nicht, um Mitleid zu bekommen, sondern wir möchten, dass nicht auch andere Eltern das erleben müssen, was wir durchmachen“, betont Miriam. „Es ist unser Wunsch, dass in Zukunft kein Soldat mehr glauben soll, er sei mit seinem Leid allein, und den Mut findet, Hilfe zu suchen.“
Ein Wunsch, der weit über die Familie Ben David hinausreicht – und zu einer Aufgabe für ein ganzes Land werden sollte.

























