„Lebenswege und Jahrhundertgeschichten“

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In dem kürzlich erschienenem Buch Lebenswege und Jahrhundertgeschichten sind Schicksale jüdischer Zuwanderer aus der Ex-UdSSR dokumentiert. Es liefert einen neuen Beitrag zur jüdischen Geschichte. Von Manja Altenburg 

Rund 220.000 Juden kamen mit Beginn der 1990er-Jahren aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland. Davon ließen sich schätzungsweise 35.000 in Nordrhein-Westfalen nieder. Auf Anregen der Synagogengemeinde Köln und der Landesverbände der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe interviewte zwischen 2009 und 2012 das Kölner  NS-Dokumentationszentrum jüdische Zuwanderer aus den Geburtsjahrgängen 1914 bis 1938, die in das Bundesland gekommen waren. Unter dem Titel des Projektes „Lebenswege und Jahrhundertgeschichten“ erzählen die Immigranten vor laufender Kamera ihre Lebensgeschichten. Sie berichten von den Zeiten nach der Russischen Revolution über Verfolgung und Vernichtung während des Zweiten Weltkriegs. Sie sprechen über ihre Situation während des Stalinismus, Ausgrenzung und Antisemitismus, die sie erfahren haben, und über ihr Leben in Deutschland heute. Unter dem gleichnamigen Titel erschien kürzlich ein Buch, das 40 dieser persönlichen Schicksale porträtiert. In dem zweisprachigen Buch – auf Russisch und Deutsch – findet man Ausschnitte der Interviews, Abbildungen von Dokumenten und Porträts der Befragten.

Erzählte Geschichte über Stalinismus, Antisemitismus und das Leben in Deutschland heute.

Mehr als ein Denkmal
Lebenswege und  Jahrhundertgeschichten. In deutscher und russischer  Sprache, Emons Verlag;  544 S., € 39,95
Lebenswege und
Jahrhundertgeschichten.
In deutscher und russischer
Sprache, Emons Verlag;
544 S., € 39,95

Einer der Interviewten ist Borys Tsargorodskiy. Tsargorodskiys Familie flüchtete im Zweiten Weltkrieg vor den Deutschen von Odessa in Richtung Sibirien. Er berichtet über seinen Onkel Abram Brodskij, wie er Tsargorodskiys Mutter und ihren kleinen Kindern zur Flucht verhalf und selber den Nationalsozialisten entkam. Sein Onkel kämpfte als Partisane gegen die Besatzer und fiel 1944 an einem unbekannten Ort in Weißrussland. Tsargorodskiy äußert sich verwundert darüber, dass ein solches Projekt ausgerechnet in Deutschland, eben im Land der Täter realisiert worden sei. „Das ist eigentlich paradox“, so Tsargorodskiy. Für ihn ist das Buch eine Art Denkmal für seinen Onkel Abram, von dem er nicht weiß, wo er bestattet liegt. Auf dem Titelblatt ist ein Tagebucheintrag Abrams aus dem Jahre 1942 abgebildet.

Doch das Buch ist weit mehr als nur ein Denkmal. Die Erinnerungen der Zeitzeugen geben Einblick in die (jüdische) Geschichte und in persönliches Leid. Ihre Lebensgeschichten handeln von Überleben und Neuanfang. Eine wirklich herausragende Idee der Autoren und Urheber ist es gewesen, parallel dazu eine Internetpräsenz zu erstellen. Wer mehr erfahren möchte, hat hier die Möglichkeit, die geführten Videointerviews in voller Länge zu sehen. Insgesamt liegen über 50 Stunden Filmmaterial zum Anschauen bereit. Die Interviews sind meist in russischer Sprache geführt, allerdings alle mit deutschen Untertiteln versehen. Wie auch die Publikation ist der Internetauftritt in deutscher und russischer Sprache gehalten. So können möglichst viele Menschen in Deutschland und der ehemaligen Sowjetunion von den Geschichten und Schicksalen erfahren.

WINA INFO
Zusammengestellt und bearbeitet vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln. Herausgegeben von der Synagogen-Gemeinde Köln, dem Landesverband der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und dem Landesverband der Jüdischen Gemeinden von Westfalen-Lippe. Aufgezeichnet von Ursula Reuter und Thomas Roth. Mit Porträts von Anna C. Wagner.
juedische-lebensge-schichten.de

© Anna C. Wagner

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