Mit dem Programm Lebensmelodien trägt der israelische Klarinettist Nur Ben Shalom von Berlin aus ein wichtiges Erinnerungsprojekt in die Welt. Am 27. April ist er mit Iris Berben und seinem Nimrod Ensemble im Wiener Konzerthaus zu erleben. Mit uns sprache er über das Projekt und seiner ganz persönlichen Erinnerungsarbeit.
Wina: Ihr literarisch-musikalisches Projekt Lebensmelodien erfährt seine Österreich-Premiere am 27. April im Mozart-Saal des Wiener Konzerthauses. Lebensmelodien beinhaltet musikalische Werke, die im Zeitraum 1933 bis 1945 komponiert, gespielt und gesungen wurden, aber durch die Shoah größtenteils vergessen wurden und verloren gegangen sind. Sie haben das Projekt 2019 in Berlin ins Leben gerufen und gastierten damit bereits an vielen Orten – wieso kommt es erst jetzt nach Wien?
Nur Ben Shalom: Wir waren vor Kurzem auch in den USA, wo wir aus Anlass des 80. Jahrestags der Befreiung von Auschwitz vor der UNO-Generalversammlung gespielt haben. Zuerst war es uns wichtig, das Publikum in Deutschland mit den Lebensmelodien bekannt zu machen, um sie mit dieser Erinnerungsarbeit bekannt zu machen. Das Projekt wurzelt in Berlin, es ist wie ein großer Baum mit vielen Ästen – und einer ragt nach Wien, wo man das Kriegsende auch 1945 beging.
Hinter dem unbeschwert klingenden Titel Lebensmelodien verbergen sich jüdische Schicksale von Menschen, die Träume, Wünsche und große Talente hatten – aber jetzt nur mehr in diesen Melodien weiterleben können. Ihre eigene Familiengeschichte hat Sie zu diesem Projekt motiviert. Wie kam es dazu?
Tipp
Die IKG.Kultur lädt zu Lebensmelodien ins Wiener Konzerthaus zu einem literarisch-musikalischer Abend mit Iris Berben, Nur Ben Shalom und dem Nimrod Ensemble.
27. April 2025, 19:30 Uhr.
Infos & Tickets:
ikg-wien.at/lebensmelodien25
„Lebensmelodien – das sind jüdische Melodien, musikalische Werke, die im Zeitraum 1933–1945 komponiert und gesungen, manchmal auch aufgeschrieben wurden. Hinter den Lebensmelodien verbergen sich die Lebensgeschichten jüdischer Schicksale. Die Musik hat geholfen in den Ghettos und Lagern zu überleben – oder auch von dieser Welt Abschied zu nehmen. Jede Melodie hat eine eigene Geschichte zu erzählen, Jede Lebensmelodie ist an eine bestimmte Person oder Gemeinschaft gebunden – entstanden in den unmenschlichsten Situationen von Verfolgung und Mord, wo die Musik Trost und Hoffnung bot. Wir haben das Glück, dass zahlreiche Kompositionen und Geschichten erhalten geblieben sind. Etwa die Werke von Shmuel Blasz und Shmuel Lazarovich; zwei Freunden, die in einem ungarischen Arbeitslager singend, nebeneinander arbeitend, komponiert haben. Einer von beiden hat überlebt und nach Kriegsende im Schrank seines Freundes die Noten der Kompositionen gefunden. Shmuel Lazarovich bewahrte die Werke auf und gab sie an die nächsten Generationen weiter, sodass man der Geschichte seines Freundes gedenkenwürde“
I Väterlicherseits kommt meine Familie aus Wien und Tarnopol. Meine Ururgroßmutter ist hier auf dem jüdischen Friedhof begraben. Und seit meinem sechsten Lebensjahr spielt ein zwölfseitiger Brief meiner Großtante Salomea Ochs Luft eine wichtige Rolle in meinem wie auch im Leben meiner Eltern: Jedes Jahr am Shoah-Gedenktag holt ihn mein Vater aus der Schublade, dann wird laut vorgelesen. Angreifen durfte ich den Brief erst als Erwachsener – und auch nur mit Handschuhen.
Salomea war eine hoch begabte Pianistin und unterrichtete u. a. auch in Wien. Kurz vor ihrer Deportation 1943, als sie schon wusste, dass sie die NS-Gefangenschaft nicht überleben würde, schrieb sie diesen Abschiedsbrief an ihre Familie in Israel. Zu diesem Zeitpunkt lebte sie im Ghetto von Tarnopol, nachdem sie aus ihrer Wohnung vertrieben worden war. Salomea hatte bereits die Ermordung ihrer Mutter, ihres Ehemannes und anderer Familienmitglieder durch die Nationalsozialisten erlebt und erwartete nun ihr eigenes Ende. Hier ein Zitat:
„Meine Lieben! David liegt am jüdischen Friedhof, meine Mutter weiß nicht wo, sie wurde nach Belzec verschleppt, wo ich begraben sein werde, weiß ich nicht. Wenn Ihr vielleicht nach dem Kriege herkommt, dann werdet ihr bei Bekannten erfahren, wo die Transporte des Lagers hin gerichtet wurden. Es ist nicht leicht, Abschied für immer zu nehmen, aber wir gehen schon lachend in den Tod. Lebt wohl, lasset es Euch recht gut gehen und wenn Ihr könnt, dann nehmt einst RACHE!“
„Rache“ klingt in diesem Fall sehr verständlich, aber was tut man mit diesem Auftrag?
I In Israel war es normal, umgeben von Shoah-Überlebenden aufzuwachsen und so ständig mit den Geschichten und Zeugnissen aus dieser Zeit konfrontiert zu werden. Die Aufforderung, Rache zu nehmen, begleitete mich – als Angehöriger der dritten Generation – mein ganzes Leben. Als Musiker hatte ich schon früh eine Affinität zur Musik dieser Zeit. Dort suchte ich Antworten auf Salomeas Aufforderung, obwohl mir klar war, dass es dafür keine korrekte Replik gab. Die Rache, wie Salomea Ochs Luft sie forderte, kann ihr nicht gegeben werden.
Wie haben Sie dieses persönliche Dilemma gelöst?
I Ich fand einen Weg, um mit ihrer Bitte umzugehen: Salomea wurde für mich die musikalische Brücke zwischen Vergangenheit und Zukunft. Als Musiker sehe ich meine Aufgabe darin, die Musik, die die jüdischen Menschen im Angesicht des nahenden Todes bewegt hat, zusammen mit ihren Lebensgeschichten bekannt zu machen. Dies ist eine Transformation der Rache – ein Weg, um die Stimmen derer, die zum Schweigen gebracht wurden, nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, sondern sie ganz im Gegenteil laut und vernehmlich erklingen zu lassen.
Was hat den jungen Israeli Nur nach Berlin gebracht?
I Ich kam zum Studium der deutschen Klassik nach Berlin und setzte auch meine Klarinetten-Ausbildung hier fort. Diese Stadt hat etwas mit mir getan, ich fand so viele Anklänge an das frühere blühende jüdische Leben, so vieles hat von hier aus seinen Ausgang genommen. Diese allgegenwärtigen Erinnerungen haben mich einfach provoziert, ich hatte das Gefühl, ständig auf offene Gräber zu stoßen.
Wo konnten Sie die Musik für Lebensmelodien zusammentragen?
I Die wichtigsten Kontakte dabei sind die Familien, die die Shoah überlebt haben und das Material besitzen. Sie stellen uns die Noten, Zettel oder Briefe zur Verfügung, die wir großteils bereits uraufgeführt haben. Einiges stammt auch aus Archiven oder aus der Zusammenarbeit mit Musikwissenschaftern. Die Melodien, die damals gesungen wurden, werden teilweise neu bearbeitet und von einem klassischen Ensemble zu Gehör gebracht. Wir haben bisher rund 150 Melodien gespielt.
Auf Ihrer Website sieht man ein Foto von Ihnen bei Papst Franziskus, ein anderes zeigt den deutschen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier, der einem Konzert von Ihnen lauscht. Ihr Projekt ist auf viel positive Aufnahme gestoßen?
I Ja, das ist sehr erfreulich, denn die Lebensmelodien erklingen in Konzerthäusern, Schulen, an öffentlichen Orten sowie in Synagogen, Kirchen und Moscheen. Wir haben auch ein Bildungsprogramm für Gymnasiasten zwischen 15 und 18 Jahren entwickelt, das bisher in insgesamt 300 Schulen umgesetzt wurde. Den Schülern wird die jüdische Geschichte ihrer Stadt, ihres Landes näher gebracht, danach machen sie ihre eigenen Recherchen für das Projekt Lebensmelodien, gestalten selbst ihr musikalisches Programm – und werden so zu Botschaftern unserer Idee.
Die Lebensmelodien sind für uns mehr als nur eine Aufführung. Sie sind eine Reise, auch in uns selbst. Genauso wie die Zuhörer werden wir Musiker während des Konzerts mit der Verzweiflung der Verfolgten konfrontiert, aber auch mit ihrer Hoffnung und ihrer Würde. Wir stellen uns beim Spielen Fragen und können oft keine Antwort finden. Diese Konzerte sind die intensivsten, die wir mit dem engagierten Nimrod Ensemble und so berühmten Schauspielerinnen und Schauspielern wie Iris Berben, Udo Samel, Isabel Karajan, Ulrich Matthes und anderen je hatten.

Was ist nach Wien die nächste Station der Lebensmelodien?
I Wir fahren nach Prag und treffen mit den Familien der letzten Überlebenden des KZ Theresienstadt zusammen. Danach folgt Polen, wo wir uns den Schulen anschließen, die am March of the Living teilnehmen. Auch hier wird durch die Musik eine Verbindung geschaffen zwischen den Opfern der Shoah und den Menschen heute, die die Melodien und die damit verbundenen Lebensgeschichten hören, selbst spielen und weitertragen. Denn jede einzelne Geschichte ist ein Puzzlestück, ein Lebensschicksal. Es sind private Geschichten, aber wenn man sie zusammensetzt, ergibt sich ein größeres Bild, das Einblick in eine Kultur gibt, die gewaltsam vernichtet wurde. So bringen wir etwas Neues in die Welt – etwas, das schon einmal da war, aber gewaltsam in die Vergessenheit gezwungen wurde.
Wie würden Sie sagen, haben Sie Salomeas Vermächtnis der „Rache“ umgesetzt?
I Durch die Lebensmelodien kann jede und jeder Einzelne von uns Rache nehmen an den Nationalsozialisten, indem wir gemeinsam an diese Menschen erinnern. Auch wenn Salomea, Shmuel und Ida brutal ermordet wurden, leben ihre Werke und Geschichten in uns weiter. Heute werden die Lebensmelodien von Menschen mit verschiedensten Hintergründen und an den unterschiedlichsten Orten gespielt. Diese Diversität zeichnet unseren Auftrag aus – denn wir werden alle Zeuginnen und Zeugen dieser Melodien und der Geschichten dahinter, und es ist die Aufgabe von uns allen, diese weiterzutragen und in uns weiterleben zu lassen.