Leben auf der Flucht

Jakov Jasha Bararon fühlt sich dort zu Hause, wo es Toleranz unter den Menschen gibt und der soziale Umgang Sicherheit vermittelt. Das ist nach fünf Fluchten derzeit in Wien.

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© Jakov Bararon

Die erste Flucht war die interne Vertreibung. „Ich habe nicht gewusst, warum sie mich verstecken“, erzählt der 80-jährige Maler Jakov Jasha Bararon. Seine Eltern waren sephardische Juden, Nachkommen der im Mittelalter aus Spanien und Portugal vertriebenen Juden. Die Familie lebte bis zur deutschen Besatzung in Belgrad, der Hauptstadt des Königreichs Jugoslawien.
Gleich nach dem Einmarsch der Wehrmacht im März 1941 wurde Bararons Vater Abram von den Deutschen auf der Belgrader Sava-Brücke getötet, als er versuchte, aus der Stadt zu fliehen, nachdem er gewarnt worden war, dass sein Name auf einer Erschießungsliste stünde. Einige Mitglieder seiner Familie schafften es zuvor noch, nach Italien zu entkommen.
Bararons Mutter Rifka hat die gelbe Armbinde nie angelegt. Sie tauchte zusammen mit ihrem Sohn unter und verwendete den nicht-jüdischen Namen Radmila Babić, mit dem sie sich zum Arbeitseinsatz im Deutschen Reich meldete. Rifka Bardo Bararon wurde nach Wien geschickt und ließ ihren Sohn, dessen offizieller Name nun Mišo Babić lautete, bei einer befreundeten Familie in Belgrad zurück. Doch der neue Name hat Bararons Mutter nicht geholfen. Ein guter alter „Freund“ erkannte sie in Wien und sagte zu ihr: „Ich kenne deinen Abram.“ Wenn sie sich nicht selbst der Gestapo gestellt hätte, wäre sie von ihm verraten worden. Rifka Bardo Bararon wurde daraufhin nach Mauthausen deportiert.
Jakov überlebte den Zweiten Weltkrieg, weil ihn die serbische Familie Svetličić vor den Nazis und den jugoslawischen Kollaborateuren versteckte. Der Name der Familie, der Bararon das Überleben der Schoah verdankte, steht heute in Yad Vashem unter den „Gerechten“, all jenen couragierten Menschen, die Juden gerettet haben. In unmittelbarer Nachbarschaft der Familie Svetličić in einer Vorstadt von Belgrad befand sich ein Erschießungsplatz. Kolonnen von Menschen zogen am Haus vorbei und wurden dort ermordet.

»Du gehst aus einem Unwetter und kommst in ein anderes, aber darin versuchst du irgendeine Ordnung
zu finden. Und jetzt habe ich sie in Wien gefunden.«
Jakov Jasha Bararon

Jakovs zweite Flucht begann, als die Mutter nach der Befreiung aus dem Konzentrationslager nach Belgrad zurückkehrte und sich mit Jakov nach Israel absetzen wollte. Da eine Ausreise im neuen Jugoslawien unter Titos Führung erst nach der offiziellen Staatsgründung Israels 1948 erlaubt wurde, mussten sie zuerst nach Paris, wo es jüdische Organisationen gab, die bei der Überfahrt in das damalige Palästina halfen. In Frankreich sah Jakov seine Mutter kaum. Sie gab ihn in ein zionistisches Kinderheim in Paris, wo er begann, Hebräisch zu lernen. Danach gingen sie nach Marseille, von wo Jakov drei Monate später mit einem Schiff mit insgesamt 300 Kindern die Reise in das gelobte Land antrat. Rifka Bardo Bararon blieb in Frankreich zurück, um zu arbeiten und auch für sich die geplante Überfahrt leisten zu können.

Aus dem Sevilla-Zyklus
Paradiso © Jakov Bararon

Die dritte Flucht war für ihn seine Ansiedlung in der jüdischen Urheimat, einem Gebiet, das im Krieg gegen die Araber besetzt wurde. Im zionistisch-kommunistischen Kibbuz Beeri in der Nähe von Gaza lebte er bis 1957, als ihn seine Mutter, die nach Jugoslawien zurückgegangen war und geheiratet hatte, einlud, „nach Hause“ zu kommen. Er ging, …

… und seine vierte Flucht begann. Nach Jugoslawien zurückgekehrt, war er anfangs begeistert, wie die Menschen an die neue sozialistische Ordnung glaubten. Erst später wurde ihm bewusst, dass der Abschied von Israel ein Fehler gewesen war. Er verließ eine echte Demokratie für ein Land, in dem all die Nationalismen lebendig waren, die schließlich zu einem Krieg führten, vor dem die Familie erneut flüchten musste. „In Jugoslawien war es schön“, erinnert sich Bararon heute, aber das sei nur eine Außensicht gewesen.
Als es im Zuge des Zerfalls Jugoslawiens zur blutigen Abrechnung kam, als Sarajevo unter Beschuss stand, da haben ihn seine dortigen Kollegen aufgefordert, sich den Verteidigern anzuschließen. „Sie wollten, dass ich eine Waffe in die Hand nehme und auf Leute schieße, die ich gut kannte und mit denen ich zusammengearbeitet habe.“ Das wollte er nicht. Als eines Tages ein Schrapnell in seinem Atelier ein Panoramabild von Sarajevo traf, musste er für sich eine Entscheidung treffen: Es war wieder an der Zeit zu fliehen. Genau dieses Bild stellte Bararon bei seiner ersten Ausstellung in Wien, der bislang letzten Station seines Lebens auf der Flucht, aus.

»Ich mache etwas, das ich mir ausgedacht habe,
das aber am Ende sehr real
sein kann.«

Jakov Jasha Bararon

Bararons fünfte und bisher letzte Flucht begann im Mai 1992, als er zusammen mit seiner Frau Sonja Sarajevo verließ.
Er fühle sich dort zu Hause, wo es Toleranz unter den Menschen gibt und der soziale Umgang einem Sicherheit vermittelt. „Dann fühlst du, dass du zu Haus bist.“ Als Jakov und Sonja in Wien ankamen, hätten sie genau dies vorgefunden. Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien seien damals sehr freundlich empfangen worden. Er fühle sich in Wien zuhause, insbesondere in seinem Atelier, das auch sein Tempel sei, wo er beten könne, wann immer er will. Obwohl sie damals eigentlich nach Kanada weiterreisen wollten und schon ein Visum in den Händen gehalten haben, haben sie es sich anders überlegt. „Ich wurde hier als Künstler empfangen, sogar in den höchsten politischen Kreisen haben sie mir geholfen“, erinnert sich der Maler.
Bararon empfindet keine besondere Nostalgie für die früheren Stationen seines Lebens auf der Flucht. Gerne erinnert er sich an die Pionierzeit in Israel nach der Gründung, als die Menschen Hoffnung hatten. Die alte jüdische Sehnsucht „nächstes Jahr in Jerusalem“ fühlt er nicht, da er aber im zionistischen Geist erzogen wurde, pflegt er eine große Liebe zu Jerusalem – „das Epizentrum, von dem alles ausgeht“. Doch das Verlangen, dorthin zurückzukehren, hat er nicht mehr. In seinem Alter will er nicht mehr irgendwo anders leben, erzählt Bararon, und dass er sich wie der alte Mann fühle, der während eines Erdbebens, wenn alle auf die Straße flüchten, im Hochhaus bleibt und die Jugendlichen, die ihm zureden, er solle doch auch hinausgehen, fragt: „Warum soll ich gehen, es soll sein, was wird!“

Aus dem Sevilla-Zyklus Vistas © Jakov Bararon

Es kann dennoch sein, dass sich Bararon wieder auf den Weg machen muss. Es gibt für ihn Anzeichen, dass sich erneut „bedrohliche Sturmwolken am Himmel sammeln“. Er betrachtet Fluchten immer als eine Art von Wetterumsturz – als Gewitter, Stürme oder Tornados, die die Menschen verwehen. „Du gehst aus einem Unwetter und kommst in ein anderes, und darin versuchst du irgendeine Ordnung zu finden. Und jetzt habe ich sie in Wien gefunden, obwohl ich früher nie gedacht habe, dass ich jemals in einem deutschsprachigen Land leben möchte.“ Obwohl er Wien nicht mehr verlassen möchte, weiß er, dass erneut ein Sturm aufkommen könnte, der ihn nach Israel zurückweht. „Es gibt Dinge, die erinnern mich an die Zeit, als dieser ‚Freund‘ meiner Mutter geraten hat, sich lieber selbst bei der Gestapo zu melden. Wir wurden damals als Menschen kategorisiert, die in dieser Gesellschaft keinen Platz mehr hatten“, erzählt der Maler.

Beziehung zum Judentum. Bararon empfindet tiefen Respekt für gläubige Menschen, aber er fügt sofort hinzu, dass von jemandem, der sich mit Kunst beschäftigte, nicht erwartet werden könne, gläubig zu sein. „Ich lebe in meiner eigenen Welt, von der ich selbst nicht weiß, wie ich sie benennen soll. Dort bin ich zu Hause.“ Das bedeutet nicht, dass er nicht in die Synagoge geht. Er kennt auch alle Rituale, die ihm seit der Zeit im Ghetto unter die Haut gingen. „Du konntest das Ghetto nicht verlassen, du konntest nicht mit dem Kopf durch die Wand“, erinnert sich Bararon. Er erzählt, dass es ihm später gelungen sei, diese Wand zu durchbrechen. „Wenn du das machst, fühlst du dich wie ein Kabbalist, der die Welt durch eine andere Dimension betrachtet.“
Er habe gelernt, auf eine jüdische Weise zu denken. Am Schabbat zündet er immer Kerzen an. Wie einst im kommunistischen Kibbuz, um dadurch eine gewisse Zugehörigkeit auszudrücken. Diese Zugehörigkeit fühlt er auch, wenn er auf den Wiener Gehsteigen all die Stolpersteine sieht, die an die Vertriebenen und Ermordeten erinnern. Das Anzünden der Kerzen ist für ihn ein Ausdruck der Pietät früheren Generationen gegenüber. Und wenn die Kerzen brennen, spricht er das Gebet, nicht laut, sondern ganz leise in sich hinein.

Cordoba-Mosaik. Die Vorfahren Bararons wurden aus Spanien und Portugal vertrieben. © Jakov Bararon

Die Inspiration seiner Arbeit. Fragt man ihn nach seiner Inspirationsquelle, verweist er auf die jüdische Tradition, die – genau wie sein Leben – mit der steten Flucht verwoben sei. „Ich fühle eine gewisse Verbundenheit. Meine Vorfahren wurden aus Spanien und Portugal, von wo meine Familie hauptsächlich stammt, vertrieben.“ Besonders interessiert ihn, wie damals der gesamte mediterrane Raum von der jüdischen Vertreibung profitierte, wie sich die Kultur verbreitete, wie die Vertriebenen Spuren in Bosnien, Venetien und bis hinauf nach Holland hinterlassen haben. So trägt der Oberrabbiner von Rom den selben Nachnamen wie seine Mutter. Der Name war vor der Vertreibung weit verbreitet und ist noch heute in verschiedenen Orten Europas zu finden.
„Diese Migrationen interessieren mich ganz besonders. Heuer möchte ich einen Zyklus, den ich 1492 genannt habe, abrunden“, erzählt Bararon. Das Jahr, in dem Christoph Kolumbus Amerika „entdeckte“, aber auch das Jahr, als die Vertreibung der Juden und Mauren aus Spanien einsetzte. „Wie schön sie damals in der Türkei empfangen wurden“, ergänzt Bararon und erklärt, wie früher einmal die Juden die türkische Heimat besungen haben. Süleyman der Große habe diesen Namen nicht einfach so bekommen, sondern er sei wirklich groß gewesen. Bararon erzählt die Geschichte, wie nach dem Fall des Ottomanischen Reiches Türken nach Wien geschickt wurden, die in Wirklichkeit türkische Juden waren. Sie haben Europa mit dem Orient verbunden. Seiner Meinung nach sei nicht alles so schwarz-weiß gewesen, wie es später als die Ideologie der reinrassigen „Volksgemeinschaft“ in Form der Rassentheorien von Nazideutschland verklärt wurde. Deswegen wären auch die jetzigen antijüdischen Tendenzen eigentlich nur die Frucht von schmutzigen politischen Spielen.

Über Schubladen. Auf die Frage, in welche „Schublade“ sein künstlerisches Schaffen einzureihen sei, antwortet Bararon, dass seine Kunst am ehesten als assoziativ bezeichnet werden kann. Er wolle sichtbar machen, wie die Vergangenheit mit der Gegenwart verbunden sei – dafür schafft er eine Art imaginäre Welt: „Ich mache etwas, das ich mir ausgedacht habe, das aber am Ende sehr real sein kann.“ Und er hofft, dass diese vom Publikum verstanden wird. „Wenn die Menschen nur ein Drittel von dem erkennen, was ich als Künstler sagen will, ist das schon sehr viel.“ Er erzählt, dass seine Hand ihn führt. Das kreative Schaffen sei seiner Meinung nach ein Prozess, der vom Gehirn in die Hand übergehe. Das, was dabei herauskomme, erlebe eine ständige Transformation. Sehr oft beschäftige er sich nochmals mit einem Werk, wenn ihm dazu eine neue Idee einfällt. „Wenn Ihnen ein Werk gefällt, nehmen Sie es am besten gleich aus meinem Atelier mit, sonst kann es sein, dass es morgen ganz anders aussehen wird“, lacht Bararon.
Bararon ist überzeugt, dass jeder jüdische Künstler seine von den Vorfahren geschriebene Haggada in sich trägt. Auch er hat seine aus Sarajevo nach Wien mitgebracht. Sein erstes Werk in Wien war dann auch die Sarajevo Haggada, eine der Quellen seiner Inspiration. „Es war etwas Ursprüngliches, das ich mit nach Wien gebracht habe“, erzählt der Künstler. Später hat er mit Landschaftsmalerei weitergemacht und mit Judaica, die mit seinen Vorfahren zu tun hat. In seinen Arbeiten versuchte er immer, Figuren zu vermeiden. Bararon erzählt, dass er Menschen nur gemalt habe, wenn er das wirklich machen musste.

Hat die Kunst einen Auftrag, kann sie etwas verändern? Bararon ist überzeugt, dass ihm das notwendige Charisma fehlt, um mit seiner Kunst etwas verändern zu können. Er hat seine eigene Handschrift entwickelt, die er sich erhalten habe und die erkennbar sei. „Mein Blick ist auf den Moment gerichtet, meine Bilder sind eine Reaktion auf den Augenblick. Ich arbeite intuitiv. Diese Intuition aber verändert sich, und so verändert sich auch meine Arbeit. Darin verbirgt sich die Schönheit meines Schaffens“, erklärt der Künstler. Und fügt hinzu, dass er kein Sendungsbewusstsein hat, viel mehr möchte er Intimität erzeugen. Deswegen seien ihm Landschaftsporträts am liebsten.
Bararon würde nie akzeptieren, in eine Schublade eingeordnet und als Repräsentant einer künstlerischen Richtung charakterisiert zu werden. „Das sind Wortspiele von professionellen Kritikern.“ Er habe sich mit vielen Arbeiten anderer Künstler beschäftigt, aber wenn er selbst im kreativen Schaffungsprozess sei, versuche er, alles zu vergessen und sich mit seiner eigenen Arbeit zu beschäftigen.
Auf die Frage, welche künstlerische Anerkennung ihn bislang wirklich berührt hat, erzählt er die Geschichte von einem jungen Arbeiter, der ihm geholfen habe, die Bilder für eine Ausstellung vorzubereiten und zu verschicken. „Onkel Jasha, dieses Bild ist aber wirklich traurig!“, habe dieser gesagt. Dass dieser Fremde sein Bild und damit ihn verstanden hätte, war für ihn das größte Kompliment.

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