Dreh- und wendbar wie das Buch ist auch die Wahrheit in Benjamin Steins Roman Die Leinwand. Man kann das Buch von beiden Seiten beginnen oder nach jedem Kapitel wendend lesen. Dieser Roman ist raffiniert bis in das kleinste Detail. Von Manja Altenburg
Das Buch hat zwei Ich-Erzähler. Zwei verschiedene Lebensgeschichten, die einander annähern. Beide führen auf anderen Wegen zum selben Ort: zur Mikwe, dem rituellen Tauchbad, das im Judentum für Reinheit und Verwandlung steht. An dieser Stelle kommt es jedoch nicht nur zu einer Wandlung. Einer der beiden Erzähler stirbt – anscheinend. Jedenfalls ist er verschwunden und sein vermeintlicher Mörder wird gesucht. In beiden Geschichten, Stein bindet seine Protagonisten schicksalhaft aneinander, kommen beide als Täter in Frage. Das sorgt für Erstaunen, sobald man die Romanteile zur Deckungsgleichheit gebracht hat: Wie kann der Mörder zugleich Ermordeter sein? Doch geht es Stein nicht vorrangig um die Tat, vielmehr um Erinnerung, ein zentrales Moment im Judentum, aber auch um die Verwandlung. Beide sind die tragenden Ideen dieser raffinierten Romankonstruktion.