Ungarn braucht eine Revolution. Von Gábor Németh
Am zweiten Tag des neuen Jahres feierten die sich als national-konservativ bezeichnenden Machthaber das „neue Flickwerk“. Ein harmonisches Grundgesetz, ohne Zügel und Gegengewichte. Mich interessiert das Ganze eigentlich schon gar nicht mehr. Nur mein Leben geht daran zugrunde. Und, was noch schlimmer ist, auch das Leben meiner Kinder. Obwohl ich bereits 1989 keine Illusionen hatte.
Ein Pass, gültig für die ganze Welt
Über die parlamentarische Demokratie dachte ich wirklich, dass sie noch das kleinste Übel ist, das mir passieren kann. Die Wahrheit ist zwar keine Frage einer Volksabstimmung, aber das Land werde ein Stück lebenswürdiger. Niemand würde mehr auf der Straße schlafen. Die Presse wäre frei, also lesbar. Der Polizist würde mich nicht anhalten. Ein Pass, gültig für die ganze Welt. Ich würde öfters im Wiener Bräunerhof sitzen. Wiener Schnitzel, Erdäpfelsalat. Sogar der Wein wäre etwas besser. Ich halte nicht das Maul. Ich werde nicht „in Evidenz“ gehalten. Das waren meine damaligen Hoffnungen. So ungefähr.
Sommer 1973, auf dem Lenin Boulevard, in der Hand eine nasse Badehose, ein Handtuch im schäbigen Kunststoffsackerl. Du kommst aus dem Sportbad. Es ist ein heller Frühnachmittag, du bist eben aus der Straßenbahn Nr. 6 gestiegen. Da treten zwei auf dich zu und fragen, wohin du gehst, wo du warst, was du im Sackerl hast. Du bist Gymnasiast, ein potenzieller Feind des Volkes, zumindest in den großen Sommerferien. Du antwortest auf alles. Sie fordern deinen Ausweis, kontrollieren, dass du wirklich du bist. Sie lassen dich gehen. Dass zumindest dieses sinnlose Herumwühlen von einst auf dem Lenin (oder auf irgendeinem anderen) Boulevard nicht mehr möglich sein würde. Das habe ich gehofft wie sich langsam heraustellt unbegründet.
Die Geschichte ist wie eine eiternde Wunde: Sie wird zwar verbunden doch ohne Arzt. Nach fünfzig Jahren wird jetzt erst der dreckige Verband abgenommen, Gestank steigt auf, doch die Wunde kann nun gereinigt werden und verheilen. Es tut zumindest nicht mehr so weh. Nur eine Narbe wird zurückbleiben – dachte ich 1989. So hat man sich den Unterschied zwischen Diktatur und Demokratie vorgestellt. Aber eigentlich wollte ich mit der ganzen Sache nichts zu tun haben. Ich ging jedes vierte Jahr zur Wahl, oder auch nicht. Lieber bin ich nicht hingegangen. Ich ging eigentlich bis letztes Jahr nie hin, dann aber ging ich doch. Damit man mir die Zweidrittelmehrheit nicht in die Schuhe schieben kann. Damit ich für den aufkeimenden Nationalsozialismus nicht verantwortlich gemacht werden kann.
Wir waren in der Minderheit, leider.
Meine prominenten Freunde sprachen achselzuckend von einer „Vollmacht“, die zur Durchführung der schon längst fälligen „unvermeidlichen“ Veränderungen nötig sei. Und es sei doch selbstverständlich, dass ein Politiker sich bemühe, die Zweidrittelmehrheit zu erreichen. Ich antwortete vergeblich, dass schon diese Absicht ein totales Missverständnis der demokratischen Grundsätze sei. Gesetze, die mit Zweidrittelmehrheit zu beschließen sind, sollten nur mit dem Konsens mehrerer Parteien geändert werden. Es ist unvorstellbar, dass in einem normalen Land eine Partei zwei Drittel aller Stimmen bekommt. Dazu war wirklich die Wahlzellenrevolution nötig und natürlich ein Wahlsystem, bei dem 52 Prozent „zwei Drittel“ bedeutet.