Das Land soll sich mit Auschwitz auseinandersetzen

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Die neue Österreich-Ausstellung in der KZ-Gedenkstätte Auschwitz ist ab 2017 zu sehen. WINA bat den wissenschaftlichen Leiter des Teams, Albert Lichtblau, und Kuratorin Barbara Staudinger zum Gespräch. Ihr Ansatz: das bisher transportierte Geschichtsbild auf den Kopf zu stellen, ohne den Besucher mit Informationen zu überhäufen. Interview Alexia Weiss, Fotos: Daniel Shaked

Die Gestaltung der neuen Österreich-Schau in der KZ-Gedenkstätte Auschwitz ist ein Teamprojekt. Wer steht für welchen Bereich?

DSC_7049Barbara Staudinger: Das kann man nicht so klar sagen. Die KuratorInnen sind eigentlich alle HistorikerInnen, und die HistorikerInnen haben alle bereits Ausstellungen gemacht. Insofern ist es wirklich Teamarbeit, aber wir haben natürlich unterschiedliche Zugänge. Während ich zum Beispiel von der jüdischen Kulturgeschichte komme, hat Albert Lichtblau lange im Bereich Oral History geforscht, auch ganz viel zur jüdischen Geschichte und Genozidgeschichte. Birgit Johler hat viele Gedenkprojekte gemacht, etwa Servitengasse 38, ist aber auch Volkskundlerin und hat damit einen kulturgeschichtlich-ethnologischen Zugang. Hannes Sulzenbacher kommt aus der jüdischen Geschichte, aber auch aus der Lesben-Schwulen-Geschichte und gestaltet seit Langem Ausstellungen in Jüdischen Museen. Christiane Rothländer kommt aus der Täter-Opfer-Forschung, ist Zeithistorikerin und war zum Beispiel mit dem Adolf-Hitler-Haus beschäftigt.

DSC_7066Albert Lichtblau: Konkret gibt es eine informelle Teilung, wissenschaftlich und kuratierend, aber natürlich arbeiten wir ständig zusammen. Es funktioniert wie ein Design Pool, wir treffen einander ja auch kontinuierlich und tauschen Informationen aus, was nötig ist, da das Thema höchst komplex ist. Ich habe das Gefühl, wir können alle auf hohem Niveau bei allem mitreden.

Inwiefern spielt auch das Genderthema, ein relativ neues Forschungsgebiet, in die Arbeit an der Ausstellung mit herein?

BS: Herauszuarbeiten, was geschlechtliche Kategorien im Konzentrationslager machten, ist Teil der Sensibilisierung. Ein Beispiel wäre Heinrich Dürmayer und seine Frau Judith Kahn. Dürmayer, Spanienkämpfer, Widerstandskämpfer, Lagerältester, gilt als einer der wichtigsten Protagonisten des Widerstands. Seine Frau Judith hat zur selben Zeit Nachrichten aus der Schreibstube geschmuggelt, wird jedoch in der Widerstandsgeschichte nicht zu den großen Figuren gezählt. Wir wollen diese geschlechtsspezifischen Zuordnungen in der Ausstellung nicht fortschreiben, daher müssen wir genau hinsehen.

AL: Ich befasse mich auch an der Uni mit Gendergeschichte. Die Genderforschung geht da einen Schritt weiter und sieht sich an, wie bewegen sich Männer, wie bewegen sich Frauen in der Geschichtsschreibung. Es gibt auch eine Genese in der Historiografie – in der Frauen etwa weggeschrieben oder nicht mitgedacht werden. Dieses Defizit müssen wir berücksichtigen und aufpassen, dass wir solche Fehler nicht übernehmen. Da geht es übrigens nicht nur um Männer und Frauen, sondern auch um die verschiedenen Opfergruppen. Es gibt einen sehr starken Fokus auf die jüdischen Opfer, aber es gibt auch andere Opfergruppen.

Sie haben von Widerstandskämpfern gesprochen und dass der Widerstand in der Überlieferung nur männlich war. Bei den jüdischen Opfern habe ich aber das Gefühl, dass man sich sowohl mit Männern als auch mit Frauen auseinandergesetzt hat. Ist dem so – oder ist das ein Trugbild?

AL: Im Fall von Auschwitz hat es eine sehr starke männliche Widerstandsgruppe gegeben. Frauen waren dünn gesät – aber es gab sie.

BS: Eben Judith Kahn, die nicht vorne steht, weil ihr Mann so dominant ist, und auch nach dem Krieg als Leiter der Stapo immer im Vordergrund steht. Bei den jüdischen Opfern ist es insofern anders, als die, die überlebt haben, fast ausschließlich durch Zufall überlebt haben, während die politischen Häftlinge, und dabei gerade die Männer, gute Kontakte hatten, auch zum Stammlager. Und das Stammlager war ein Männerlager. Da war der Handlungsspielraum ein anderer – das war der große Unterschied zwischen politischen und jüdischen Häftlingen.

Die Ausstellung, die Sie derzeit erarbeiten, entsteht nicht im luftleeren Raum, sondern muss dem Reglement der staatlichen polnischen KZ-Gedenkstätte Auschwitz entsprechen. Würde die Schau ohne diese Vorgaben – etwa, dass nur bis zum Jahr 1945 erzählt werden darf – völlig anders aussehen?

AL: Sicher. Diese zeitliche Begrenzung halte ich für legitim. Ohne diese Begrenzung würden die einzelnen Länder sicher auch die Geschichtsschreibung der Erzählung mit hineinnehmen, das macht man aktuell so. An diesem Ort gibt es aber so viele Nationalstaaten, die ausstellen und die aktuell in einem sehr starken Konflikt mit ihren nationalstaatlichen Identitäten stehen – vor allem die Oststaaten. Ich verstehe also, dass man diese Konflikte draußen halten will. Wir machen diese Auseinandersetzung eben implizit – beispielsweise dort, wo es um die Opfertafel geht. Da stand bisher nur, dass Österreich das erste Opfer war. Wir werden aber nun den zweiten Teil der Moskauer Deklaration auch mit hineinnehmen. Darin steht, dass sich Österreich seiner Stellung im Krieg innerhalb des Deutschen Reiches bewusst sein muss und dass auch zu bewerten ist, was zur Befreiung beigetragen wurde. Also es ist sehr wohl eine Mitschuld Österreichs am Krieg festgeschrieben worden. Und das werden wir auch herausarbeiten. Damit wird die Opferthese von Anbeginn relativiert.

BS: Auschwitz ist also nicht der Ort für eine Selbstdarstellungen oder Selbstbeweihräucherung. Gleichzeitig darf aber auch etwas anderes nicht passieren: das Gedenken einfach nach Auschwitz abzuschieben. Wenn man die Erinnerungskultur 600 Kilometer weit weg stattfinden lässt, wo auch wenige Österreicher hinkommen, dann stört sie niemanden, und man meint, hier in Österreich nichts mehr tun zu müssen. Wenn man die Darstellung aber mit 1945 begrenzt, ist die Haltung der Gedenkstätte ganz klar: Alles, was nachher passiert ist, müsst ihr in eurem eigenen Land aufarbeiten. Ihr könnt nicht alles auf die Gedenkstätte schieben. Das ist eine internationale Gedenkstätte in einem Konzentrationslager – und nicht die Selbstdarstellung eurer Erinnerungskultur. Und da haben sie Recht.

„Leitfragen zu stellen, die auch für das Publikum interessant sind.“ Albert Lichtblau

Welche Eckpfeiler wird nun die neue Österreich-Ausstellung in Auschwitz haben?

AL: Uns war es wichtig, Leitfragen zu stellen, die auch für das Publikum interessant sind. Das sind Fragen, die auf den ersten Blick recht banal klingen: Wie funktionierte das System? Was passierte am Schluss? Daran arbeiten wir zurzeit intensiv. Daraus hat sich eine Gliederung in vier Themenstellungen ergeben.

BS: Die erste Leitfrage lautet: Wie kam es dazu? Dieser Ausstellungsbereich befasst sich mit den Vorbedingungen des „Anschlusses“, dem Aufbau der NSDAP vor dem „Anschluss“ und dem „Anschluss“ selbst. Auf der österreichischen Seite wird die österreichische Dominanz in der Zentralbauleitung beim Aufbau des KZ Auschwitz dokumentiert. Die beiden Ebenen werden dabei durch einzelne Biografien, wie zum Beispiel die von Maximilian Grabner, Leiter der politischen Abteilungen im KZ Auschwitz, oder Fritz Ertl, stellvertretender Leiter der Zentralbauleitung, miteinander verbunden.

Das zweite Kapitel ist ein strukturelles. Da geht es einerseits um die Frage, wie die Struktur des NS-Regimes in Österreich aussieht. Wer sind die ProtagonistInnen, welche sind die Institutionen, wer die Opfer, wer die TäterInnen. Aber auch: Woher kamen die Opfer, und auf welchen unterschiedlichen Wegen gelangten sie nach Auschwitz? Wie haben dieses Hinführen und das Ankommen funktioniert?

AL: Die dritte Leitfrage beschäftigt sich mit den Handlungsspielräumen der Akteure. Das ist ein sehr aktueller Forschungsansatz. Man lotet aus, was der Einzelne bewegen konnte – und sieht, wie sich die Handlungsoptionen der Opfer und der Täter zunehmend verändern.

Das vierte Kapitel, das wir präsentieren werden, widmet sich dem Morden bis zuletzt. Es ist ein Phänomen von Genoziden, dass das Morden erst aufhört, wenn das System in sich zusammenbricht. Das passiert meistens militärisch. Und wir verbinden auch hier die Ebene Österreich mit der Ebene Auschwitz. Auschwitz löst sich auf, die Todesmärsche beginnen, das Töten hält bis Kriegsende an. Und in Österreich wird bis zur Befreiung gemordet.

Wie werden sie in der Ausstellung die Ebenen Österreich und Auschwitz miteinander verbinden?

AL: Unsere Ausgangsidee war, eine Ausstellung in Auschwitz und in Österreich zu machen. Wir sind in den Wettbewerb gegangen, um aufzuzeigen, dass es in Österreich bis jetzt keine adäquate Ausstellung gibt. Dann wurden wir in die nächste Bewerbungsrunde geladen und mussten dabei unser Konzept neu durchdenken. Die Idee mit der Entfernung haben wir auch im überarbeiteten Konzept übernommen, um den Faden zu Österreich zu bewahren.

BS: Die Idee der Entfernung wird in der Ausstellung so umgesetzt, dass all das, was in Österreich spielt, nur virtuell sichtbar sein wird (als gefilmte Ausstellung), reale Objekte werden nur aus Auschwitz gezeigt. Warum? Weil all das, was in Österreich blieb, nicht mehr relevant war für die Menschen, die dorthin deportiert worden sind, auch nicht für die, die überlebt haben. Und das wollen wir auch zeigen.

Was wir ursprünglich auch wollten, war den Block in seinem rückgeführten „Originalzustand“ zu zeigen, etwa den ursprünglichen Wandverputz oder den Boden. Aber es ist eine Gedenkstätte. Der Entwurf von Architekt Martin Kohlbauer sieht eine „Haut“ vor, die als Wand mit Abstand zu den Fenstern eingezogen wird und die einen neutralen Museumsraum schafft. Er hat ganz klar gesagt: Nein, das ist kein Konzentrationslager mehr, das ist heute eine Gedenkstätte, ein Museum.

Doch zurück zur Ausstellung: Die Wände, auf die außen der österreichische Ausstellungsteil projiziert wird und vor denen die realen Objekte angeordnet sind, sind in Rautenform positioniert, sodass man einen Innenraum betreten kann, in dem man meint, die Objekte aus Österreich auch real sehen zu können – betritt man diesen Raum jedoch, ist dieser leer. Österreich ist nur mehr eine Erinnerung, und für diese Erinnerung bleibt kaum Zeit im täglichen Kampf ums Überleben. Trotzdem ist auch dieser Raum nicht ganz leer.

Wir planen – und auch das Staatliche Museum in Auschwitz-Birkenau hat diese Idee sehr gut gefunden –, in diesem vermeintlich leeren Raum Whiteboards, also tafelgroße Screens anzubringen, auf denen man mit den Fingern schreiben und zeichnen kann. Die Nachrichten, die dort hinterlassen werden, verschwinden aber wieder, weil sie nicht nach Auschwitz gehören. Auftauchen sollen diese Nachrichten dann wieder in Österreich, mit zeitlicher Verzögerung.

Werden diese Nachrichten dann im virtuellen Raum veröffentlicht?

BS: Nein, wir suchen einen zentralen Platz in Österreich, wo diese Nachrichten öffentlich gesehen werden können. Aber sie sollen auch auf der Website zur Ausstellung sichtbar archiviert werden.

Damit gäbe es über einen Umweg doch einen Auschwitz-Erinnerungsort in Österreich?

AL: Ja, wir versuchen, diese Verbindung zu schaffen. Das Defizit ist damit immer noch nicht aufgehoben, aber wir kommen aus dem Dilemma heraus.

Generell interessiert mich auch, wie sich Menschen in Gedenkstätten bewegen, was sie an diesen Orten machen und was diese Orte mit ihnen machen. Sie fotografieren hilflos, sie versuchen sich an irgendetwas festzuhalten, sich den Ort anzueignen und sind eigentlich überfordert. Mit dem Whiteboard bieten wir ihnen eine Handlungsmöglichkeit, die sie wahrnehmen können – oder auch nicht. Ich hoffe, dass ihnen das dabei hilft, mit dem von Massenmord und Gewalt belasteten Ort ein wenig klarzukommen.

Gibt es bereits einen konkreten Ort und eine Zusage, hier einen solchen Raum zu schaffen?

AL: Wir führen Vorgespräche. Der Heldenplatz wäre für uns sicher der historisch aufgeladenste Ort. Dort wird jetzt auch das Haus der Geschichte geplant. Da würden sich die Nachrichten aus Auschwitz gut einfügen.

BS: Wir haben bisher keine Zusage. Aber das Äußere Burgtor wäre eine gute Möglichkeit.

Die Whiteboards transportieren die Botschaften also virtuell. Sie arbeiten aber auch mit realen Objekten. Wie schwierig ist es, an Objekte zu kommen? Und welche Objekte sind geeignet?

BS: Von der Zahl der Objekte her sind wir auf der österreichischen Seite gut aufgestellt. Das Ganze ist ein Prozess: Wir müssen Objekte aussuchen, uns aber auch bemühen, dass sie ausgeliehen werden können, dass konservatorisch alles passt und dass auch die Staatliche Gedenkstätte sie akzeptiert. Jedes Objekt, jeder Objekttext muss vorgelegt werden. Das heißt, wir wissen jetzt noch nicht, was wir dann wirklich zeigen werden können.
Problematisch für die Objektsuche, aber sehr verständlich ist, dass sich Überlebende nicht von ihren Objekten trennen können. Es ist schwierig, etwa seinen Löffel herzugeben, der einem das Leben gerettet hat.

AL: Es gibt nur noch wenige Überlebende, aber wir versuchen, alle zu kontaktieren. Walter Fantl-Brumlik, ein Auschwitz-Überlebender, hatte, wie viele andere auch, ein Überlebensobjekt – einen ziemlich dicken Ledergürtel, den er bis heute behalten hat. Er hat im KZ viele Angebote bekommen, dass er ihn zum Beispiel für Essen hergibt, aber er hat sich immer gesagt: So lange er noch den Gürtel hat, bleibt er am Leben. Daher gibt er uns den Gürtel nun auch nicht, und das muss man respektieren. Der Umgang mit solchen Objekten ist also nicht immer einfach. Aber wir werden solche Dinge in Form von Geschichten dokumentieren.

„Warum wir uns das antun? Weil wir etwas sagen wollen. Das ist unsere Motivation.“ Barbara Staudinger

Opferobjekte kann man sich relativ gut vorstellen. Aber was kommt als Täterobjekt in Frage?

AL: Wir haben bei der Täterrecherche geschaut, wo Österreicher und Österreicherinnen auftauchen. Dabei war auffallend, wie viele in der Zentralbauleitung waren, darunter drei ganz wichtige Personen: Fritz Ertl, Walter Dejaco und Josef Janisch. Von Ertl gibt es Pläne für Birkenau, diese wurden unter Einbeziehung von Häftlingen angefertigt, das hat wie ein Büro funktioniert. Ertl war eine spannende Figur: Er hat im Bauhaus studiert – er war also ein Exponent der Moderne. Es gibt noch ein Zeugnis im Original aus dem Nachlass der Moderne, das Mies van der Rohe unterzeichnet hat. Das ist ein Kontrast, der für unsere Vorstellungswelt nicht zusammenpasst, und dennoch ging es zusammen.

BS: Man könnte sagen, aus Ertl hätte auch etwas anderes werden können. Es war nicht so, dass es seine letzte Möglichkeit war, Gaskammern zu bauen, bevor er verhungerte.

AL: In dem Fall hatten wir Glück, und der Sohn von Ertl hat das Bauhaus-Zeugnis einem Privatarchiv überlassen. Damit können wir arbeiten. Ertls Nachlass ist sehr groß – es finden sich darin auch spannende Entwürfe aus der Zeit nach 1945. Aus anderen Täterfamilien bekommen wir leider höfliche Absagen oder gar keine Antwort.

Das heißt, für Ertl ist es nach der NS-Zeit bruchlos weitergegangen?

AL: Nein, nicht ganz. Er ist mit der Geschichte konfrontiert worden. Es gab in den Siebzigerjahren einen Prozess, da sind Ertl und Dejaco vor Gericht gekommen, waren auch eine Zeit lang inhaftiert, sind dann aber freigesprochen worden. Wir arbeiten mit diesen Prozessakten. Ertl beschreibt dort, dass er das nicht wollte, er wollte weg aus Auschwitz und hat sich dann quasi an die Front gemeldet.

Sie arbeiten also auch mit Prozessakten, die zum Beispiel aus den 1970er-Jahren stammen. Ist es zulässig, dieses Material in der Ausstellung, die ja nur bis zum Jahr 1945 erzählen darf, zu verwenden?

BS: Die Informationen darin beziehen sich ja auf die Zeit bis 1945. Außerdem wird es nicht nur die Ausstellung, sondern auch eine Website geben, auf der man ausführlich aus solchen Materialien zitieren kann. Diese Website wird sich stark mit der Nachkriegsgeschichte beschäftigen. Das machen auch andere Länder so und sind damit eine Referenz. Wobei wir schon auch in der Ausstellung ansprechen müssen und wollen, was aus einzelnen Opfern, aber eben auch Tätern geworden ist. Und man findet in den Aussagen auch viele andere Anhaltspunkte, zu Namen etwa. Wir wissen zum Beispiel nicht, wer aller von den rund 8.000 Mitgliedern der SS-Wachmannschaften Österreicher waren. Bei 8.000 weiß man gar nicht, wo man anfangen soll. Und hier finden wir Hinweise.

AL: Die Prozessakten erzählen außerdem viel darüber, wie Auschwitz funktionierte.

Warum hinkt die Täterforschung so hinterher?

AL: Weil sie nicht sehr beliebt ist, lange auch nicht gefördert wurde. Man denke an die Wehrmachtsausstellung und den Widerstand dagegen. Und auch in den Familien gab es lange Zeit eine tief liegende Abwehr, sich damit auseinanderzusetzen.

Bricht dieser Widerstand inzwischen?

AL: Ja, ich glaube schon. Ich habe in den 1980er-Jahren in der Forschung begonnen, da hat sich noch niemand für die Opfer interessiert. Das war so. Dann kam Waldheim, und plötzlich gab es Geld für Forschungsprojekte über Opfer. Aber bis die Opfergeschichten aufgearbeitet waren, dauerte es dann wieder lange Zeit. Das ist das eine. Das andere: Jemand, der, so wie ich, aus der Oral-History-Forschung kommt, muss sagen: Wir sind gescheitert – weil die Täter und Täterinnen kaum mit uns gesprochen haben. Oder sie haben gesprochen, aber das Wesentliche verschwiegen. Und es hat keinen Sinn, mit solchen geschönten Aussagen zu arbeiten. Und auch deshalb sind die Prozessakten so wichtig. Da sind die Täter unter Eid gestanden und wurden mit Zeugenaussagen konfrontiert.

Das heißt, Sie alle kommen derzeit an die Grenzen Ihrer Belastbarkeit?

BS: Es gibt Momente, in denen man sehr dünnhäutig ist. Da spielen auch biografische Aspekte herein. Ich bin selbst Mutter, und wenn ich lese, wie eine Mutter schreibt, dass ihr Kind ermordet wurde, habe ich fürchterliche Albträume. Ich denke, wir hatten alle schon Augenblicke, in denen wir gesagt haben, wir können nicht mehr.

AL: Es ist schwer. Aber wir müssen einen Umgang damit finden. Es ist jedenfalls nicht leicht, die Balance zu halten.

Die Grenzen der Belastbarkeit sind auch immer wieder Argument jener, die einen Schlussstrich unter die NS-Zeit fordern.

AL: Wir sind immer noch in der Phase einer permanenten Auseinandersetzung. Aus der Sicht der wissenschaftlichen Auseinandersetzung muss ich sagen, dass kein Mensch heute sagt, es muss unter die Kreuzzüge ein Schlussstrich gezogen werden oder unter die Mittelalterforschung. Persönlich glaube ich, dass wir uns das antun, weil wir etwas sagen wollen. Das ist unsere Motivation. Selbst wenn Menschen vom Schlussstrich sprechen, reden sie darüber und sind also betroffen. Das Kippen aus der „Normalität“ in die Mordmaschinerie war der große Zivilisationsbruch des 20. Jahrhunderts und hat unsere Gesellschaft nachhaltig erschüttert. Mit unserer Arbeit möchten wir auf Defizite in der Auseinandersetzung mit der NS-Zeit in Österreich hinweisen, und dazu gehört auch das Defizit der Täter- und Täterinnen-Wahrnehmung. Das Land soll sich damit auseinandersetzen.

Österreich präsentiert sich in Auschwitz mit überarbeitetem Geschichtsbild
2017 soll die neue Österreich-Ausstellung in der KZ-Gedenkstätte eröffnen. Die 1978 konzipierte erste Schau, die den Mythos von Österreich als erstes Opfer Hitlers vermittelte, erforderte eine Neugestaltung, nachdem, durch Waldheim ins Rollen gebracht, ein Paradigmenwechsel erfolgt war. Mit der Koordinierung der Neugestaltung wurde 2009 der Nationalfonds betraut. Ziel ist, das Geschichtsbild Österreichs in Bezug auf seine NS-Vergangenheit in zeitgemäßer Form zu vermitteln.
In einer zweistufigen europaweiten Ausschreibung konnte sich das Team Hannes Sulzenbacher (Projektleiter), Albert Lichtblau (wissenschaftlicher Leiter), Birgit Johler (Kuratorin), Christia­ne Rothländer (Historikerin), Barbara Staudinger (Kuratorin), Martin Kohlbauer (Architekt) durchsetzen. Sie stellten den Begriff der Entfernung in den Mittelpunkt ihres Konzepts. Der Begriff steht für die räumliche Distanz zwischen Österreich und Auschwitz, aber auch für die zeitliche. Und schließlich auch für die Entfernung von Menschen – also ihre Ermordung.
Erzählt wird anhand von realen Objekten aus Auschwitz und projizierten Objekten aus Österreich, man hantelt sich dabei mithilfe von vier Leitfragen an vier Wänden vor, die eine Raute bilden und einen leeren Innenraum umgeben.

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