Kultur im Bauch des Lastkahns

In Berlin-Spandau wird bald das Jüdische Theaterschiff vor Anker liegen. Noch wird in einer Werft an der Elbe geschweißt, gehämmert und genietet. Denn hier verwandelt sich ein ehemaliger Lastkahn, die „MS Goldberg“, in vielen Arbeitsschritten in eine Bühne der besonderen Art. Die Eröffnung ist für Mitte Mai 2022 geplant.

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Geigerin Liv Migdal in der noch unausgebauten „MS Goldberg“. © Gregor Zielke

Begonnen hat alles im Jahr 2015, als der Kulturmanager Peter Sauerbaum – er arbeitete unter anderem an der Staatsoper Unter den Linden, beim Berliner Ensemble, am Deutschen Theater und ist seit 2018 künstlerischer Leiter des Choriner Musiksommers – gemeinsam mit seiner Frau Noa LernerSauerbaum beschloss, in Berlin etwas gegen den schwelenden Antisemitismus, gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit zu unternehmen. Ein Jüdisches Theater für alle Sinne schwebte den beiden vor. Ein Ort, an dem sich jüdische und nicht jüdische Künstlerinnen und Künstler zusammenfinden, gemeinsam musizieren könnten. Rasch wurde eine Projektgruppe gegründet, zahlreiche Räumlichkeiten wurden besichtigt, das Richtige war aber nicht dabei. Doch warum eigentlich ein stationäres Theater, fragte sich Noa Lerner-Sauerbaum eines Tages. Warum nicht die Idee des Thespiskarrens aufgreifen, also eine Wanderbühne?
Berlin ist von Wasserstraßen durchzogen – im Zoom-Interview kurz vor Weihnachten meint Intendant Peter Sauerbaum augenzwinkernd, Berlin habe ja sogar mehr Brücken als Venedig, auch wenn diese natürlich nicht so schön seien wie jene der Lagunenstadt. Was liegt da näher als eine schwimmende Wanderbühne, also ein Theaterschiff? Und so wurden ab 2017 eben Schiffe besichtigt. Wunderschöne, die allerdings dem Zweck nicht entsprachen, aber auch richtige Schrottkisten, erzählt Peter Sauerbaum. Durch Zufall entdeckte das Team schließlich die „MS Goldberg“, einen 1964 in Boizenburg an der Elbe in der ehemaligen DDR gebauten Lastkahn, 64 Meter lang, etwas mehr als acht Meter breit, benannt nach der kleinen Stadt Goldberg in Mecklenburg-Vorpommern. Es war wohl Liebe auf den ersten Blick.

Mit einem jüdischen Theater für alle Sinne will das Team rund um Peter Sauerbaum und seine verstorbene Frau Noa etwas gegen den schwelenden Antisemitismus und Rassimus in Berlin unternehmen. ©Juedisches-Theaterschiff.

Danach hätte alles eigentlich viel schneller gehen sollen, die Eröffnung des Theaterschiffes war für das Frühjahr 2021 geplant – doch Bürokratie und Covid-19 sorgten für Verzögerungen. Außerdem musste das Team im Sommer einen schweren Verlust verkraften: Noa Lerner-Sauerbaum starb nach schwerer Krankheit. Mit ihr verlor das Projekt eine treibende Kraft, sie war eine Kennerin der jüdischen Szene Berlins, hätte die Gastgeberin auf dem Theaterschiff werden sollen.
Ans Aufgeben dachte aber niemand, und so steht die „MS Goldberg“ seit 4. Oktober tatsächlich in der Werft in Neuderben an der Elbe. Die Verwandlung zum Theaterschiff hat begonnen. In großen Mengen wird Stahl verbaut, eine Stahlfirma hat dafür 50 Tonnen gespendet. Es entsteht ein neues Oberdeck, die Seitenwände müssen erhöht werden, dann werden die Bühne und die Nebenräume für Künstlerinnen, Künstler und Technik eingebaut, dazu kommen ein Foyer und ein Bistro mit Sonnenterrasse. 190 Zuschauerinnen und Zuschauer werden im Innenraum Platz finden. Noch ist das alles kaum vorstellbar. Immer wieder besuchen Peter Sauerbaum und sein technischer Leiter Klaus Wichmann die Werft und verfolgen staunend die neuesten Entwicklungen. Auf der Website und der Facebook-Seite des Jüdischen Theaterschiffs dokumentiert das Team die Umbauarbeiten mit vielen Fotos und Videos.

Kulturmanager Peter Sauerbaum auf der „MS Goldberg“. Mit seiner verstorbenen Frau Noa erträumte er einen gemeinsamen Schaffensort für jüdische und nicht jüdische Künstlerinnen und Künstler. © Gregor Zielke

Die jüdische Gemeinde in Berlin ist heute mit rund 12.000 Mitgliedern zwar die größte Deutschlands, vom einst blühenden jüdischen Leben ist in Berlins Straßen – ähnlich wie in Wien – nicht mehr allzu viel entdecken. Die Gemeinde selbst bemüht sich um eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, das Jüdische Museum und das Centrum Judaicum beschäftigen sich intensiv mit der Geschichte der Berliner Jüdinnen und Juden. Die mit rund 3.000 Sitzplätzen ehemals größte Synagoge Europas in der Oranienburger Straße wurde aufwendig renoviert. Stadtspaziergänge führen durch den ältesten jüdisch geprägten Bezirk, die ehemalige Spandauer Vorstadt mit dem sogenannten Scheunenviertel.
Und unübersehbar ist freilich das Holocaustdenkmal mit seinen 2.711 Betonstelen in Berlin-Mitte. Außerdem gibt es in den letzten Jahren ein interessantes Phänomen zu beobachten: Junge Israelis lassen sich gerne in Berlin nieder, die Stadt sei cool, biete vor allem Künstlerinnen und Künstlern viele Möglichkeiten.

Und da der Lastkahn auch im Theatermodus voll funktionstüchtig bleibt, wird er auch mal für Veranstaltungen quer durch Berlin über die Spree nach Köpenick oder nach Süden über die Havel auf den Wannsee schippern.

 

Vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten lebten in Berlin rund 160.000 Jüdinnen und Juden, prägten das kulturelle und wirtschaftliche Leben. 55.000 von ihnen wurden im Zweiten Weltkrieg ermordet, nur wenige überlebten in Verstecken. Der Großteil der Jüdinnen und Juden musste fliehen oder wurde vertrieben.

Einer dieser Menschen steht bald im Mittelpunkt des Jüdischen Theaterschiffes. Denn am 23. Mai soll die „MS Goldberg“ mit der Uraufführung des Bühnenstücks nach dem Roman Der Sängerdes Schweizer Schriftstellers Lukas Hartmann eröffnet werden. Regie führt Armin Petras vom Staatstheater Cottbus, wo derzeit auch die Proben stattfinden. Es geht um den 1904 im österreichischen Kronland Bukowina geborenen Tenor Joseph Schmidt, dem aufgrund seiner geringen Körpergröße von 1,54 Meter zwar eine Karriere an den großen Opernhäusern verwehrt blieb, dessen zahlreiche Konzerte und Schallplattenaufnahmen ihn – der von seinen Fans liebevoll Josele genannt wurde – aber um 1930 zu einem der beliebtesten Sänger in Österreich und Deutschland machten. 1933 begann Schmidts jahrelange Flucht vor den Nationalsozialisten, sie endete in der Schweiz, wo der Sänger interniert wurde, erkrankte und schließlich im Jahr 1942 starb. Einen Tag nach seinem Tod hätte er eine Arbeitserlaubnis bekommen und wäre frei gewesen. Joseph Schmidts Lebens- und Fluchtgeschichte sei exemplarisch für das Schicksal der Juden in Deutschland und Europa, meint Peter Sauerbaum.

„Wenn wir nun mit unserem jüdischen Theaterschiff ,MS Goldberg‘ in See stechen, wollen wir bekannte und vergessene, aber auch neue Sterne glitzern lassen, an das Verlorene erinnern, das Gemeinsame feiern und dem Neuen eine Heimat geben.“
Peter Sauerbaum

An das Verlorene erinnern und dem Neuen eine Heimat geben. Theaterstücke werden jedenfalls en suite gespielt, und es werden immer Gastspiele sein, denn ein fixes Ensemble kann sich das Theaterschiff nicht leisten. Geplant ist etwa George Taboris Version von Gotthold Ephraim Lessings Komödie Die Juden oder die musikalischszenische Revue Wilde Bühne – reloaded über Trude Hesterbergs legendäres Berliner Kabarett. Zudem soll genügend Freiraum für andere Kunstformen bleiben. Neben Theaterproduktionen werden Filme gezeigt, es wird Konzerte und Lesungen geben. Bald nach der Eröffnung ist, verrät die Website der „MS Goldberg“, ein literarischer Abend dem Themenbereich Schifffahrt gewidmet, es werden Ausschnitte aus Werken von Heinrich Heine, Vicky Baum, Stefan Zweig oder Kurt Tucholsky zu hören sein. Geplant ist auch der sogenannte Goldberg-Salon, ein Diskussionsforum zu Themen wie Antisemitismus, Geschichte des jüdischen Theaters in Berlin, Architektur und Digitalisierung. Das Publikum sei eingeladen, sich daran zu beteiligen – denn der Salon lebe von Austausch und Ergänzung, sagt Peter Sauerbaum. Musikalisch fokussiert man sich wegen der räumlichen Gegebenheiten auf eher kleinere Ensembles und Kammerorchester. Von Klassik über Jazz und Weltmusik bis zu Pop und Rap reicht die Bandbreite.Auch ein Programm für Kinder und Jugendliche soll es bald geben. Angedacht sind etwa die Kinderoper Brundibár des tschechischen Komponisten Hans Krása, in der es um die Kinder aus Theresienstadt geht, oder eine Zusammenarbeit mit dem jüdischen Puppentheater Bubales, bei der die Welt der jüdischen Feiertage, Traditionen und Witze nicht nur für jüdische Kinder erlebbar wird.

© Jordana Schramm

Hinter dem Projekt Jüdisches Theaterschiff steht der gemeinnützige Verein Discover Jewish Europe. Denn allein durch Einnahmen aus dem Ticketverkauf ist die Bespielung und Erhaltung des Theaterschiffes nicht gewährleistet. Der Verein ist auf private Spenden und Sponsoring angewiesen. Die ehemalige deutsche Bundesregierung unterstützte das Projekt mit einer Förderung im vergangenen sowie für das heurige Jahr. Mit der neuen Bundesregierung sei man bereits im Gespräch, um den weiteren Betrieb zu garantieren, sagt Peter Sauerbaum. Der Umbau des Lastkahns wird – neben Sachspenden wie dem oben erwähnten Stahl – durch eine Geldspende von einer Million Euro der Stiftung Deutsche Klassenlotterie finanziert.
Gespielt wird übrigens nur vor Anker liegend, so sind die Bestimmungen – handelt es sich bei der „MS Goldberg“ doch um ein Gütermotorschiff und kein Fahrgastschiff. Das habe aber auch seine Vorteile, erzählt Peter Sauerbaum, weil man Bestandteil der Berufsschifffahrt sei und überall dort anlegen könne, wo derartige Schiffe eben anlegen dürfen. Und da der Lastkahn auch im Theatermodus voll funktionstüchtig bleibt, wird er auch mal für Veranstaltungen quer durch Berlin über die Spree nach Köpenick oder nach Süden über die Havel auf den Wannsee schippern. Ein Glück, dass der frühere Schiffseigner Dieter Birmuske und sein Bootsmann Artur Tuszynski, die jede Niete des Schiffes kennen, weiterhin mit an Bord sind. Denn es könne zwar jeder ein Schiff kaufen, aber nicht jeder könne es fahren, weiß Peter Sauerbaum. Kapitän Birmuske erwarb 1975 sein Schiffspatent, war als selbstständiger Binnenschiffer zwischen Deutschland, Holland, Belgien und Polen unterwegs, erst auf dem Schleppkahn „Willi“, dann auf dem Gütermotorschiff „Vulkan“ und seit 1995 eben auf der „MS Goldberg“.Sobald die handwerklichen Arbeiten in der Werft abgeschlossen sind, wird die „MS Goldberg“ ihren Heimathafen am rechten Havelufer in Spandau ansteuern. Ihr Ankerplatz liegt an der idyllischen grünen Uferpromenade unterhalb der Dischinger Brücke. Und dann übernimmt im Bauch des ehemaligen Lastkahns die Kultur das Kommando.

Uli Jürgenslebt und arbeitet in Wien. Sie beschäftigt sich in ihren Artikeln, Radiobeiträgen, Büchern und Fernsehdokumentationen vor allem mit den Themen Flucht und Exil in Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg.

 

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